Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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im Kino gesehen hatte. Was für ein unglaubliches Bauwerk. Er kam sich winzig vor und hob staunend den Kopf. Voller Ehrfurcht versuchte er, die Gesamtheit dieses Stahlkolosses zu erfassen. Ein seltsames Gemisch aus Ergriffenheit und leiser Furcht überkam ihn und er spürte, wie ein Schauer seinen Körper durchlief. „Es ist doch ein wenig unheimlich, sich mitten in der Nacht unter einem solchen Riesen aufzuhalten“, flüsterte er sich selbst zu. Um diese Zeit waren kaum Menschen an dem Ort, an dem es tagsüber von Touristen nur so wimmelte. Die gigantischen Stahlfüße der eisernen Dame, wie die Pariser den Eiffelturm gerne nannten, erschienen Faruk bedrohlich. Je länger er die Streben fixierte, desto unheimlicher wurde ihm zumute. Hatte sich dort drüben nicht gerade ein Schatten aus dem Dunkel gelöst? Faruk stand vor Anspannung ganz starr und lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben. Nein, da war nichts zu hören außer den Motorengeräuschen der wenigen Autos, die in dieser mondhellen Nacht auf der nahen Straße vorbeifuhren. Faruk kratzte sich nervös am Kinn und beschloss, sich lieber ein wenig abseits ein Plätzchen für seine Nachtruhe zu suchen. Er schaute sich um und entschied, den Pont d‘Iéna zu überqueren, der sich in Richtung Trocadéro über die Seine spannte. Hier konnte er den Eiffelturm aus der Ferne bestaunen und würde sicher ruhiger schlafen und auch besser träumen. Auf der Brücke kam ihm ein junger Mann entgegen, der ihn interessiert anblickte. Faruk lag schon ein höfliches Bonsoir auf den Lippen, als ihm auffiel, dass der Blick des Fremden etwas zu intensiv ausfiel. So senkte er nur die Augen und lief stumm an ihm vorbei. Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, sah er zwei weitere Männer, die nicht weit von ihm entfernt in einem öffentlichen Toilettenhäuschen verschwanden. Während er mit großen Schritten geradeaus lief, betrachtete er den weitläufigen Platz unterhalb eines wuchtigen Gebäudes, das wohl der Trocadéro sein musste. Oder war dies nur der Name für die Grünfläche mit den Fontänen, die sich dazwischen erstreckte? Faruk wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er besah sich die Wege, die in weiten Bögen zu den gewaltigen Mauern hinaufführten und den großzügig bemessenen Brunnen auf der gesamten Länge in ihre Mitte nahmen. In der Nähe einer hübsch angelegten Blumenrabatte, die von zierlichen Sträuchern begrenzt wurde, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Faruk schaute sich erstaunt um. Dieser Ort schien ein beliebter Treffpunkt zu sein, besonders für einsame Männer. Es dauerte eine Weile, bis Faruk begriff. So hatte eben jeder seine Vorlieben, dachte er und zuckte mit den Schultern. Er interessierte sich nicht für männliche Liebhaber, aber selbst wenn … Natürlich hatte dieser Platz einen gewissen Charme und der Anblick des Eiffelturms tat ein Übriges. „Für meinen Geschmack aber eindeutig zu einsam und fast schon unheimlich“, murmelte Faruk in die nächtliche Stille. Hier gab es keine Wohnhäuser, und weder Cafés noch Restaurants belebten diesen Ort. Er blieb stehen und kratzte sich ausgiebig am Kopf. Nein, als Schlafplatz kam diese Gegend wohl nicht infrage. Aber irgendwo musste sich doch eine Übernachtungsmöglichkeit finden lassen! Er war müde und die Füße taten ihm weh. Faruk ließ seinen Blick schweifen, bis seine Augen an einem auffälligen Gebilde hängen blieben. Keine zweihundert Meter von ihm entfernt stand ein Karussell. Seltsam, dachte er. So etwas kannte er sonst nur von Jahrmärkten. Nun ja, das war eben Paris. Kopfschüttelnd schob er die Gurte seines Rucksacks zurecht und machte sich auf den Weg. Als er bis auf wenige Meter herangekommen war, blieb er staunend stehen. Wie wunderschön es war! Faruk betrachtete das altertümlich anmutende Dach, das ihn an ein Zirkuszelt erinnerte. Eine Plane versperrte den Blick ins Innere, doch die aufwendig gearbeiteten Stufen ließen erahnen, dass es auch dort Nostalgisches zu bestaunen gab. Faruk umrundete das herrliche Spielzeug und heftete seine Augen fest auf die Plane. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo eine winzige Öffnung. Und dann würde er endlich einen Schlafplatz haben. Und was für einen! In aufgeregter Vorfreude rieb er sich die Hände und blieb wenig später abrupt stehen. Tatsächlich! Direkt vor ihm war ein kleiner Spalt zwischen den beigefarbenen Plastikbahnen zu erkennen. Er kletterte auf die unterste der rot bemalten Stufen, die sich um das Karussell zogen und berührte die Stelle vorsichtig. Und wirklich – die Plane gab dem leichten Druck nach. Faruk spähte in tiefes Schwarz. Er überlegte, ob er seine Taschenlampe aus dem Rucksack holen sollte, doch dann verwarf er die Idee. Schließlich wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. „Geduld, Geduld“, flüsterte er und starrte weiter in das stockdunkle Innere. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze und mit einem Mal konnte er erste Konturen erkennen. Sein romantisches Herz hüpfte vor Freude. Kunstvoll verzierte Pferde und üppig geschmückte Kutschen in den phantasievollsten Formen nahmen vor seinen Augen Gestalt an. Wie schön musste dies alles erst bei Tageslicht aussehen. Und während er ins Dunkel blickte, war es ihm, als sähe er die Pferdchen und Kutschen vor sich, wie sie zur Musik ihre Runden drehten. Fast konnte er das glückliche Kinderlachen hören, das sie dabei begleitete. Genug jetzt, dachte er und riss sich aus seinen Gedanken. Ich bin müde und werde mir hier nun schnellstens ein bequemes Plätzchen suchen! Entschlossen tastete er sich zwischen mehreren Reihen von hölzernen Kutschen und Pferden voran. Nein, die sahen nicht gemütlich aus.

