Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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in schneller Abfolge von einem tiefen Rot zu fahlem Bleich und wieder zurück wechselte.

      „Entschuldigen Sie bitte, Perrec, ich dachte, ich meine, ich dachte, Sie hätten, ach, Himmel noch mal, ich bin einfach noch nicht richtig wach …"

      „Schon gut, Madame le Commissaire“, kam seine Stimme ein wenig scheppernd durch den Lautsprecher. „Wir haben wohl aneinander vorbeigeredet. Ein Missverständnis, halb so schlimm.“

      Er lachte fröhlich, doch de Belfort konnte die Unsicherheit heraushören, die sich dahinter verbarg.

      „Nein, Inspektor, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte sie mit ernster Stimme, die kurz darauf einen weniger förmlichen Ton annahm. „Und nun geben Sie mir noch ein paar Minuten, ich bin gleich bei Ihnen.“

      „Soll ich Ihnen einen Beamten schicken, der Sie mit dem Wagen abholt?“

      „Non merci, das ist nicht nötig, ich nehme das Rad.“

      Noch bevor ihr Mitarbeiter etwas erwidern konnte, drückte sie die Gespräch beenden-Taste ihres Handys und warf es hinter sich aufs Bett. Mit energischen Schritten ging sie zur Schlafzimmertür und trat in den stuckverzierten Flur, der ihre Wohnung auf einer Länge von elfeinhalb Metern durchzog. Hochherrschaftlich! Nobel! Königlich! Mit diesen oder ähnlichen Ausrufen bedachten ihre Freunde ihr Appartement, wenn sie es zum ersten Mal betraten. Was vor allem daran lag, dass sie selbst zumeist einen Bruchteil all der Quadratmeter bewohnten, die sie hier staunend und mit offenem Mund durchwanderten. Doch abgesehen von der Größe und der 1A-Lage direkt am Park, zeigte de Belforts Wohnung keinerlei Anzeichen großbürgerlicher Gesinnung. Die komplette Inneneinrichtung bestand aus alten, zum Teil deutlich abgenutzten Möbeln, die in kreativem und sehr gemütlichem Durcheinander die Zimmer füllten. Die Kommissarin liebte es, über die Antikmärkte in den Straßen von Paris zu wandern. Und mit den Schätzen, die sie dort entdeckte, hatte sie sich ihr Zuhause geschaffen.

      Sie sprang unter die Dusche und zog kurz darauf in aller Eile Jeans und ein langärmeliges Poloshirt aus dem Schrank. Auf dem Weg zur Wohnungstür schnappte sie sich ihre Jacke und schlüpfte in die dunkelblauen Turnschuhe, während sie schon den Hausschlüssel von einem filigranen Brett gleich neben der Tür nestelte. Verflixt, jetzt hätte sie fast ihr Handy vergessen. Auf Zehenspitzen, damit die Nachbarn in der Wohnung unter ihr nicht aus den Betten fielen, rannte sie ins Schlafzimmer und zog das Telefon zwischen den Laken hervor. Kurz darauf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Aus einem kleinen Abstellraum in der großzügigen Eingangshalle des typisch pariserischen Haussmann‘schen Gebäudes zog sie ein weiß lackiertes Mountainbike hervor. Nur wenige Sekunden später trieb die Kommissarin ihr Rad mit kräftigen Tritten die nahezu menschenleere Avenue Hoche hinunter. Victoire de Belfort liebte diese Art der Fortbewegung. Und morgens um kurz vor fünf genoss sie sie ganz besonders. Sie spürte den angenehm kühlen Lufthauch auf ihrem Gesicht, während sie in rasantem Tempo die Avenue bis zur sternförmig angelegten Place Charles de Gaulle-Étoile entlangfuhr. Um diese Uhrzeit waren kaum Autos unterwegs und so schoss sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Platz. Bevor sie in die Avenue Marceau einbog, warf sie den gewaltigen Mauern des Arc de Triomphe einen kurzen, bewundernden Blick zu. Sie folgte der Straße, überholte ein am Straßenrand dahinschleichendes Gefährt der Pariser Stadtreinigung und hob grinsend die Hand, als einer der dazugehörigen Männer ihr mit seinem giftgrünen Besen zuwinkte. Wenige Minuten später erreichte sie das Ufer der Seine und fuhr am Fluss entlang, der ihr im fahlen Licht des frühen Tages die Richtung wies. Nun war es nicht mehr weit. Das letzte Stück legte sie auf einem schmalen, von Platanen gesäumten Fußgängerweg zurück, der parallel zur Straße verlief. Zwischen den Blättern der Bäume sah sie bereits die zuckenden Blaulichter, die ihr anzeigten, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte.

      „Hé, Sie da! Sie dürfen hier nicht durchfahren!“

      Der Uniformierte streckte der Kommissarin schon von weitem seinen Arm entgegen und näherte sich mit energischen, weit ausholenden Schritten. De Belfort hatte sich gerade das gelbe Absperrband über den Kopf gehoben und war im Begriff wieder auf ihr Fahrrad zu steigen, als sie erkannte, dass die Hand des Polizisten zum Halfter an seinem Gürtel glitt.

