Stefan P Moreno

Die Legende von der Siebener Parabel


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nur auf ihn zu? Traurigkeit stieg plötzlich in ihm hoch und ein jäher Seelenschmerz jagte durch seine Brust, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. All der Verlust, die Einsamkeit, die Wut, die Verlassenheit und die nicht gelebte Liebe zu seiner Mutter in all den Jahren seiner Kindheit überfluteten ihn und schienen sein Inneres sprengen zu wollen. Der Schmerz übermannte ihn. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen und er sank auf die Knie.

      „Mutter! Mutter!“ schluchzte er leise und Tränen schossen aus seinen Augen. „Warum nur, Mutter?“ wiederholte Joaquin leise und sein Körper bebte leicht. Er konnte sich nicht erklären, warum ihn so kurz vor seinem Ziel dieser heftige Seelenschmerz erfasste und ihm war, als würde plötzlich eine unsichtbare Kraft ein Magnetfeld um ihn herum aufbauen. Mit einem Mal beschlich ihn das seltsame Gefühl, seiner Mutter noch nie so nahe gewesen zu sein.

      „Sie ist tot!“ sagte er bestimmt nach einer Weile zu sich selbst. „Du hast sie nicht gekannt, warum also trauern?“

      Mit einem Ruck schwang sich Joaquin wieder auf die Beine. Er wischte sich die Tränen von den brennenden Wangen und setzte sich mit zitternden Beinen wieder in Bewegung. Er schämte sich seiner Tränen nicht, sie wirkten befreiend und langsam ließ auch der Seelenschmerz nach.

      Nach zweihundert Metern erreichte er eine Waldlichtung. Erschöpfung machte sich breit, während seine etwas geschwollenen Augen suchend umher wanderten. Dann entdeckte er das an einem Baumstamm befestigte Holzschild. >Herzlich Willkommen< stand da in großen Buchstaben ins Holz graviert. Wie von unsichtbarer Hand bewegt schwangen die vor ihm stehenden, dicht bewachsenen Bäume auseinander und gaben den Blick auf ein großes, helles, aus Natursteinen gebautes Haus mit einem riesigen Strohdach frei. Joaquin schritt langsam auf das etwas wundersame Haus zu und mit jedem Schritt schien die Umgebung lichter zu werden. Das Haus stand inmitten eines mächtigen Kreises, der umrahmt war von Meter hohen Bäumen, die wie ein Schutzwall das Haus umzäunten. Unter seinen Füßen spürte er den weichen, seidigen Sand, der sich wohltuend wie Balsam an seine strapazierten Fußsohlen schmiegte.

      Er näherte sich dem Hauseingang mit langsamen Schritten. Die Haustür war ein aus massivem Eichenholz hergestellter Rundbogen. Die Markisen an den Fenstern waren herunter gelassen und es machte den Anschein, als sei das Haus unbewohnt. Ein großer schwarzer Granit stand zur rechten Hausseite und er entdeckte einen Umschlag auf dem Stein liegend. Zur linken Seite befand sich ein uralter Brunnen aus dicken, grauen und schwarzen Steinen erbaut mit einer Pumpe. Joaquin konnte sich ein müdes Lächeln nicht verkneifen.

      „Willkommen im Hexenhäuschen“, flüsterte er leise und schritt auf den Granit zu, auf dem der Umschlag lag. Er streifte seinen Rucksack von den Schultern, stellte ihn auf den Boden und warf seinen langen Ledermantel darüber. Dann nahm er den Umschlag, setzte sich auf den Stein, öffnete den Brief und begann zu lesen:

      Lieber Joaquin,

       Herzlich Willkommen in San Diagos. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise trotz des langen Fußmarsches, den ich Ihnen zugemutet habe. Sie finden in diesem Umschlag beiliegend den Haustürschlüssel. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es befinden sich vier Zimmer im Erdgeschoss des Hauses. Außerdem eine große Wohnküche, zwei Bäder, ein Keller und in der oberen Etage eine Dachgeschoss Wohnung. Der Schlüssel für die Dachgeschoss Wohnung befindet sich in meinen Besitz, da es sich um meinen Wohnraum handelt.

      Für Ihr leibliches Wohl habe ich reichlich gesorgt, bevor ich am Freitag aus geschäftlichen Gründen nach Frankreich abgereist bin, so dass es Ihnen während meiner Abwesenheit an nichts fehlen wird!

      Auf dem Küchentresen finden Sie vier Schlüssel und jeder Schlüssel ist mit einem Anhänger und einem Buchstaben versehen. Ihrer ist mit einem „J “ gekennzeichnet und verschafft Ihnen Zutritt zu Ihrem eigenen Zimmer. Ihre Zimmertür habe ich ebenfalls mit einem „J “ versehen.

      Joaquin, und nun passen Sie sehr genau auf, was ich Ihnen mitzuteilen habe!

