Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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nestelte.

      „Wer ist da?“

      Die trüben Augen des alten Mannes spähten durch den kleinen Schlitz, der einen winzigen Ausschnitt eines schwach beleuchteten Wohnungsflures sehen ließ.

      „Ich bin es, Suzanne.“

      Die Frau schaute sich kurz um und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, bevor sie fortfuhr zu sprechen. „Hören Sie, Laguerre, ich muss dringend Ihre Enkelin sprechen, haben Sie heute schon etwas von ihr gehört? Seit heute früh versuche ich sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie geht nicht dran.“

      „Meine Enkelin?“ Der Alte brüllte die Frage mehr, als dass er sie aussprach, doch das lag weniger an seinem Erstaunen, als an der schlichten Tatsache, dass er fast taub war. Suzanne warf einen erschrockenen Blick hinter sich, doch sämtliche Türen in dem schäbigen Hausflur blieben geschlossen.

      „Die kommt erst übermorgen wieder“, schallte es aus dem Spalt zwischen Tür und Rahmen, der nun ein paar Millimeter breiter wurde. „Sie besucht mich immer nur samstags, wissen Sie. Was wollen Sie denn von ihr?“

      „Ich muss sie dringend erreichen und dachte, sie sei vielleicht bei Ihnen“, versorgte Suzanne ihn nur mit den notwendigsten Informationen.

      „Samstag“, wiederholte der alte Mann und blickte fragend. „Sonst noch etwas? Ich höre gerade meine Lieblingsradiosendung, Mademoiselle“, fügte er erklärend hinzu und machte damit auf freundliche Art und Weise deutlich, dass er nun genug von dem Gespräch hatte.

      „Tja“, Suzanne machte eine resignierte Handbewegung, „dann vielen Dank, Monsieur.“

      Sie trat einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen, als ihr noch etwas einfiel.

      „Wenn ich Irina telefonisch weiterhin nicht erreiche, schaue ich am Samstag noch einmal bei Ihnen vorbei.“ Doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen.

      „Merde.“

      Suzanne Hérault fuhr sich mit der flachen Hand über ihr Gesicht und zog im Gehen ihren Wohnungsschlüssel aus der vorderen Tasche ihrer abgewetzten Jeans. Wenige Minuten später ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen und starrte auf die billige lilafarbene Armbanduhr, die sie zusammen mit einer Reihe bunter Gummibänder locker am Handgelenk trug. Schon halb neun. Sie fingerte nach einer Flasche Cola, die in Reichweite ihres Armes auf dem Tisch stand. Der Deckel war nicht richtig zugeschraubt worden und das rote Plastikhütchen kullerte über die Tischplatte aus grauem Resopal. Suzanne konnte gerade noch verhindern, dass sich die klebrige Flüssigkeit über den Tisch und den Küchenboden verteilte. „Merde alors.“ Tränen der Wut traten ihr in die Augen und mit einer heftigen Bewegung griff sie zum Telefonhörer, der zwischen benutzten Tellern und einer eselsohrigen Frauenzeitschrift auf dem Küchentisch lag. Zum x-ten Mal an diesem Tag versuchte sie nun schon, ihre Freundin Irina zu erreichen.

      „Verdammt noch mal, wo steckst du denn?“, brüllte sie ins Telefon. „Kannst du nicht endlich einmal deine verfluchte Mailbox abhören? Untersteh dich und lass mich in dieser beschissenen Situation einfach hängen. Das kannst du nicht machen, hörst du?“ Suzannes Stimme überschlug sich fast. „Du steckst da genauso tief drin wie ich. Wir müssen uns dringend besprechen, bevor die Bullen wieder kommen, also ruf mich gefälligst zurück.“

      Zitternd vor Zorn drückte sie die Taste, um die Verbindung zu beenden. Wütend starrte sie auf das Telefon in ihrer Hand. Nun komm wieder runter, sie wird sich schon melden, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Vielleicht hat sie kein Netz oder der Akku ihres Handys ist leer.

      „Maman?“ Ein zierliches Gesichtchen tauchte in Suzannes Blickfeld auf und fragende Kinderaugen schauten zu ihr empor. „Bist du auf jemanden böse?“

      „Aber nein, meine Kleine.“ Suzanne legte ihre Hand auf die ungekämmten Haare ihrer Tochter und streichelte zerstreut den kleinen Kopf. „Geh wieder in dein Zimmer, es ist alles in Ordnung.“

      Doch das Kind hatte offensichtlich nicht vor, die Aufmerksamkeit der Mutter so schnell wieder aufzugeben und schickte sich an, auf Suzannes Schoß zu klettern.

      „Ich mag nicht in mein Zimmer gehen, ich bleibe hier bei dir.“

      Mit ernstem Gesicht umfasste die junge Frau die schmalen Ärmchen ihrer Tochter und hob sie von sich weg.

