Sophie Lamé

Ein Gedicht zum Todestag


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Der Leutnant war nicht die hellste Kerze auf der Torte. So würde es zumindest meine kleine Schwester ausdrücken, dachte Perrec und unterdrückte ein Schmunzeln. Ein von sich selbst überzeugter Egozentriker voller Vorurteile. Er warf Nathalie einen Blick zu und erkannte in ihrem Gesicht, dass ihre Gedanken sich wohl in einer ganz ähnlichen Richtung bewegten wie seine eigenen. Doch anstatt etwas zu sagen, schob sie sich ein Karamellbonbon in den Mund. Seine Chefin saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und Perrec schickte einen stummen Rat an seinen Kollegen: Noch so ein Spruch und du kassierst eine ordentliche Ansage. Er war sich sicher, dass der rhetorisch versierten Victoire de Belfort nur ein paar wenige, gezielt platzierte Worte ausreichen würden, um Malbert für eine Weile zum Schweigen zu bringen. Doch es würde nicht lange vorhalten, das war ebenso sicher. In diesem Moment setzte die Kommissarin ihren Bericht fort, und Loïc Perrec konzentrierte sich auf ihre Ausführungen.

      „Monsieur Ghoul“, sagte sie und sah ihren Leutnant dabei scharf an, „ist ein ausgezeichneter Beobachter und hat sehr genau beschreiben können, was er in dieser Nacht und vor allem am Tatort wahrgenommen hat. Dennoch bringt uns seine Aussage nicht weiter, denn er hat nichts Verdächtiges bemerkt. Und er selbst ist sicher nicht der Täter. Er hat ein Alibi. Wir haben unsere Streifen befragt, und einer der Beamten hat sich an einen SDF, also an einen Obdachlosen, mit rosa Isomatte erinnert, den er zur Tatzeit auf dem Pont Neuf hat sitzen sehen. Auch der Mann, von dessen Handy aus wir benachrichtigt wurden, ist ein absolut unbescholtener Bürger.“

      „Mal abgesehen davon, dass er sich mitten in der Nacht an einem der bekanntesten Schwulentreffs der Stadt herumtreibt“, warf Malbert ein.

      Die Kommissarin beschloss, ihn zu ignorieren.

      „Es gibt noch ein paar weitere Personen, die sich in der Nähe der öffentlichen Toiletten aufgehalten haben.“

      Sie schaute in die Runde. „Aber alle sauber. Wir haben noch am Tatort Proben für DNA-Tests und Fingerabdrücke genommen. Negativ.“

      „Womit haben wir sie denn abgleichen können?“, warf Malbert ein und bückte sich nach seinem Kugelschreiber, der ihm aus den Fingern geglitten und unter den Besprechungstisch gefallen war.

      „Ich wollte gerade die Details aus dem Bericht der Spurensicherung vortragen“, antwortete de Belfort und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Malbert bei dem Versuch, sich wieder aufzurichten, mit dem Hinterkopf an die Tischplatte schlug.

      „Wir haben bei dem Toten Haare und Fasern gefunden, die definitiv nicht von ihm selbst stammen. Außerdem hatte er Hautpartikel unter den Fingernägeln.“

      „Dann hat er entweder dem anderen Schläger eine ordentliche Kratzspur hinterlassen oder seinem Mörder“, warf Nathalie ein.

      „So ist es“, de Belfort nickte. „Und ich glaube übrigens auch, dass wir es hier mit zwei voneinander unabhängigen Tatsachen zu tun haben. Die Schlägerei auf der einen Seite und der Mord auf der anderen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass beides in direktem Zusammenhang steht.“ Sie seufzte. „Aber um es ganz ausschließen zu können, brauchen wir noch mehr Fakten. Wir haben noch eine Menge zu tun!“

      „Aber immerhin haben wir etwas, das die Täter-DNA sein könnte“, warf Perrec ein. „Haare und Hautpartikel, das ist doch für den Anfang gar nicht mal so schlecht.“

      „Besonders vorsichtig war unser Mörder ja nicht gerade“, sagte Nathalie.

      „Vielleicht kein Profi“, überlegte der Inspektor laut und verstummte gleich darauf, da de Belfort sich anschickte, weiterzusprechen.

      „Die Durchsuchung der Wohnung des Toten hat auch nichts ergeben. Kaum möbliert und peinlich sauber. Michel Souliac scheint ein wahrer Putzfanatiker gewesen zu sein. Auf den ersten Blick keinerlei besondere Hinweise, die Kollegen von der IT checken gerade seine Computerdateien. Tja“, die Kommissarin stieß einen Schwall Luft aus, „das war‘s von mir. Jetzt Sie, Malbert, bevor Sie noch platzen. Wir sind ganz Ohr.“

      „Ich habe den ganzen Tag am Telefon zugebracht und meine Leute ein bisschen ausgequetscht“, begann er und sein Blick bekam einen Beifall heischenden Ausdruck. „Ihr werdet staunen, was ich aufgetan habe.“

      In aller Ruhe durchwühlte er die Mappen und Dokumente, die auf dem Tisch verteilt waren.