      „Keine Panik, Kollege, die Knarre können Sie stecken lassen.“

      Der Gendarm blieb stehen und blickte stirnrunzelnd auf die Gestalt, die sich ihm nun rasant auf einem weißen Mountainbike näherte und gleich darauf neben ihm zum Stehen kam. Eine attraktive Brünette schaute ihn freundlich an. Sie sah aus wie die französische Schauspielerin, die er erst vor ein paar Wochen in einem Kinofilm gesehen hatte. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht an den Namen erinnern und nahm sich vor, am Abend seine Frau danach zu fragen.

      „Commissaire de Belfort“, stellte sich Victoire dem Beamten vor und nestelte ihren Dienstausweis aus der Innentasche ihrer Jeansjacke. „Bonjour.“

      “Oh Pardon, Madame le Commissaire.” Der Beamte war sichtlich verlegen. „Ich hatte nicht erwartet, dass …"

      „Schon gut, Sie haben ja nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Zugegebenermaßen ist es ein wenig ungewöhnlich, dass der Kommissar mit dem Rad kommt.“

      Und dann auch noch ein weiblicher, dachte de Belfort und lächelte dem Mann noch einmal zu. Sie schaute zum Karussell hinüber. Eine Ambulanz und ein Leichenwagen, dazu eine Menge lautlos blinkender Blaulichter und ernst aussehende Männer und Frauen, die professionell und routiniert ihren Job machten. Sie war am Tatort. Ein weiterer in der Reihe der vielen, unendlich vielen Tatorte, die sie in ihrer Laufbahn schon gesehen hatte. Und doch hat man jedes Mal wieder ein mulmiges Gefühl, dachte sie, als sie sich langsam näherte und die Umgebung konzentriert in sich aufnahm. Sicher, Tod und Grausamkeit gehörten zu ihrer täglichen Arbeit und mit der Zeit hatte sich tatsächlich eine gewisse Routine eingestellt. Doch der Anblick eines toten Menschen war für sie immer noch schwer zu ertragen. Worüber sie letztendlich froh war, denn zu einer abgestumpften Beamtin zu werden, das war nun wirklich nicht das, was sie anstrebte. De Belfort lehnte ihr Fahrrad an einen der schmalen Pfosten, die verhindern sollten, dass der Platz als Parkfläche genutzt wurde. Schon von weitem erkannte sie ihren Inspektor. Er trug, wie immer seit er in ihr Team gekommen war, seine Outdoor-Jacke. Das jeweils vorherrschende Wetter schien für den großgewachsenen jungen Mann mit den dunkelblonden Haaren und der kräftigen Statur dabei offensichtlich kaum eine Rolle zu spielen. Er trug sie auch bei schönstem Sonnenschein. Sie würde ihn bei Gelegenheit fragen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht war sie sein Glücksbringer? Bretonen waren dafür bekannt, abergläubisch zu sein. Während sie zu ihm und all den anderen Personen, die ein Mord auf den Plan rief, hinüberging, warf sie einen Blick zum Palais de Chaillot hinauf. Das Gebäude aus den 1930er Jahren wirkte im diffusen Licht des nahen Morgens abweisend und bedrohlich. Dunkel blickten die riesigen Fenster auf den darunter liegenden Park und die gewaltigen Brunnen, deren Wasserspiele um diese Uhrzeit freilich ausgeschaltet waren. Die beiden Gebäudeteile, die den Platz umgaben, auf dem sich tagsüber Massen von Touristen um die beste Aussicht auf den Eiffelturm stritten, wirkten wie steinerne Wächter. Kalt hoben sie sich gegen den wolkenlosen Himmel ab, der bereits zarte Schimmer von Orange und Rosa erkennen ließ.

      „Guten Morgen.“

      De Belfort reichte ihrem Inspektor die Hand und drückte sie ein wenig länger als normal. Er verstand ihre Geste und nickte ihr freundlich zu. Dann wies er mit dem Kopf zu einem Karussell, das mit Hilfe zweier 1000 Watt Halogen-Einsatzscheinwerfer bis in die hintersten Winkel ausgeleuchtet wurde. Sie näherten sich der Ansammlung aus altertümlichen Holzpferden und geschwungenen Kutschen in Muschelform. Die Kommissarin spähte durch das Gewirr aus Stangen und Stäben, bis sie schließlich eine Gestalt inmitten dieses nostalgischen Kindertraumes ausmachen konnte. Mit verzerrtem Gesicht und in einer wahrlich unbequemen Position verrichtete Docteur Dupin, der Rechtsmediziner, seine Arbeit. Das Bild, das sich ihr bot, konnte skurriler nicht sein. Sie musste sich konzentrieren, um nicht laut aufzulachen. Sie hob ihren Handrücken vor den Mund und warf Perrec einen fragenden und zugleich amüsierten Blick zu.

      „Was zum …?“

      „Ersparen Sie sich bitte jeglichen Kommentar, Madame le Commissaire“, tönte die leicht gedämpft klingende Stimme des Pathologen an ihr Ohr. „Ich weiß selbst, wie unendlich