Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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er bisher nur aus Kriminalfilmen oder aus den Nachrichten. Doch das ungute Gefühl, das mit jedem Schritt deutlicher wurde, hatte sich vor allem aus seiner Orientierungslosigkeit gespeist, die ihn in dieser ihm völlig unbekannten Umgebung befiel. Angst hatte er dagegen keine empfunden. An einer Kreuzung war er schließlich stehengeblieben und hatte sich umgeschaut. Schnurgerade Straßen führten zu fast identisch aussehenden Häuserzeilen. Graue Pflastersteine, die den Weg zu den Eingängen wiesen, beschmierte Betonklötze, deren zum Teil offenstehende Metalltüren den Blick auf überquellende Mülltonnen freigaben, einige Quadratmeter Grünflache. Und nirgends ein Straßenschild. Nur eine Straßenlaterne, die sich schon bedenklich in Richtung Boden neigte und an die mit einem schweren Schloss ein Fahrrad gekettet war, das nur noch aus einem verrosteten Rahmen bestand.

      „Kann ich Ihnen helfen?“

      Eine ältere Dame, die einen Einkaufstrolley hinter sich herzog, war neben Perrec stehengeblieben und hatte ihn freundlich angeschaut.

      „Sieht alles gleich aus hier, nicht wahr?“

      Sie hatte ihn angelächelt und unbeschwert drauflos geplaudert, so als würden sie beide sich bei einer Tasse Kaffee gegenübersitzen und nicht an einer unbelebten Straßenecke in einem der angeblich gefährlichsten Viertel der Pariser Banlieue stehen.

      „Sie sehen mir nicht aus, als würden Sie hier öfter verkehren“, hatte sie festgestellt und sich mit der freien Hand die Nase gekratzt. „Bestimmt kommen Sie aus Paris, nicht wahr? Nun ja, da haben wir es hier nicht ganz so schön.“ Mit einer vagen Geste hatte sie auf die Straße hinter ihr gewiesen und ein meckerndes Lachen ausgestoßen. „Das hier sind nicht gerade die Champs-Elysées.“

      „Eigentlich komme ich aus der Bretagne“, hatte Perrec sich auf das Gespräch eingelassen. „Ich bin noch nicht lange in Paris und Sie haben recht, hier in Trappes war ich noch nie. Und da Sie mich so freundlich gefragt haben: Ja, ich suche tatsächlich eine bestimmte Adresse. Kennen Sie die Rue …", er zögerte und kramte einen Zettel aus seiner Jackentasche. Kaum hatte er ihn entfaltet, beugte sich die Frau auch schon darüber und zwinkerte angestrengt, während sie las.

      „Ah, Monsieur, Sie haben Glück, da haben Sie es nicht mehr weit. Nur noch ein Stück diese Straße hinunter und dann die nächste rechts.“

      Perrecs Blick war ihrem ausgestreckten Arm gefolgt. Mit dem Zeigefinger hatte sie auf einen Punkt in etwa 50 Metern gedeutet.

      „Merci Madame, merci beaucoup für Ihre Hilfe.“

      „Aber gerne, aber gerne“, hatte sie erwidert und ihm noch einmal lächelnd zugenickt. Mit einem dankbaren Schmunzeln hatte Perrec ihr nachgeschaut, als sie mit energischen kleinen Schritten den holprigen Bürgersteig entlanglief und ihr bunter, rollender Einkaufskorb dabei kleine Hüpfer vollführte.

      Kurz darauf hatte der Inspektor die Adresse schließlich gefunden und bei den direkten Nachbarn von Michel Souliac mit der Befragung begonnen.

      Und nun, mehr als zwei Stunden später, hockte er in einem Vorortzug und brachte kaum drei vollständige Sätze zu Papier. Er las das Wenige, das er bereits geschrieben hatte erneut und setzte hinzu: Befragung der anwesenden Personen im Haus Nr. 116 ergab kaum Hinweise auf den Toten. Laut der Nachbarn ein Einzelgänger, der außer von einer etwa dreißigjährigen Person – er notierte rasch die Personenbeschreibung, die Souliacs direkte Nachbarin, Mademoiselle Hérault, ihm gegeben hatte – niemals Besuch bekam. Dann rief er sich das Gespräch mit der jungen Frau ins Gedächtnis zurück. Er hatte den Schrecken auf ihrem Gesicht gesehen, als er sie über den Grund für sein Kommen unterrichtet hatte. Doch sie hatte sich erstaunlich schnell gefangen und während der folgenden Unterhaltung betont lässig gewirkt. Zu lässig, wie Perrec nicht ohne Interesse registriert hatte.

