Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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Malermeister, behauptet hatten, ihren Nachbarn kaum zu kennen.

      „Ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich in diesen Wohnsilos“, nickte de Belfort.

      „Dennoch hatte ich im Gespräch mit der Frau ein seltsames Gefühl“, erinnerte sich Perrec. „Die Frau hat ein bisschen zu deutlich betont, dass sie ihren Nachbarn nicht kennt und rein gar nichts über ihn weiß. So, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie über die Nachricht seines Todes sehr erschrocken war. Es lag fast ein kleiner Schimmer von Panik in ihren Augen.“

      „Oh là là, Kollege, sehr poetisch.“ Malbert ignorierte den warnenden Blick seiner Chefin. „Sie verfügen ja über geradezu weibliche Intuition, Respekt mein Lieber. Vielleicht sollten Sie ein wenig die Schwulenszene in Augenschein nehmen, was? Da wird Ihnen Ihre Intuition und Ihr ausgeprägtes Gefühl sicher weiterhelfen.“

      „Sébastien!“ Nathalies wütender Schrei ließ ihren Kollegen kurz zusammenzucken. „Du bist unerträglich, weißt du das?“ Sie sah aus, als wolle sie sich im nächsten Augenblick auf ihn stürzen. Doch sie besann sich und Perrec schaute zu ihr hinüber. Lassen Sie nur, schien sein Blick zu sagen. Bei Malbert ist jegliche Diskussion vergeblich. Am besten ignoriert man seine Kommentare einfach. Dann schaute er seinen Kollegen direkt an. Betont gelangweilt ließ er seine Augen auf ihm ruhen und wandte sich schließlich ab, ohne ein Wort gesagt zu haben.

      Gut reagiert, dachte de Belfort, die kurz vor einem neuerlichen Wutausbruch stand. Da hatte ihr neuer Mitarbeiter mehr Größe bewiesen, als es ihr selbst in ähnlichen Situationen gelungen war. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, sie wäre diesem Obermacho wahrscheinlich an den Hals gesprungen.

      Hier würde sie handeln müssen, dachte sie und laut fügte sie hinzu: „Wir sprechen uns morgen um halb neun in meinem Büro, Leutnant.“ Und zu den anderen gewandt: „Schluss für heute! Der Tag war lang genug, bis morgen!“

      Sie begann, ihre Sachen zusammenzupacken, und einer nach dem anderen verließen sie den Raum. Erst Malbert, den de Belfort keines Blickes würdigte, dann Nathalie mit einem freundlichen „Bonsoir Madame“ und schließlich Perrec.

      „Es tut mir leid, Inspektor.“ De Belfort sah ihren Mitarbeiter mit festem Blick an. „Malbert schießt oft über das Ziel hinaus, und ich fürchte, seine unüberlegten Äußerungen werden wir ihm nicht mehr abgewöhnen können. Aber ich werde nicht zulassen, dass er seine Kollegen oder auch mich beleidigt und die Stimmung im Team vergiftet. Seine Kommentare sind häufig verletzend und auch sein Verhalten ähnelt oft dem eines pubertierenden Jugendlichen. Doch andererseits kann man sich auf ihn verlassen, wenn es darauf ankommt. Ich weiß noch nicht, ob ich es je schaffen werde, Leutnant Malbert dazu zu bewegen, zuerst zu denken und dann zu sprechen.“ Sie lächelte gequält. „Aber ich arbeite daran. Schließlich möchte ich, dass mein Team gut funktioniert. Und respektloses Verhalten kann und werde ich nicht dulden. Ich wollte nur, dass Sie das wissen, Inspektor. Nicht, dass Sie gleich den nächsten Zug zurück in die Bretagne nehmen.“

      „Ich werde schon mit ihm zurechtkommen.“

      Perrec unterdrückte den Wunsch, seiner Chefin zu sagen, dass er nicht daran glaubte, dass man gegen mangelnde Intelligenz und fehlende Empathie bei einem Menschen ankommen konnte. Stattdessen reichte er der Kommissarin die Hand.

      „Wissen Sie, in einer Polizeistation mitten auf dem Land ist der Umgangston auch nicht immer besonders kultiviert.“ Er lachte. „Ich bin jedenfalls stolz auf meine Intuition. Und ich leihe dem Kollegen Malbert gerne davon, wenn er sich seine schweren Jungs vorknöpft. Keine Sorge, Madame, wir werden ein gutes Team werden.“

      De Belfort erwiderte den Händedruck.