      „Allez-hopp, runter mit dir. Ich habe jetzt keine Zeit zum Kuscheln, Samantha.“ Sie gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. „Na, lauf schon, sonst versteckt dein Bruder wieder all deine Puppen.“

      Auf ihren kurzen Beinchen rannte die Fünfjährige aus der Küche, und gleich darauf hörte man eine Tür zuschlagen. Suzanne seufzte und setzte die Colaflasche an ihre Lippen. Sie trank gierig und spürte, wie die Mischung aus Zucker und Koffein sie auf angenehme Weise anregte. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, sagte sie sich. Irina würde schon wieder auftauchen. Wahrscheinlich hatte sie einen neuen Lover und saß knutschend auf einer Bank im Jardin du Luxembourg. Aber nein, Suzanne lächelte bitter, dieser Gedanke war nun doch zu abwegig. Die Männer ihrer Freundin hatten sich bisher allesamt als Versager erwiesen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie jemals einen Typen kennenlernen würde, der mit ihr nach Paris fuhr, um einen romantischen Spaziergang durch einen der hübsch angelegten Parks zu machen. Nein. Irinas Typen waren von anderem Kaliber. Und deshalb saß sie jetzt ganz bestimmt nicht vor einem Strauch edler Rosen, sondern irgendwo zwischen weggeworfenen MacDonalds-Tüten und leeren Zigarettenschachteln. Suzanne rieb sich die Augen und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Ihre Freundin würde sich schon melden, sie musste sich nur etwas gedulden. Sicher war es reiner Zufall, dass Irina gerade heute nicht auffindbar war. Wenn uns dieser Typ tatsächlich Ärger machen sollte, weiß ich schon was zu tun ist, hatte sie verkündet und gelacht. Vor nicht einmal zwei Wochen war das gewesen. Da war es gerade erst passiert. Suzanne schluckte und ein Schauer durchlief ihren Körper, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem alles begonnen hatte. Ihr Nachbar, ein arroganter Angeber, der ganz offensichtlich in kriminelle Machenschaften verstrickt war, hatte sie und ihre Freundin Irina zu einer Party eingeladen. Die Wild Nights sind legendär, Mädels, hatte er großspurig erklärt und sie mit einem Blick angesehen, als erwarte er, dass ihm die beiden vor Ehrfurcht und Dankbarkeit die Füße küssen würden. Zu diesen Partys komme die Crème de la Crème der Unterwelt, hatte er gesagt. Er hatte von Champagner erzählt, von Austern und Kaviar und jeder Menge Marihuana. Auch Stärkeres, wenn sie sich trauten. Er hatte gelacht, und Suzanne erinnerte sich, dass ihre Freundin und sie sich gefühlt hatten wie überdrehte Teenager. Oh ja, sie waren mehr als bereit gewesen, von der süßen Frucht des Verbotenen zu naschen und für ein paar Stunden ihren tristen Alltag zu vergessen. Außerdem waren sie sich einig gewesen, dass es höchste Zeit wurde, einmal wieder ausgelassen und zügellos zu feiern. Und zwar in Gesellschaft des einflussreichsten Mafiabosses der Stadt. So jedenfalls hatte Michel ihnen den Gastgeber der Party beschrieben. Oh là là, das würden sie sich nicht entgehen lassen.

      Suzanne spürte, wie sich ein nervöses Zucken unterhalb ihres Auges ankündigte, als sie an die Nacht dachte, die alles verändert hatte. Und wie es aussah, ging der Albtraum immer noch weiter. Mit kleinen Schlucken trank sie die dunkle Limonade, während ihre Gedanken in die schummrige Bar in einem Kellergewölbe im 12. Pariser Arrondissement zurückkehrten. Der Abend war ihnen vorgekommen wie ein Märchen. Zumindest während der ersten Stunden. Der Champagner und ein paar Joints hatten sie in Hochstimmung versetzt, und die Männer waren gutaussehend und in Flirtlaune gewesen. Macht macht so sexy, hatte Irina gelacht und sich an einen bullig wirkenden Typen gekuschelt, der ihr grinsend erst das Glas aufgefüllt hatte und ihr dann mit einem zufriedenen Grunzen an den Hintern grapschte. Wenig später war auch sie selbst einem der Männer näher gekommen. Ein gebräuntes Gesicht mit stechend blauen Augen, das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Und dass sie die Berührungen des Mannes genossen hatte. Sie hatte sich begehrenswert gefühlt. Wie eine Filmdiva.

      Suzanne lachte bitter, als sie daran zurückdachte. Wie unendlich dumm sie doch gewesen war. Sie horchte kurz auf, als Lärm vom Treppenhaus in ihre Wohnung drang. Eine Tür schlug mit lautem Knall zu und dann war es wieder still. Sie dachte daran, wie die Nacht geendet hatte und war trotz allem froh, dass ein gnädiges schwarzes