      „Das muss mindestens schon ein Vierteljahr her sein, dass ich ihn gesehen habe“, hatte sie sich zu erinnern versucht und dabei scheinbar gedankenverloren an einem Fleck auf ihrem T-Shirt gerieben, den der Inspektor für eingetrockneten Ketchup hielt. Er habe sich überhaupt nur sehr selten in der Wohnung aufgehalten, hatte sie eine Spur zu bereitwillig erzählt und mit einem fast entschuldigenden Lächeln hinzugefügt: „Was mir sehr recht war, so ist es einfach ruhiger. Im Haus ist schon genug Lärm.“

      Wie auf Kommando war daraufhin in einem der Zimmer, die hinter der jungen Frau im Halbdunkel ihrer Wohnung lagen, die Tür aufgeflogen und mit einem dumpfen Schlag gegen eine der Wände gekracht. Begleitet von ohrenbetäubendem Geschrei war die Silhouette eines Kindes über den engen Flur gejagt und in einem weiteren Zimmer verschwunden. Die Puppe, die es hinter sich herzog – ein schlabberiges Etwas mit wild abstehenden Haaren aus gelber Wolle und unnatürlich langen Gliedmaßen – blieb in der Tür hängen und so dauerte es einen Moment, bis letztere mit lautem Knall ins Schloss gefallen war. Suzanne Hérault hatte genervt die Augen verdreht, aber Perrec hatte dennoch das nervöse Flattern ihres Blickes bemerkt. Als keine Sekunde später, mitten in die plötzlich eingetretene Stille, der Türschlüssel von der Erschütterung wie in Zeitlupe aus dem Schloss geglitten und mit einem scheppernden Geräusch auf dem Fliesenboden aufgeschlagen war, hatte Perrec sich fast in eine Szene aus einem Slapstick-Sketch versetzt gefühlt. Doch die leise Spannung, die von seinem Gegenüber ausging, war dennoch deutlich spürbar gewesen.

      Er notierte die Essenz des Gespräches und ließ dann den Stift sinken. Die junge Frau hatte zu vehement den Eindruck erwecken wollen, dass sie ihren Nachbarn kaum gekannt hatte.

      Der Inspektor versuchte, es sich in seinem Sitz ein wenig bequemer zu machen und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Der Zug verlor an Geschwindigkeit und der junge Inspektor erkannte die blauen Bahnhofsschilder von Meudon. Jetzt war es nicht mehr weit, er musste sich beeilen, wenn er seine Aufzeichnungen noch im Zug abschließen wollte. Menschen stiegen aus, andere ein, und aus den Augenwinkeln nahm Perrec etwas Rotes wahr. Während sein Bleistift über das Papier kratzte, erinnerte er sich an das Gespräch mit Monsieur Laguerre.

      „Ja, ganz recht, Laguerre, Monsieur l´Inspecteur, wie der Krieg“, hatte der Alte gepoltert, nachdem Perrec sich ihm vorgestellt hatte. Genau wie die Nachbarin zuvor, hatte auch er den Polizisten nicht hereingebeten und der hatte nicht darauf bestanden. Bereits nach den ersten Sätzen hatte er festgestellt, dass der dreiundachtzigjährige ehemalige Malermeister nicht mehr besonders gut hörte und am liebsten mit seinen Kopfhörern Radiosendungen aus aller Welt lauschte. Hier war nicht viel zu erwarten gewesen. Auch er hatte seinen Nachbarn schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Doch diese Aussage war nicht wirklich etwas wert, denn Monsieur Laguerre verließ kaum noch seine vier Wände. Seine Enkelin, so hatte er ihm berichtet, versorgte ihn mit Lebensmitteln und kochte ab und an für ihn. Perrec ließ sich die Adresse der jungen Frau geben und verabschiedete sich. Als er in dem nur spärlich erhellten Flur fast schon die Treppe erreicht hatte, war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschwirrt. Doch er war so diffus, dass er mit ihm nichts anfangen konnte.

      Kein nennenswerter, geradezu nicht existenter Kontakt zu den Nachbarn, notierte Perrec in sein Notizbuch und klappte es zu. Nicht ungewöhnlich für einen solch anonymen Wohnblock, dachte er, aber dennoch störte ihn etwas. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

      Ein plötzlicher Schmerz riss den Inspektor aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. „Pardon.“ Die junge Frau in einem knallroten Trägerkleid, die vorhin neben ihm Platz genommen hatte und ihm nun gerade auf den Fuß trat, machte sich nicht einmal die Mühe, ihn während ihrer genuschelten Entschuldigung anzusehen. Mit beiden Händen zog sie am Griff des Klappfensters bis es endlich nachgab. „Verdammte Hitze hier drin“, fluchte sie und ließ sich wieder in ihren Sitz fallen.

      Perrec war sich nicht sicher, ob sich das, was da im Innern seiner Kehle emporzusteigen versuchte, zu einem brüllenden Lachen oder einem Hustenanfall auswachsen würde. Beides galt es unbedingt zu vermeiden. Er presste die Handflächen aneinander und versuchte, sich zu konzentrieren. Bilder der bretonischen Küste tauchten vor seinem inneren Auge auf und er spürte, wie er sich beruhigte. Und noch etwas anderes spürte er. Heimweh.

      Trappes en Yvelines, 30 Kilometer von Paris

      „Monsieur Laguerre!“

      Die Faust der jungen Frau schlug hart an die schäbige