Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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bereits in Paris, war de Belfort nicht immun geworden – die Schönheit dieser Stadt nahm sie in solchen Augenblicken immer wieder aufs Neue gefangen. Als sie den Lenker umfasste, klingelte ihr Telefon. Oh nein, dachte sie, wer will denn nun noch etwas? Hoffentlich war es nicht der Préfet, der kurz vor dem Apéritif noch einen besonders eiligen Auftrag an sie delegieren wollte. Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche und bekam endlich ihr Smartphone zu fassen. Ein kurzer Blick aufs Display genügte, um ihr Herz schneller klopfen zu lassen. Sie ärgerte sich, als ihr ihre Reaktion bewusst wurde und zwang sich, wieder ruhig zu werden. Keine Panik, Mädchen, dachte sie, stell dich nicht an wie ein siebzehnjähriger, verliebter Teenie. Das ist nur Étienne.

      Sie war Étienne Corentin vor etwa drei Monaten auf der Party eines gemeinsamen Freundes begegnet. In ihrer Erinnerung war dieser Abend einer der schönsten ihres Lebens gewesen. Sie war damals noch nicht allzu lange geschieden und weit davon entfernt, an eine neue Liebe zu denken. Doch als sie Étienne zwischen all den anderen Gästen zum ersten Mal wahrgenommen hatte, war sie von ihren Gefühlen mitgerissen worden wie von einer plötzlich aufgekommenen Orkanböe. Anfänglich hatte sie den attraktiven Unbekannten nur aus der Ferne beobachtet und das Gefühl genossen, seine Blicke auf ihrem Gesicht zu spüren. Doch dann waren immer öfter heimliche Signale zwischen ihnen durch den Raum geschwirrt und hatten ein wunderbares Kribbeln ausgelöst. Und auch dem Fremden schien dieses kleine Spiel, das inmitten des lärmenden Partyvolkes und doch nur zwischen ihnen beiden ablief, zu gefallen. Schließlich war er auf sie zugekommen und hatte ihr das Glas aus der Hand genommen. Es wird Zeit, dass wir tanzen, hatte er gesagt und leicht ihre Fingerspitzen gestreift. Es war nur der Hauch einer Berührung gewesen, doch sie hatte den Schauer im ganzen Körper gespürt. Sie hatten getanzt, getrunken und viel gelacht. Mit jeder Minute in Étiennes Gegenwart hatte sie sich lebendiger gefühlt und geglaubt, dass das, was ihr da gerade widerfuhr, etwas ganz Besonderes war. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass die knisternde Spannung, die die Luft zwischen ihnen erfüllte, nur ihrer eigenen Phantasie entsprungen war. Doch die Ernüchterung hatte nicht lange auf sich warten lassen. „Ich bin kein Mann für eine feste Beziehung“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Freundlicherweise, bevor sie die Nacht mit ihm verbracht hatte. Nach einem der folgenden Treffen war sie trotzdem bei ihm geblieben. Und seither verband sie etwas, von dem Victoire de Belfort nicht genau ergründen konnte, was es wohl war. Anziehungskraft, Neugier, Freundschaft, Liebe? Sie selbst war verliebt, ja, das musste sie sich eingestehen. Aber die Frage, was Étienne bewog, sich immer wieder bei ihr zu melden, die beantwortete sie sich je nach ihrer momentanen Verfassung. Und heute war sie eindeutig zu müde, sich einen Grund für seinen Anruf auszudenken. Sein Anruf, ach ja. Der Klingelton, der entfernt an eine Ballade von Metallica erinnerte, war inzwischen lauter geworden und signalisierte, dass sie das Gespräch noch nicht angenommen hatte.

      „Âllo?“

      „Bonsoir ma chérie“, schallte es fröhlich an ihr Ohr. „Verzeih, dass ich mich erst jetzt melde. Wo bist du?“

      Schon beim Klang seiner Stimme bekam de Belfort weiche Knie. Ihre Enttäuschung darüber, dass er sie gestern Abend einfach versetzt hatte, löste sich in rosarotes Nichts auf.

      „Noch im Büro. Das heißt, ich bin gerade dabei, mich auf mein Rad zu schwingen und nach Hause zu fahren. Ich bin total k.o.“

      Wunderbar, dachte sie, als sie in die Stille am anderen Ende lauschte. Das war genau das, was ein Mann hören wollte, wenn er abends um viertel vor elf eine Frau anrief. Es sei denn, die beiden waren bereits seit 15 Jahren verheiratet. Sie musste über ihren Gedanken grinsen und sprach weiter, noch bevor Étienne geantwortet hatte.

      „Gegen einen Schlummertrunk hätte ich aber absolut nichts einzuwenden, wenn es das ist, was du mich eigentlich fragen wolltest“, sagte sie und versuchte, ihre Stimme weich und ein bisschen sexy klingen zu lassen. „Allerdings müsste ich vorher kurz nach Hause, ich stecke seit ungefähr 18 Stunden in denselben Klamotten.“

      De Belfort verdrehte die Augen. Noch unerotischer ging es ja wohl nicht! Étienne lachte.