      „Mist!“ Faruks Rucksack war an dem geschwungenen Rand einer Art Muschel hängen geblieben und er drehte sich danach um, um sich zu befreien. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr. Nanu, was war denn das? Das sah ja aus wie … Er machte ein paar vorsichtige Schritte und dann stand er direkt davor. Tatsächlich! Die Nachbildung eines Fesselballons! Der kleine Korb wurde von einem hübsch bemalten Ballon getragen, mit dem er durch dicke hölzerne Schnüre verbunden war. „Mein Nachtlager“, rief Faruk erfreut aus und machte sich an der kleinen Tür zu schaffen, um hineinzuklettern. „Verflixt, ist das dunkel hier drinnen“, fluchte er und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Korbes ab. Irgendwo in diesem Ding musste es doch ein Bänkchen oder etwas Ähnliches geben. Faruk schnaufte und machte einen Schritt nach vorne.

      Die Berührung traf ihn wie ein Stromstoß.

      „Bleib ruhig“, ermahnte er sich selbst und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, das sich plötzlich in seinem Körper ausgebreitet hatte. Er war gegen etwas gestoßen. Etwas Bewegliches, Weiches. Faruk atmete tief ein und versuchte seine Gedanken zu sortieren, die im ersten Erschrecken ordentlich durcheinander gewirbelt worden waren. „Kein Grund, in Panik zu verfallen“, beruhigte er sich leise murmelnd. „Das ist nun einmal ein begehrter Schlafplatz.“ Sein Schrecken wandelte sich erst in Enttäuschung und gleich darauf in Wut. Das durfte doch nicht wahr sein! Faruk schnaubte. „Zut alors!“ Er war wohl nicht der Einzige, der die Idee gehabt hatte, die Nacht in einem historischen Karussell zu verbringen. Es war ihm jemand zuvorgekommen. Aber so war es nun einmal, es nützte nichts und niemandem, einen Wutanfall zu bekommen. Er schielte auf die halb ausgestreckte Gestalt, deren Umrisse er mehr erahnte, als dass er sie erkennen konnte.

      „Bin schon weg, schlaf weiter“, raunte er und wollte sich gerade umdrehen, als er plötzlich innehielt. Irgendetwas störte ihn. Faruk lauschte angestrengt. Nein, da war nichts. Noch einmal horchte er in die Dunkelheit …

      Die Erkenntnis traf ihn wie ein greller Blitz. Nichts. Er hörte rein gar nichts. Kein Schnarchen, kein Murmeln, nicht einmal ein Atmen. Faruk stand wie erstarrt, während die Gedanken wild durch seinen Kopf rasten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach wegzulaufen und hatte gleichzeitig das Gefühl, keinen einzigen seiner Muskeln bewegen zu können. Es war ihm, als würde dieser Zustand völliger Lähmung eine kleine Ewigkeit dauern. Doch dann kündigte ein zartes Kribbeln in Armen und Beinen an, dass Körper und Geist bereit waren, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Faruk gingen die Worte eines Koranverses durch den Kopf und eine Weile lang konzentrierte er sich auf sein Gebet. Er musste versuchen, wieder klar und logisch zu denken. Doch was sollte er nun als Erstes tun? Du musst von hier weg, sagte er sich und dann wurde seine innere Stimme noch etwas eindringlicher. Mach schon, Mann, bloß weg hier! Faruk stolperte die Stufen des Karussells hinunter und rannte wie ein Gehetzter den Weg entlang, der zum Trocadéro hinaufführte. Seine Lungen begannen bereits pfeifende Geräusche von sich zu geben, als er so abrupt stehenblieb, dass er auf dem Untergrund aus Kies und Sand ausrutschte. In seinem linken Knie spürte er einen heftigen Schmerz. „Verflucht“, brummte er und betastete vorsichtig sein Bein. Es war lange her, dass er so schnell gerannt war und noch dazu bergauf. Faruk hielt sich die Seite, die nun zu allem Überfluss auch noch unangenehm zu stechen begann. Nein, das brachte nichts, überlegte er. Dort oben am Ende des Weges gab es vielleicht einige Restaurants, aber die hatten um diese Uhrzeit sicher alle längst geschlossen. Wo sollte er an diesem gottverlassenen Ort denn jemanden finden? Er blickte zum Eiffelturm hinüber, dessen Silhouette