Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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unterbrochen wurden.

      „Wir haben ihn gesehen, als ich mit Tante Irina im Park war, weißt du. Er ist immer wieder in unserer Nähe aufgetaucht und hat komische Grimassen gemacht. Am Anfang haben wir beide gelacht, Tante Irina und ich, und sie hat gesagt, dass das ein lustiges Spiel sei. Aber dann ist er auf einmal ganz dicht an mich herangekommen und hat versucht, mich wegzuziehen.“ Bei der Erinnerung daran schnappte Samantha kurz nach Luft.

      „Komm, wir spielen Verstecken, hat er gesagt. Aber Irina hat ihn angeschrien und die beiden haben sich furchtbar laut gestritten. Mitten auf dem Spazierweg im Park. Da bin ich ein Stück weggelaufen. Aber zum Glück war noch ein anderer Mann da. Der war ganz lieb und hat …"

      Suzanne war zu geschockt, um ihre Tochter ausreden zu lassen. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen schloss sie ihr Kind fest in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

      „Mein armer Schatz. Nun brauchst du aber keine Angst mehr zu haben, mein Liebling“, flüsterte sie und es fiel ihr schwer, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. „Der böse Mann ist fortgegangen und er kommt auch bestimmt nie mehr wieder.“

      „Dann ist es ja gut“, flüsterte die Kleine und kuschelte sich noch ein wenig fester an ihre Mutter. „Und Tante Irina ist bestimmt auch froh, dass es geklappt hat.“

      „Das was geklappt hat, mein Schatz?“

      Samantha fielen vor Müdigkeit schon fast die Augen zu und schläfrig murmelte sie: „Na, dass er fortgegangen ist und nie mehr wieder kommt. Als wir nach Hause gelaufen sind, hat Tante Irina mir versprochen, dass er mir nie mehr Angst einjagen wird.“

      Eigentlich hatte Samantha ihrer Mutter noch etwas erzählen wollen, doch sie war inzwischen so müde geworden, dass sie einfach nur zufrieden die Augen schloss. Bald waren nur noch ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören.

      Suzanne schloss leise die Tür des Kinderzimmers hinter sich und starrte wie betäubt in den inzwischen dunkel gewordenen Flur. Aus dem Wohnzimmer drangen Gesprächsfetzen und laute Musik. Kévin musste wohl den Fernseher eingeschaltet haben. Die junge Frau lehnte ihren Kopf an den Türrahmen und schloss die Augen. Souliac hatte seine Drohung tatsächlich wahr gemacht und ihr Kind bedroht. Und nun war er tot. Und ihre Freundin Irina nicht auffindbar. Der Verdacht, den sie vor nicht einmal einer halben Stunde zu verdrängen versucht hatte, erfasste noch einmal mit Macht ihre wirren Gedanken. Ein kurzes, hysterisches Lachen drang an ihre Ohren. Erst nach einigen Sekunden begriff Suzanne Hérault, dass es aus ihrer eigenen Kehle gekommen war. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben und ließ sich langsam am Türrahmen hinabgleiten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

      Quai des Orfèvres, 1. Arrondissement

      Victoire de Belfort betrat den Besprechungsraum und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Auf dem schwarzen Holztisch, der den Raum dominierte und fast dessen gesamte Längsseite einnahm, stapelten sich lose Papiere, Aktendeckel und Mappen, aus denen rote Klebe-Markierungen herausschauten. Perrec saß auf einem der dunkelgrauen Lederstühle und blätterte in einem Schnellhefter aus Pappe. Als sie eingetreten war, hatte er sich gerade die nachdenklich gerunzelte Stirn gerieben und schaute nun zu ihr hinüber.

      „Bonsoir Madame“, sagte er und nickte freundlich. Sie erwiderte den Gruß.

      „Bonsoir Madame, schön Sie zu sehen“, kam gleich darauf Nathalies fröhliche Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes, wo auf einem weißen Holztisch eine hochwertige italienische Kaffeemaschine stand. Monsieur le Préfet hatte sie höchstpersönlich anschaffen lassen, nachdem seine Mitarbeiter sich vermehrt über die ungenießbare Brühe beschwert hatten, die im Aufenthaltsraum aus einem sichtlich in die Jahre gekommenen, unförmigen Automatenmonstrum floss. So hatten die Frauen und Männer der Brigade Criminelle wenigstens während ihrer Besprechungen die Chance auf guten Kaffee. De Belfort lief mit weitausholenden Schritten durch den Raum und gab zuerst Loïc Perrec und gleich darauf Nathalie die Hand.

      „Bonjour“, sagte sie und lächelte. „Schade für Sie, Nathalie, dass Ihr Urlaub nun schon wieder vorbei ist, aber schön für uns. Endlich ist das Team vollzählig. Nun ja, fast. Hat jemand eine Ahnung, wo sich der Kollege Malbert herumtreibt?“

      Der Inspektor und Nathalie schüttelten fast synchron die Köpfe.