      „Du Arme, ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich das nicht unbedingt limonenfrisch anfühlt, aber meinetwegen musst du dich nicht erst in Schale werfen.“

      „Du weißt ja nicht, worauf du dich einlassen würdest“, nahm sie seinen scherzenden Ton auf. „Aber jetzt mal im Ernst, gib mir eine Stunde. Wohin soll ich kommen?“

      „Ich warte im Winston auf dich, ma belle, das kennst du ja. Rue de Presbourg in der Nähe vom Arc de Triomphe. À plus tard.“

      „Ja, bis gleich.“ Victoire de Belfort bemühte sich, einen besonders zärtlichen Hauch in ihre Stimme zu legen. Doch Étienne hatte schon aufgelegt.

      Rue Scipion, 5. Arrondissement

      Die Puppe starrte ihn aus großen, blauen Augen an. Der schmale Streifen, der den Mund markierte, bildete eine Gerade und gab dem Gesicht einen fast gelangweilten Ausdruck. Rotbraune Sommersprossen verteilten sich um eine kleine Nase, die nicht mehr als ein zartrosafarbener Punkt war. Oben am Kopf standen gelbe, wollene Haare in alle Richtungen, als seien sie elektrisch aufgeladen. Doch plötzlich kam Leben in das runde Puppengesicht. Die schwarze Linie begann sich zu kräuseln, als hätte eine unsichtbare Hand das eine Ende des Wollfadens gegriffen und ihn zum Spaß in Wellenbewegungen versetzt. Fast sah es aus, als wolle das Puppengesicht etwas sagen. Doch nicht nur der Mund veränderte sich. Die Augen wurden groß und größer, bis sie schließlich schreckgeweitet starrten, als würden sie furchtbare Dinge sehen. An den Haaren, die eben noch in sonnigem Gelb gestrahlt hatten, fraß sich eine leuchtende, undefinierbare rote Masse empor. Wie eine Flamme züngelte die blutrote Farbe an den einzelnen Fäden bis schließlich nichts Gelbes mehr übrig blieb. Der Mund hatte sich unterdessen zu einem Kreis geformt und schien in einem stummen Schrei zu verharren. Das niedliche Gesicht war zur grausamen Grimasse verzerrt und drückte gleichermaßen Schmerz und unendlichen Schrecken aus. Wieder kam Bewegung in den Puppenkopf. Zuerst war sie kaum erkennbar. Sie schlich sich an wie ein lauer Windhauch, der urplötzlich zum Sturm wird. Und dann sah er es. Die Augen starrten, der Mund schrie in stummer Verzweiflung und die Haare, oh mein Gott, die Haare. Sie brannten lichterloh.

      Schweißgebadet wachte er auf und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz hämmerte so sehr, dass er sich zur Beruhigung eine Hand auf die Brust legte. „Ruhig, ruhig“, flüsterte er sich zu. Er hatte geträumt. Sein Atem ging stoßweise. Nur ein Traum. Doch die schrecklichen Bilder in seinem Kopf waren mehr als das, weit mehr als eine nächtliche Heimsuchung. Sie speisten sich aus einer Wirklichkeit, die so grausam war, dass kein Albtraum sie je würde übertreffen können. Doch warum nur träumte er noch immer diesen furchtbaren Traum? Müssten die Bilder, die nachts aus den Tiefen seines Unterbewusstseins heraufstiegen, um ihn zu quälen, nun nicht endlich beginnen, sich zu verändern? Jetzt, da die Zeit der Rache gekommen war. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. So sehr hatte er gehofft, dass das, was er getan hatte, befreiend sein würde. Dass es den undurchdringlichen Panzer, der ihn umgab seit es passiert war, aufzubrechen vermochte, um ein wenig Licht und Luft an sein Herz zu lassen.

      „Für dich“, sagte er ins Dunkel hinein und wie immer, wenn er an sie dachte, spürte er die Tränen aufsteigen. Und eine unendliche Traurigkeit, die aus den dunklen Ecken des Zimmers auf ihn zuflog und ihn zudeckte wie ein schweres, staubiges Tuch. Er machte eine ruckartige Armbewegung, als könne er das beklemmende Gefühl damit verjagen. Sein Herzschlag fühlte sich nun fast wieder normal an und er lauschte in die Stille der Nacht. Nur vereinzelt war das Hupen eines Autos oder Gesprächsfetzen zu hören, die vom Boulevard durch das einen Spalt geöffnete Fenster in sein Zimmer drangen. Wie so häufig in den letzten Wochen und Monaten verursachte es ihm ein Ekelgefühl, dass das Leben da draußen einfach so weiterging, als wäre nichts geschehen. Wie konnten die Menschen weiterhin lachen und scherzen, unbeschwerte Abende in Bars und Restaurants verbringen, wie konnte bloß die Sonne so hell von einem Himmel scheinen, an dem nachts die schönsten Sterne funkelten? Wie konnte das alles nur sein? Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Er war auf dem richtigen Weg und er hatte die ersten Schritte getan. Nun war es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen. Die grausamen Bilder, die seinen Kopf in jeder Sekunde seiner grauen Tage füllten, sie durften ihn nicht besiegen. Er musste