Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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macht Sie so sicher?“ De Belfort beugte sich vor und nahm den kleinen Zettel entgegen. Während sie las, fuhr sie mit dem Finger über die Schrift. Nein, dieses Zeichen hatte keine Jugendbande hinterlassen, um sich die vermeintliche Heldentat auf die Fahnen zu schreiben. Vorurteile hin oder her, dachte die Kommissarin und verbot sich ein Schmunzeln. Ein Vierzeiler mit jambischem Versmaß passte nicht ins intellektuelle Repertoire von Mitgliedern einer Straßengang.

      Völlig reglos stand er dort, auf der Anhöhe, dicht bei den mächtigen Mauern des Palais de Chaillot. Eine kleine Ewigkeit verharrte er nun schon so, ohne die geringste Bewegung. Doch dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, hob er langsam ein Fernglas vor die Augen. Die starken Gläser fingen für den Bruchteil einer Sekunde das Mondlicht ein, bevor sie auf die Szenerie gerichtet wurden, die sich einige hundert Meter weiter unten abspielte. Aufgeregt blinkende Blaulichter, ernste Gesichter, eine Bahre gleich neben dem Wagen eines Bestattungsinstitutes. Er bewegte das Glas ein wenig weiter nach rechts. Eine attraktive, dunkelhaarige Frau erschien in seinem Blickfeld und für einen kurzen Moment erschrak er über ihre plötzliche Nähe. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand und schien zu lesen.

      Gestohlen hast, mit wilder Gier Nicht nur der Fremden Hab und Gut Den Glauben, Liebe, nahmst Du mir Und kommt der Tag, versiegt Dein Blut

      Seine Lippen formten die Worte lautlos. Dann lächelte er, ließ das Fernglas sinken und stieg den Weg zur Avenue Paul Doumer hinauf.

      Hinter dem Eiffelturm ging die Sonne auf.

      Quai des Orfèvres, 1. Arrondissement

      „Die Chefin schickt dich alleine da raus?“

      Leutnant Sébastien Malbert schlug einen mitfühlenden Ton an, doch sein spöttischer Gesichtsausdruck sprach eine ganz andere Sprache. Grinsend lehnte er in seinem Bürostuhl, seine Beine lässig übereinandergeschlagen und auf dem kleinen Stahlcontainer ausgestreckt, der direkt neben seinem Schreibtisch stand. Teure Schuhe, dachte Perrec und musterte seinen Teamkollegen. Überhaupt schien Malbert einen anspruchsvollen Geschmack zu haben. Das Hemd zierte eine Stickerei, die auf ein bekanntes amerikanisches Label hinwies und seine Uhr mit dem extrabreiten Stahlarmband hatte sicher ihren Preis. Wie zum Beweis blitzten die Diamanten auf dem Ziffernblatt in der Sonne, als er sich mit der Hand durch die gegelten schwarzen Haare fuhr. Eine goldgeränderte Fliegerbrille der Marke Ray-Ban komplettierte das Outfit. Für Perrecs Geschmack etwas zu dick aufgetragen. Der Inspektor war kein Freund von zu schnellen Urteilen, was den Charakter seiner Mitmenschen anging. Dennoch hatte er sich schon ein Leben lang auf seinen Instinkt verlassen können, und was seinen Kollegen anbetraf, so hatte er sich in den letzten Tagen eine Meinung gebildet: Malbert war ein Angeber. Leidenschaftliches Engagement und herausragende Menschenkenntnis, das sind die Attribute, die unseren lieben Loïc in ganz besonderem Maße auszeichnen! Das hatte sein ehemaliger Vorgesetzter in der Dienststelle von Perros-Guirec in seiner Abschiedsrede für den scheidenden Leutnant Perrec geschmettert und dabei sein Glas erhoben. Perrec musste lächeln, als er daran dachte, und prompt deutete Sébastien Malbert die Regung seines Gesichtes falsch.

      „Da lacht er, der Bretone!“ Mit einem Ruck stellte er beide Füße auf den Boden. „Lass es dir von einem Experten wie mir gesagt sein, Kumpel, die Banlieue ist nur was für die ganz Harten unter uns.“

      Inzwischen hatten sich auch einige Beamte aus anderen Teams an ihren Tischen in dem spartanisch eingerichteten Großraumbüro eingefunden, dessen einziger Schmuck die altmodischen, bodentiefen Fenster waren, die die gesamte Längsseite des Raumes dominierten und den Blick zur Seine freigaben.

      „Oh là là, la Banlieue!“ Als hätte Malbert ein Zauberwort ausgesprochen, machten sofort haarsträubende Schauergeschichten die Runde. Es entflammte ein regelrechter Wettstreit darüber, wer von ihnen da draußen, wie sie es nannten, die gefährlicheren Situationen gemeistert hatte. Nach einer Weile stand schließlich eine kleine und eher unscheinbar wirkende Polizistin auf und streckte beide Arme beschwichtigend in die Höhe.

