Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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winzigem Einstieg die – mit den Fußspitzen nach oben – Beine des Gerichtsmediziners ragten, tauchte dessen Kopf wie in Zeitlupe am Rande des hölzernen Korbes auf. Unter Ächzen und mit kaum unterdrücktem Fluchen folgten gleich darauf die Hände, mit Hilfe derer sich Monsieur le Docteur in eine halbwegs aufrechte Position zu hieven versuchte. De Belfort blickte mit einem breiten Grinsen zu ihrem Inspektor hinüber und registrierte zufrieden, dass auch er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Sie war also nicht die Einzige, die inmitten dieses eigentlich so tragischen Szenarios für eine gewisse Situationskomik anfällig war. Doch schon im nächsten Augenblick rissen sich beide zusammen.

      „Schießen Sie los, Docteur“, forderte die Kommissarin den Rechtsmediziner auf. „Sie wissen ja, was uns interessiert.“

      „Und Sie wissen, was ich zu diesem Zeitpunkt und ohne vorherige Obduktion sagen kann“, erwiderte Docteur Dupin, der inzwischen aus dem Korb des altertümlichen Fesselballons herausgeklettert war. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Der Tote ist männlich, soviel war schon ohne viel Aufhebens erkennbar. Netterweise trug er seinen Ausweis bei sich, bevor er sich hat ermorden lassen. Er heißt Michel Souliac, ist 24 Jahre alt und kommt aus Trappes. Das liegt in der westlichen Banlieue, kein besonders edles Pflaster“, fügte er mit einem kurzen Seitenblick auf Loïc Perrec hinzu, von dem er wusste, dass er noch nicht lange in Paris lebte.

      „Ich weiß“, entgegnete dieser. „2005 und auch 2013 war dort einiges los. Jugendkrawalle, brennende Autos und offene Gewalt auf den Straßen. Und noch heute gibt es in Trappes zumindest zwei polizeibekannte Gangs.“

      De Belfort bedachte ihren neuen Mitarbeiter mit einem anerkennenden Seitenblick und machte sich im Geiste eine kleine Notiz: Engagiert, interessiert, hat seine Hausaufgaben gemacht.

      „Sehr richtig“, holte sie der Gerichtsmediziner aus ihren Gedanken und nickte Perrec anerkennend zu. „Auf den ersten Blick kommt aber in diesem Falle keine Bandenkriminalität in Frage, wenn ich mir erlauben darf, meine Meinung kundzutun.“ Die Kommissarin unterdrückte ein Lächeln und schaute Docteur Dupin auffordernd an.

      „Nur zu.“

      Sie mochte diesen etwas schrulligen Doktor, der sie mit seinem grauen Haarkranz und der leicht untersetzten Figur an ihren Chemielehrer aus der Abiturklasse erinnerte.

      Docteur Dupin stemmte beide Hände in die Hüften und bog seinen Oberkörper nach hinten, wobei er ein leidendes Stöhnen hören ließ.

      „Diese Jungs gehen meist überaus brutal vor, wie Sie wissen. Sie benutzen Messer oder Schusswaffen, in letzter Zeit vor allem halbautomatische Waffen und sogar Maschinenpistolen.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und ließ seine Schultern kreisen. „Was diesen jungen Herrn hier betrifft“, er wies auf die Leiche, „sind die sichtbaren Verletzungen, na sagen wir mal, eher harmlos.“ Docteur Dupin räusperte sich umständlich, als er Perrecs fragenden Blick sah. „Sie deuten auf eine Schlägerei hin. Nicht übermäßig brutal, aber schmerzhaft.“

      „Könnten Sie das bitte präzisieren?“, warf de Belfort ein.

      „Aber gerne, Madame. Das Opfer hat einen ordentlichen Schlag auf die Nase bekommen, ein blaues Auge und ein handtellergroßes Hämatom auf der rechten Schulter. Wie von einem Schlag, ich kann es noch nicht genau sagen. Solche Blessuren sind nun wirklich untypisch für eine Abrechnung im Bandenmilieu. Das hat eher etwas von einer Jahrmarktschlägerei.“

      Docteur Dupin kratzte sich am Hinterkopf und schmunzelte, so, als freue er sich über diesen gelungenen Vergleich. Dann wurde er wieder ernst.

      „Selbstverständlich haben diese Verletzungen nicht zum Tode geführt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie dem Opfer nicht bereits einige Stunden zuvor beigebracht wurden. Und es gibt noch ein weiteres Indiz, dass wir es hier nicht mit Bandenkriminalität zu tun haben.“

      Docteur Dupin legte eine Kunstpause ein, als müsse er bei seinen Zuhörern die Spannung steigern.

