Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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wie ein verzweifeltes Kichern seine Kehle hinaufkroch. Seine ersten Tage in der Stadt des Lichts hatte er sich nun wirklich anders vorgestellt. „Schluss jetzt“, ermahnte er sich laut. „Reiß dich zusammen!“ Er wandte seinen Blick nach Osten, wo am Horizont bereits ein kleiner, helloranger Streifen zu erkennen war. Langsam und eindringlich sprach er ein weiteres Gebet und fühlte sich gleich darauf ruhiger. Allah war ihm schon immer eine wichtige Stütze gewesen, dachte Faruk voller Dankbarkeit. Doch was ich jetzt vor allen Dingen brauche, fügte er im Stillen noch hinzu, ist ein menschliches Wesen! Er wandte seinen Blick vom Himmel ab und schaute sich um. Etwa hundert Meter links von ihm nahm er den Umriss eines ovalen Gebäudes wahr. Natürlich! Faruk schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie hatte er das nur vergessen können: Das Toilettenhäuschen! Der Treffpunkt der Homosexuellen! Hier würde er sicher jemanden finden, der ein Handy dabeihatte. Bitte, Allah, lass noch jemanden hier sein, bitte! Faruk fing an zu laufen und begann schon nach wenigen Sekunden laut zu schnaufen. Ich muss dringend etwas für meine Kondition tun, dachte er und schnappte gleich darauf vor Erleichterung nach Luft. Ein Mann trat hinter dem Klohäuschen hervor und schien für einen kurzen Moment in Faruks Richtung zu blicken. Der riss sofort beide Arme nach oben und begann sie über seinem Kopf zu bewegen wie ein Ertrinkender.

      „Heee, hallo, Monsieur“, schrie er aus Leibeskräften. „Au secours, s´il vous plaît! Bitte, Monsieur, bitte warten Sie, ich brauche Ihre Hilfe!“

      Der Mann blieb tatsächlich stehen und schaute scheinbar regungslos in seine Richtung. Und noch während Faruk auf ihn zu rannte, mischte sich ein anderes, seltsam nagendes Gefühl in seine Erleichterung. Was machte ihn eigentlich so sicher, dass von diesem Typen, dem er mit jedem Schritt näher kam, tatsächlich Hilfe zu erwarten war?

      Avenue van Dyck, 8. Arrondissement

      Kommissarin Victoire Eléonore de Belfort gähnte. Gerade noch war sie im Traum über eine wunderschöne Blumenwiese spaziert und nun saß sie schlaftrunken zwischen den durcheinandergeratenen Laken ihres Bettes und tastete nach dem Handy. Ihr Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit. Die schweren Brokatvorhänge vor den bodentiefen Doppelfenstern ließen nicht den kleinsten Schimmer des Mondlichtes eindringen, das draußen die Bäume des Parc Monceau versilberte. Vic, wie ihre Freunde sie nannten, hielt sich das bläulich leuchtende Viereck des Displays direkt vors Gesicht und blinzelte. Ein entgangener Anruf. Offenbar hatte sie so fest geschlafen, dass sie die Melodie ihres Ruftons als Teil ihres Traumes wahrgenommen hatte. Die Nummer sagte ihr nichts, aber es musste Loïc Perrec gewesen sein, der da gerade versucht hatte, sie zu erreichen. Sie seufzte tief und betrachtete resigniert die kleinen Zahlen, die ihr die Zeit anzeigten. Wer sonst sollte sie auch an einem Donnerstagmorgen um vier Uhr dreiundzwanzig anrufen? Offensichtlich hatte sie die Mobilnummer ihres Inspektors noch nicht zu den Telefonkontakten hinzugefügt. Der junge Bretone gehörte erst seit gut einer Woche zu ihrem Team. Er hatte einige Jahre in einer kleinen Dienststelle an der Côte d‘Armor gearbeitet und sich nach einer Weiterbildung an der École Nationale de Police in Saint-Malo für die höhere Beamtenlaufbahn im Polizeidienst qualifiziert.

      „Ein äußerst intelligenter junger Mann“, war de Belforts Vorgesetzter, Monsieur le Préfet, voll des Lobes gewesen. „Meine uneingeschränkte Hochachtung vor jungen Menschen, die aus, wie soll ich sagen“, der Chef der Polizeibehörde hatte sich umständlich geräuspert, „die aus dem einfachen Volk kommen und sich aufgrund ihrer Intelligenz und einer großen Portion Ehrgeiz in die oberen gesellschaftlichen Ränge emporarbeiten.“ Während er sprach, hatte er eine fast militärische Haltung angenommen und ausgesehen, als wolle er in Kürze das Défilé der französischen Ehrenlegion abnehmen. De Belfort verstand sich sehr gut mit dem Präfekten, der, stolzer Repräsentant eines alten Pariser Adelsgeschlechtes, mit vollem Namen Édouard Philippe Charles de Montmirail hieß. Obwohl Éd, wie er in der Brigade genannt wurde sobald er außer Hörweite war, wie die personifizierte Definition für Großbürgertum daherkam, war er ein kompetenter und charakterstarker Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Am Quai des Orfèvres, dem Sitz der Brigade Criminelle, der Pariser Mordkommission, genoss er daher hohes Ansehen und das absolute Vertrauen seiner Mitarbeiter. De Belfort gähnte erneut. Während sie sich ihr linkes Auge rieb, drückte sie mit der anderen Hand die Taste, die sie mit Perrec verbinden würde.