      „Wo ist denn …? Ach, da haben wir es.“ Sébastien Malbert räusperte sich und fasste die Ergebnisse seiner Recherchen zusammen.

      „Michel Souliac, Franzose, 24 Jahre alt. Soviel hat uns bereits seine Carte d‘Identité verraten. Ich habe unsere Datenbank nach ihm befragt und zunächst kam nicht allzu viel Spannendes zu Tage. Er ist in Trappes, wo er aktuell auch gewohnt hat, geboren und aufgewachsen. Im Alter von sechs Jahren kommen seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben und man findet eine Pflegefamilie für das Kind. Lange ging das aber nicht gut, offenbar gab es Probleme zwischen ihm und seinem Ziehvater. Als Achtjähriger ist er von einem Kinderheim zum anderen weitergereicht worden und schließlich mit 15 aus einem Jugendhaus abgehauen. Immerhin hat er bis dahin einigermaßen regelmäßig die Schule besucht und bis zum Alter von etwa 21 Jahren diverse Aushilfsjobs gemacht.“

      „Und dann?“, fragte de Belfort dazwischen und hob den Kopf. Bisher klang das alles auf tragische Weise vertraut. Ein geradezu klassisches Muster. Traurig, hoffnungslos, grausam und doch so verbreitet. Und obwohl dieser Michel wenigstens ein kleines bisschen Schulbildung genossen hatte, erwartete sie auch in seiner Geschichte keine Wunder. Malbert bestätigte ihre Befürchtungen.

      „Kleinstkriminalität“, sagte er und schaute fast geringschätzend drein. „Er hat gestohlen, was ihm in die Finger kam. Ob in Lebensmittelmärkten, Elektronikgeschäften, sogar in einer Apotheke hat er was mitgehen lassen. Eine Packung Kondome“, Malbert grinste. „Wir haben es hier wohl mit einem Kleptomanen zu tun. Er war nie im Knast, dafür waren die Diebstähle immer zu geringfügig. Der Wert des Diebesgutes war nie wirklich hoch und was die Lebensmittel betraf, so fiel das meiste in die Rubrik Mundraub. Typischer Einzeltäter, der quasi nur für den Eigenbedarf klaut.“

      Er machte eine Pause und schaute triumphierend in die Runde. De Belfort lächelte auffordernd.

      „Kommen Sie schon, Malbert, Sie haben doch noch mehr zu berichten. Und wie ich Sie kenne – das Interessanteste zum Schluss.“

      Sébastien Malbert richtete sich in seinem Stuhl auf und fuhr sich mit einer arrogant wirkenden Geste durch die schwarzglänzenden Haare. „Allerdings“, fuhr er fort, „allerdings. Und auch das steht in keiner Akte, weil er sich nie hat erwischen lassen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass meine Informationen richtig sind.“ Leutnant Malbert lächelte zufrieden. „Meine Vögelchen haben mir gezwitschert, dass der Gute vor etwa zwei Jahren richtig groß eingestiegen ist. Organisiertes Verbrechen.“

      Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und er schaute mit derart dramatischem Blick in die Runde, dass Nathalie genervt auf ihrem Bonbon herumbiss.

      Perrec nahm die Schauspielkunst seines Kollegen kaum wahr. Ihr Mordopfer war ein Krimineller? Noch dazu einer, der allem Anschein nach so intelligent war, dass nicht einmal die Polizei über seine Aktivitäten Bescheid wusste. Schnell machte er sich eine Notiz an den Rand des Dossiers, das er vor sich ausgebreitet hatte und konzentrierte sich weiter auf die Ausführungen seines Kollegen. Besonders sympathisch war Malbert nicht, aber eines musste man ihm lassen, er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Der Kollege räusperte sich.

      „Außergewöhnlich an der Sache ist, dass Michel Souliac quasi als Dienstleister für kriminelle Banden gearbeitet hat. Er war der Kopf, der Denker und Organisator. Und wenn alles gelaufen war, hat er Prozente bekommen. Selbst geklaut hat er wohl auch noch, aber eher selten.“ Malbert kratzte sich an der Nase. „Was seine Aufträge betrifft, war er nicht wählerisch. Autoschieberei, Wohnungseinbrüche im großen Stil, Erpressung und sogar von Zuhälterei war schon die Rede.“

      „Prostitution?“ Nathalie schnappte hörbar nach Luft. „Na wunderbar! Ich muss sagen, der Kerl scheint es wirklich verdient zu haben.“ Sie fing strengen Blick auf ihrer Chefin. „Ich meinte ja nur weil, … Entschuldigung.“

      „Schon gut, Nathalie“, de Belfort massierte