      „Giftmorde kommen in dieser Szene nämlich eher selten vor.“

      „Giftmorde? Es ist also eindeutig Mord? Und Sie tippen auf Gift? Ich hatte mich nämlich gerade gefragt, ob der Tote nicht eventuell einen Herzinfarkt erlitten haben könnte. Als direkte Folge der Schlägerei, das wäre doch denkbar. Der Angreifer gerät daraufhin in Panik und verfrachtet den Toten ins Karussell.“

      De Belfort blickte den Gerichtsmediziner fragend an und nahm wahr, wie Perrec neben ihr ein kleines gebundenes Heft aus der Tasche zog und begann, sich Notizen zu machen.

      „Ja, Madame, denkbar wäre das. Doch so wie es aussieht, ist dieser junge Mann hier“, er wies mit dem Kopf hinter sich, „vergiftet worden. Bei näherer Betrachtung sind die Hinweise recht eindeutig. Sehen Sie hier“, sein Finger schwebte über dem leicht geöffneten Mund der Leiche, „die Lippen weisen eine charakteristische blaue Verfärbung auf und an der Zunge haben wir eine, wenn auch nur schwach sichtbare, Geschwulstbildung.“

      Er nahm seine silbern gefasste Nickelbrille ab und wischte mit dem Zeigefinger über die Gläser.

      „Ich würde sagen, er ist seit vier bis sechs Stunden tot. Genaues aber, wie immer, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte.“

      „Was macht Sie so sicher, dass es kein Suizid war? Der Mann mag in eine Schlägerei verwickelt gewesen sein, doch sein Tod muss damit nicht in unmittelbarer Verbindung stehen. Immerhin könnte er sich danach selbst das Leben genommen haben.“

      Loïc Perrec schaute kurz von seinem Notizblock auf und ließ den Stift über dem Papier schweben, bereit, die Antwort schon zu notieren, noch während sie ausgesprochen wurde. Bevor er die Augen wieder senkte, fing er den zweifelnden Blick seiner Chefin auf.

      Der Doktor wiegte den Kopf. „Ich kann es natürlich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es gibt Druckstellen an den Armen, die nicht zu den restlichen Verletzungen zu passen scheinen. Ich würde sagen, sie sind ihm später, womöglich kurz vor Eintritt des Todes, zugefügt worden. Als sei er festgehalten worden.“

      Den letzten Satz hatte Docteur Dupin sehr leise ausgesprochen, so als grüble er beim Sprechen über die Wahrscheinlichkeit seiner Vermutung nach. Dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Aber, wie gesagt, ich muss ihn mir erst aus der Nähe betrachten. Und nun überlasse ich Ihnen das Feld, wenn Sie erlauben.“

      Mit einem festen Händedruck verabschiedete er sich von der Kommissarin und ihrem Inspektor und stapfte zu seinem Auto, das außerhalb der Absperrungen geparkt war.

      „Möchten Sie zuerst mit dem Typen sprechen, der ihn gefunden hat?“, fragte der junge Bretone. „Ein Obdachloser aus Marseille, der erst seit ein paar Tagen in Paris ist.“

      Er zeigte quer über den Platz auf eine kleine Gruppe von Männern. Zwei Gendarmen unterhielten sich mit einem älteren Mann, der beide Hände fest um einen Kaffeebecher geschlossen hatte. Zu seinen Füßen stand ein alter Rucksack, an dem eine aufgerollte rosarote Isomatte festgeschnallt war.

      „Macht einen intelligenten und nicht allzu verwahrlosten Eindruck“, präzisierte Perrec. „Aber er hat einen ganz schönen Schrecken bekommen, der Arme.“

      „Die Stadt hat sich ihm ja auch weiß Gott nicht von ihrer besten Seite gezeigt, um ihn willkommen zu heißen“, murmelte de Belfort. „Um ihn kümmern wir uns später.“ Die Kommissarin berührte ihren neuen Mitarbeiter leicht an der Schulter.

      „Bereit?“

      Perrec nickte und kurz darauf zwängte er seine ein Meter neunzig lange Gestalt in die Enge des Miniatur-Ballonkorbes. Die Kommissarin gab dem Kollegen von der Spurensicherung, der einige Meter weiter den Boden untersuchte, ein kurzes Zeichen.

      „Wir gehen jetzt da rein, venez, kommen Sie bitte“, rief sie ihm zu und drehte sich wieder zu ihrem Inspektor um.

      „Ja, er wird hier dringend gebraucht“, kam es gedämpft aus dem Innern der Karussellfigur. „Ich habe nämlich etwas gefunden.“

      Perrec hielt einen Zettel zwischen seinen behandschuhten Fingern und streckte ihn seiner Chefin entgegen. „Offensichtlich hat der Mörder seine Visitenkarte