      „Nun lasst mal gut sein“, lachte sie. „So dramatisch ist die Lage dort nun auch wieder nicht.“ Sie ging zu Perrecs Schreibtisch und reichte ihm die Hand. „Ich bin Nathalie Martin“, sagte sie und schaute ihn aus dunklen, intelligenten Augen an. „Ich gehöre auch zum Team. Ich habe heute meinen ersten Tag nach dem Urlaub, deshalb sind wir uns noch nicht begegnet.“

      Sie fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung durch die kurzgeschnittenen dunkelblonden Locken.

      „Keine Panik vor den Vorstädten, Kollege. Sicher gibt es in manchen Banlieues Quartiere, in denen man als Fremder, also gewissermaßen als Eindringling, nicht gerne gesehen ist. Aber wir wissen doch alle, dass man in unserem Job an jedem Ort aufmerksam sein muss. Also hören Sie nicht auf die Horrorgeschichten.“

      Mit einem milde strafenden Lächeln schaute Nathalie in die Runde und wandte sich dann wieder dem Inspektor zu.

      „In der Banlieue gibt es neben Dealern und Kleinkriminellen vor allem eines: Menschen, die dort wohnen und auch nicht freundlicher oder unfreundlicher sind als anderswo. Sie werden Ihre erste Nachbarschaftsbefragung meistern, dessen bin ich mir sicher.“

      Sie zog sich einen Stuhl heran und fuhr mit leiserer Stimme fort.

      „Sie wissen ja, dass Madame le Commissaire heute Morgen gleich vom Tatort aus in die Wohnung des Toten gefahren ist, nicht wahr? Es scheint dort niemand außer Michel Souliac zu wohnen. Laut Datenbank war unser Opfer nicht verheiratet und hatte keinerlei Familie in Paris. Einige Vorstrafen wegen Einbruchsdelikten. Sie schob ihre Haare hinters Ohr, die ihr kurz darauf wieder ins Gesicht fielen. „Aber das wird die Chefin uns heute Abend während unseres Meetings berichten. Wir machen davon jeden Tag zwei. Eines bei Dienstbeginn und ein weiteres abends. Heute Morgen muss es ausfallen, weil de Belfort gerade einen Termin beim Staatsanwalt hat. Und deshalb fahren Sie jetzt auch nach Trappes.“

      Sie gab Perrec einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und ging zurück zu ihrem Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und fischte ein Karamellbonbon daraus hervor, das sie sofort aus der goldenen Verpackung wickelte. Malbert warf ihr einen Blick zu, der gleichermaßen Vergnügen und Missbilligung ausdrückte. Und es war ihm völlig egal, dass auch der Inspektor ihn gesehen hatte.

      Einige Stunden später befand sich Loïc Perrec schon wieder auf dem Rückweg zum Quai des Orfèvres. Missmutig starrte er durch die schmutzigen Fenster des Vorortzuges, in den er vor gut zehn Minuten in Trappes eingestiegen war. Noch keinen Monat in Paris und schon schicken sie mich mitten in die Banlieue, dachte er und betrachtete die nicht enden wollenden Reihen von Hochhäusern, die in schneller Abfolge an seinem Auge vorbeizogen. Schäbige Balkone, auf denen Kühlschränke vor sich hin gammelten und Wäsche an Plastikleinen im Wind flatterte, folgten auf Miniaturgärten mit liebevoll bepflanzten Blumenkübeln und bunt gestrichenen Klappstühlen. Dank der ungeputzten Zugfenster lag über allem eine schmierige, graubraune Schicht. Perrec rümpfte die Nase. Er wandte den Kopf ab und fing den Blick einer jungen Frau auf, die ihn vom Platz schräg gegenüber beobachtete. Ertappt senkte sie die Augenlider und betrachtete scheinbar konzentriert ihre in einem grellen Neon lackierten Fingernägel.

      „Pardon!“

      Perrec zuckte erschrocken zusammen, denn sein Sitznachbar hatte sich schnaufend erhoben und beugte sich nun gefährlich nahe über ihn. Der wuchtige Mann legte die flache Hand auf den oberen Teil des Zugfensters und drückte es geräuschvoll zu.

      „Es zieht“, präzisierte er und ließ sich mit einem Ächzen wieder auf den Sitz fallen. Loïc Perrec nickte ihm freundlich zu und fischte sein Notizheft aus einer der zahlreichen Taschen seiner Outdoor-Jacke. Bevor der Zug am Bahnhof Montparnasse in Paris ankam, wollte er alle Ergebnisse seiner Befragung, die er heute durchgeführt hatte, notiert haben. Sein Bleistift verharrte über der noch unbeschriebenen Seite. Viel herausgekommen war bei seinen Bemühungen nicht. Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, bevor er sich leise seufzend über das kleine Büchlein beugte.

      Abweisende Fassaden in Grau und Beige hatten den Inspektor empfangen, als er an diesem Morgen die Adresse von Michel Souliac nach einigem Suchen endlich gefunden hatte. Der junge Bretone hatte sich unwohl gefühlt, als er durch