      „Dann lassen Sie uns noch eine Minute warten.“ De Belfort ging zur schmalen Seite des Tisches zurück und hob ihre große Leinentasche über den Kopf. Mit einem Seufzer ließ sie sie auf die Tischplatte sinken und nestelte gleich darauf am Reißverschluss.

      „Möchten Sie auch eine Portion Koffein?“, fragte Nathalie und schaute zu ihrer Chefin hinüber. „Schließlich kann der Abend noch lang werden.“

      „Nein, vielen Dank, Nathalie.“

      Die Kommissarin zog nacheinander ihr Handy, einen Tablet-PC sowie mehrere Mappen aus durchsichtigem Material aus ihrem überdimensionalen Beutel und platzierte alles vor sich auf dem Tisch. Nach erneutem Durchsuchen der Tasche angelte sie schließlich triumphierend einen Füllfederhalter daraus hervor. „Hab ich dich, du kleines Biest“, lachte sie und legte ihn mit Schwung auf einer der prall gefüllten Mappen ab. Ein Montblanc, dachte Perrec ehrfürchtig und betrachtete den staatseigenen Billig-Kuli in seiner Hand. Auch sein ehemaliger Chef hatte immer sehr viel Wert darauf gelegt, mit seinem eigenen Füller zu schreiben, doch soweit er sich erinnern konnte, hatte es sich um ein Modell einer weitaus preiswerteren Marke gehandelt. Perrecs Überlegungen zur Anschaffung eines eigenen Schreibgerätes wurden jäh unterbrochen. Die Tür des Besprechungsraumes flog mit einer solchen Wucht auf, dass die Klinke eine Delle in der weißgekalkten Wand hinterließ. Die vor den offenen Fenstern halb heruntergelassenen Jalousien raschelten leise im plötzlich entstandenen Gegenzug.

      „Meine Güte, Sébastien, muss das sein?“

      Nathalie stand der Schreck ins Gesicht geschrieben, und der Kaffee in dem kleinen Plastikbecher, den sie in der Hand hielt, schwappte bedenklich. Malbert trat mit einem breiten Grinsen in den Raum und ließ sich betont lässig auf einen der Stühle an der langen Seite des Tisches fallen. Selbstverständlich in der Nähe seiner Chefin. De Belfort bedachte ihren Leutnant mit einem halb belustigten, halb genervten Blick.

      „Ich denke, es erübrigt sich zu fragen, ob der Kollege einen Kaffee möchte“, sagte sie und warf Nathalie einen amüsierten Blick zu. „Sie verfügen ganz offensichtlich über ausreichend Energie, Malbert.“

      Leutnant Malbert, ein nicht gerade sensibler Mann, hatte es noch nie beherrscht, auf Untertöne zu achten. Daher verbuchte er die Aussage seiner Chefin als Lob und lachte laut.

      „So ist es! Ich bin topfit!“, rief er und schaute auffordernd in die Runde. „Von mir aus kann´s losgehen.“

      De Belfort fixierte für einen Augenblick die Tischplatte und atmete tief durch. Während Malberts Auftritt hatte sie den Blick ihres Inspektors aufgefangen und fragte sich nun, wie diese beiden so grundverschiedenen Persönlichkeiten wohl miteinander zurechtkommen würden. Sie selbst hatte so ihre Schwierigkeiten mit Sébastien Malbert. Er war selbstverliebt, laut und bisweilen sogar arrogant, führte sie sich seine Charakterzüge vor Augen. Doch es wäre ungerecht, nur seine negativen Eigenschaften zu betrachten. Leutnant Malbert war ein äußerst engagierter und fleißiger Polizist. Freilich entsprangen auch diese Tugenden einem Quell, den man ohne weiteres als Kalkül bezeichnen konnte. Der Ehrgeiz trieb ihn an. Ganz nach oben, das war sein Ziel. Und noch etwas zeichnete ihn aus. Seine Kontakte zu Informanten aus allen Bereichen der kriminellen Parallelwelten waren hervorragend. De Belfort schlug die Beine übereinander und setzte sich aufrecht hin.

      „Sie können gleich loslegen, Malbert, aber lassen Sie mich erst einmal von meinem Gespräch mit dem Obdachlosen berichten. In Ordnung?“ Ohne die Zustimmung ihres Mitarbeiters abzuwarten, begann sie die Ereignisse vom Morgen zusammenzufassen.

      „Das Gespräch mit Faruk Ghoul hat nicht allzu viel gebracht.“

      „Na, kein Wunder“, warf Malbert ein und grinste. „Was soll denn ein algerischer Penner schon bemerkt haben? Der hatte um diese Uhrzeit seinen Pegel doch schon längst überschritten.“

      Perrec