       Es werden heute Nacht - bis in die frühen Morgenstunden hinein - drei weitere Personen zu Ihnen stoßen. Ein Mann und zwei Frauen. Sie werden jeder für sich im Abstand von jeweils drei Stunden eintreffen. Um 23 Uhr, um 2 Uhr nachts und am frühen Morgen um 5 Uhr. Seien Sie unbesorgt, alle drei Ankömmlinge sprechen perfektes Deutsch, so dass es keine Probleme bei der Verständigung geben wird. Für alle drei Personen liegen ebenfalls Schlüssel mit einem Buchstabenanhänger versehen bereit! Ich weiß, dass ich Ihnen viel zumute nach den langen Reisestrapazen. Ich werde morgen gegen Mittag von meiner kurzen Geschäftsreise aus Paris zurückkehren! Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich bei Ihrer Ankunft nicht vor Ort sein konnte.

       Noch etwas Wichtiges, Joaquin. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie die Wohnküche betreten, dass Sie eventuell von einer Stimme begrüßt werden. Ich habe meinen Papagei „Lord Leroy“ umständehalber zu Hause gelassen. Er ist ein lieber Zeitgenosse, aber eben ein richtiges Plappermaul und sehr sprachbegabt. Aber er ist zahm und stubenrein. Ich hoffe, Sie mögen Tiere! Machen Sie es sich im Haus bequem und ruhen Sie sich ein wenig aus! Bis Morgen!

      Herzlichst, Ihre Sophie Faunette

      Bevor ich es vergesse: Lord Leroy versorgt sich selbst!

      Joaquin ließ seine Hände sinken und ein kühler Windhauch streifte sein Gesicht. Er schaute den Weg hinunter, den er eben noch gegangen war und sah, dass sich der Eingang zwischen den Bäumen wie durch Zauberhand geschlossen hatte. Die Waldlichtung war nicht mehr zu sehen. Er war müde und hatte das Gefühl, seine Gedanken würden sich weigern, all die aktuellen Geschehnisse verarbeiten zu wollen. Es kam ihm alles so verschleiert vor, so als würde er sich in einem Traum befinden, aus dem er bald erwachen würde. „Muss wohl an der Hitze liegen“, dachte er bei sich und schlenderte auf den Brunnen zu. Eine kleine Abkühlung täte jetzt gut.

      Am Brunnen angekommen griff er nach dem Eimer, der an einem langen Seil befestigt auf dem Brunnenrand stand und ließ ihn in die Tiefe fallen. Zu pumpen hatte er in seinem momentanen Zustand keine Lust und wer wusste, ob die Pumpe überhaupt noch funktionierte. Er hörte das Klatschen des Eimers auf dem Wasser. Langsam zog er den Eimer am Seil nach oben und stellte ihn wieder auf den Brunnenrand. Der Eimer war halb gefüllt mit kristallklarem Wasser. Joaquin tauchte beide Hände in den Eimer und stöhnte vor Erleichterung auf: „Oh, das tat gut, welch eine Wohltat!“ Er zog sich das völlig durchnässte Hemd aus, nahm den Eimer und schüttete sich das ganze Wasser auf einmal über den Kopf. Er spürte, wie seine Lebensgeister ein wenig zurückkehrten. Er schüttelte kräftig die Haare wie ein begossener Pudel und klemmte sich das Hemd unter den Arm. „Dann wollen wir mal eintreten in die neue Herberge“, murmelte Joaquin, nahm den Umschlag und löste den mit Klebeband befestigten Haustürschlüssel aus der Innenseite des Briefes. Der Schlüssel ließ sich leicht im Schloss drehen und die Tür sprang mit einem leisen „Klick“ auf. Er trat ins Haus und ihn empfing völlige Dunkelheit. Er ließ die Haustür offen, um durch das einströmende Tageslicht etwas sehen zu können. Er befand sich auf einem quadratisch angelegten Flur, zu dessen linken und rechten Seite sich jeweils zwei Türen befanden. Geradeaus war eine Tür am Ende des Flures nur angelehnt. Ein leichter Lichtkegel quoll seitlich aus dem Türspalt heraus. Joaquin ging auf diesen Lichtkegel zu und zog die Tür auf. Er betrat den Raum und stand inmitten einer großen Wohnküche. Augenblicklich durchströmte ihn ein angenehmer, wohltuender Schauer, der sich am ganzen Körper ausbreitete. Die Wohnküche strahlte eine Behaglichkeit aus, wie Joaquin sie noch nie empfunden hatte.

      Die Wände waren farblich in einem dunklen Orange gehalten. Überall an den Wänden hingen Töpfe und Pfannen verschiedenster Größen und Epochen. Uraltes Fachwerk durchzog die gesamte Küche. An der rechten Küchenwand befand sich ein großer Kamin aus hellbraunen Steinen und daneben - ordentlich übereinander gestapelt - das Brennmaterial aus zersägten Hölzern. Der Küchenboden war aus massivem Holz und in der Mitte der Küche stand ein großer Eichentisch, um den herum sechs antike, behagliche Holzstühle standen, die alle mit Schaffellen überzogen waren. An den Wänden hingen außerdem antike Kerzenleuchter, bestückt mit Honigwachskerzen. Rechts neben der Tür stand ein dunkelrotes Sofa und daneben ein Regal, gefüllt mit vielen Büchern. Die gegenüberliegende Seite bestand aus einer einzigen und riesengroßen Glasveranda, die zur linken und rechten Seite geöffnet werden konnte. Der