      „Guten Morgen, Madame le Commissaire“, vernahm sie kurz darauf die herzliche und ein wenig aufgeregte Stimme ihres Inspektors.

      „Ich bin mir sehr sicher, dass er ganz und gar nicht gut ist, habe ich recht?“, entgegnete de Belfort, ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten. „Sie werden mich nicht ohne Grund zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geklingelt haben.“

      Kaum waren die Worte ausgesprochen, taten sie ihr auch schon leid. Ihr Inspektor konnte schließlich nichts dafür, dass es offensichtlich wieder einmal Zeit war, einen Mord aufzuklären. Und in den meisten aller Fälle geschahen derlei Dinge nun einmal nicht am Nachmittag. Noch weniger aber konnte er dafür, dass sie bereits mit einer geradezu unterirdisch schlechten Laune zu Bett gegangen war. Daran hatte Étienne Schuld, ihre große Liebe und zuverlässiger Quell für prickelndes Glücksgefühl und dunkelsten Herzschmerz. In welche Richtung der Kompass der Emotionen gestern Abend ausgeschlagen hatte, das hatte ihr Inspektor soeben zu spüren bekommen.

      „Perrec, sind Sie noch dran?“, fragte sie und achtete darauf, ihre Stimme so freundlich und warm klingen zu lassen, wie es ihr unter den gegebenen Umständen eben möglich war.

      „Ja, entschuldigen Sie, Commissaire, selbstverständlich, ich war kurz abgelenkt“, kam seine Antwort, nun eine winzige Spur kühler als zuvor. „Wir haben hier eine Leiche.“

      De Belfort legte geistesgegenwärtig die Hand über den Lautsprecher des Telefons, bevor sie genervt einen Schwall Luft ausstieß. Sie verdrehte die Augen zur Decke und ihre Lippen formten ein stummes: Womit habe ich das bloß verdient? Dann führte sie ihr Handy zurück ans Ohr und sagte betont aufgeräumt:

      „Hören Sie, lieber Perrec, Sie können davon ausgehen, dass ich nicht erwartet habe, mit diesem Anruf zu einem Frühstück in die Bar des Palais de Chaillot eingeladen zu werden.“ Sie musste über ihren Einfall selbst schmunzeln und fragte sich, wie sie nun gerade auf dieses Restaurant gekommen war, in dem sie seit Jahren nicht mehr gegessen hatte.

      „Alors, Perrec“, sagte sie aufmunternd, „sagen Sie mir, wo!?“

      „Trocadéro“, kam die zögerliche Antwort aus der Leitung und es klang fast wie eine Frage. „Aber was hat das mit Frühstück zu tun?“

      De Belfort rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. Das durfte alles nicht wahr sein. Sie erhob sich von ihrem Bett und lief im schwachen Licht des Handydisplays zum Fenster. Mit der freien Hand zog sie die schweren Vorhänge zurück und blickte zum Himmel, an dem der Vollmond groß und erstaunlich dreidimensional zu sehen war. Hatte Éd wirklich von eben diesem Loïc Perrec gesprochen, als er sich in nicht enden wollenden Lobeshymnen ergangen hatte? Sie betrachtete den Park, der nur ein paar Meter von ihrem Fenster entfernt lag. Der herrschaftliche, schmiedeeiserne Zaun, der ihn umgab, verlieh diesem grünen Fleckchen Paris eine ganz besondere Schönheit. Ihr Blick blieb in den silbrig glänzenden Baumkronen hängen, die sich sachte im Wind bewegten. Womöglich schlief sie noch und diese Szene war nur ein absurder Teil eines verworrenen Traumes.

      „Madame? Hören Sie mich noch, Madame le Commissaire?“

      De Belfort räusperte sich und hielt sich ihr Mobiltelefon direkt vor den Mund, bevor sie betont langsam zu sprechen begann. Perrec musste annehmen, dass sie ihn für einen kompletten Idioten hielt, aber momentan war sie von diesem Gedanken nicht allzu weit entfernt.

      „Hören Sie Perrec, ich weiß, dass das Palais de Chaillot am Trocadéro ist. Die Erwähnung dieses Restaurants war ein Scherz. Das gleiche gilt für das Frühstück. Ein Scherz, Perrec! Ich verstehe ja Ihre Aufregung, schließlich ist das Ihr erster Toter. Aber nun konzentrieren Sie sich bitte und berichten mir, an welchem Ort Sie sich gerade befinden. Wo zum Teufel sind Sie?“

      „Trocadéro“, wiederholte der Inspektor und nun klang er wie ein trotziges Kind. „Ich befinde mich im Jardin du Trocadéro und zwar direkt bei diesem historischen Karussell. Das kennen Sie doch sicher, Madame le Commissaire.“