      „Danke, Perrec“, sagte sie. „Und jetzt ab in den Feierabend mit Ihnen.“

      Belleville, 20. Arrondissement

      Eine gute halbe Stunde später ließ sich Loïc Perrec auf einen leeren Platz im hinteren Teil der Buslinie 96 fallen und streckte seine Beine von sich. Er hatte noch ein wenig Luft schnappen wollen und war von seinem Büro im Kommissariat am Quai des Orfèvres die Strecke bis zum Hôtel de Ville zu Fuß gelaufen. Das Leben in der Großstadt bereitete ihm noch einige Schwierigkeiten und so recht konnte er sich an den Lärm, die Menschenmassen und die allgegenwärtige Hektik nicht gewöhnen. Er vermisste die Weite seiner Heimat, die Artischockenfelder und die endlosen grünen Wiesen, die sich am Horizont mit dem Blau des Meeres mischten. Perrec sah aus dem Fenster. Es begann bereits zu dämmern und bald würden die ersten Lichter gegen die Dunkelheit der Nacht anleuchten. Der Asphalt schimmerte silbern und Perrec wunderte sich, dass er von dem sommerlichen Schauer gar nichts mitbekommen hatte. Aber sie hatten in ihrem Besprechungsraum nun auch wirklich nicht aufs Wetter geachtet, gab er sich selbst die Antwort. Er dachte an das Meeting zurück, das ihm so viel über seine Kollegen verraten hatte. Und über seine Chefin, Victoire de Belfort. Er mochte ihre etwas burschikose und gleichzeitig sehr herzliche Art. Eigentlich, dachte er und musste über seinen Gedankengang grinsen, war sie die tägliche, lebende Ermahnung für Malbert, sein Schwarz-Weiß-Denken aufzugeben. Denn de Belfort, die mit dem Mountainbike ins Kommissariat radelte und auch sonst – von ihrem Füller einmal abgesehen – kaum Wert auf Statussymbole legte, war ein Mitglied der Pariser Bourgeoisie. Wahrscheinlich hat ihre Familie so viel Geld, dass sie es im ganzen Leben nicht ausgeben könnte, dachte der junge Bretone ohne jede Spur von Neid und betrachtete die Häuser, die draußen an ihm vorbeizogen. Der Bus bog in die Rue Oberkampf ein und würde in wenigen Minuten die steile Rue de Ménilmontant hinauffahren. Perrec war froh, in dieser Gegend von Paris eine Wohnung gefunden zu haben. Er mochte den Mix aus alten, herrschaftlichen Stadthäusern, gesichtslosen Wohnblocks, alten Bistros und modernen Geschäften. Wenn schon Großstadt, dann richtig, hatte er sich gesagt, als er die einschlägigen Anzeigenmagazine für Immobilien gewälzt hatte. Die Haltestelle Pyrénées-Ménilmontant kam in Sicht. Er drückte auf den roten Halteknopf. Morgen würde er sich auf die Suche nach der Enkelin von Michel Souliacs altem Hausgenossen machen. Vielleicht konnte diese Irina Laguerre ja weiterhelfen. Auch Suzanne Hérault, die Nachbarin, würde er sich noch einmal vorknöpfen, sie hatte etwas zu verbergen, dessen war er sich sicher. Wer weiß, vielleicht kannten sich die beiden jungen Frauen sogar, sie würden sich in dem Haus doch bestimmmt einmal über den Weg gelaufen sein. Loïc Perrec stieg aus, ging ein paar Schritte die Straße hinauf und betrat die kleine Épicerie nicht weit von seiner Wohnung. „Bonsoir Monsieur.“

      Er grüßte den alten Mann, der ganz hinten in seinem kleinen Lädchen auf einem Hocker saß.

      „Sie kennen sich ja aus“, lachte der, und Perrec nickte. „Aber ja“, rief er zwischen den Regalen hindurch, auf denen sich Nudeln, Dosengemüse, Getränke, Süßigkeiten und Toilettenpapier in buntem Durcheinander stapelten. „Sie sind sozusagen meine Vorratskammer, Monsieur.“ Er packte sich eine Dose Ravioli, eine Flasche Wasser sowie einen Dreierpack Schokoriegel auf den Arm und balancierte alles vorsichtig zur Kasse. Der Alte war inzwischen aus seiner Ecke gekommen und saß nun hinter der winzigen Theke, auf die Perrec seine Einkäufe gelegt hatte.

      „Sie wohnen noch nicht lange in der Gegend, nicht wahr?“

      „Das stimmt, Monsieur, ich wohne erst seit ein paar Wochen hier.“

      Während der Mann mit einem antiquiert anmutenden Taschenrechner hantierte, betrachtete Perrec das Zettelchaos an einer Art schwarzem Brett, das rechts der Kasse an der Wand hing. Verkaufe nagelneues Pediküre-Set, war dort zu lesen oder Putzfrau mit 20 Jahren Erfahrung sucht Job. Auch Werbung für einen Friseursalon in der Rue des Pyrénées und einen Secondhandshop war mit bunten Nadeln festgepinnt. Sogar für eine Zirkusvorstellung wurde geworben. Die meisten Aushänge waren am unteren Ende mit kleinen Adresseinheiten versehen, die bereits vorgeschnitten waren, um das Abreißen zu erleichtern. Er liebte solche Pinnwände, und während der Ladeninhaber noch rechnete, suchte er den Zettelwust nach interessanten Angeboten ab.

      „Was für Sie dabei?“, fragte der Alte mit einem Blick auf die Aushänge.

      „Nein, ich fürchte nicht.“ Der freundliche Mann nannte den Preis für die Einkäufe und lächelte. „Bonne soirée, Monsieur.“

      „Ihnen