Oliver Uhrig

Mythos Kaschmir


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Menschseins und der göttlichen Bestimmung tiefer auf den Grund gehen wollten, als es die zeitgenössischen Schriften taten. Konfrontiert mit der Machtgier, dem Prunk und der Korrumpierbarkeit der jeweiligen Herrscher einerseits sowie der Armut und Hilflosigkeit der einfachen Menschen andererseits, suchten diese Mystiker nach Erklärungen für den jeweiligen Status Quo. Sie überschritten bestehende religiöse und gesellschaftliche Grenzen, um Missstände aufzuzeigen. Sie wählten poetische und prosaische Formen, um die Herzen der Menschen zu erreichen. Sie schufen eine Tradition, die Gott nicht als unerreichbares Phänomen im Himmel betrachtet, sondern vielmehr als äußerst lebendigen und aktiven Aspekt menschlichen Daseins. Durch die tatsächliche Präsenz Gottes in jedem Menschen wurde der Mensch selbst quasi göttlich.

      Es muss für die Meister des Glaubens mit dieser Überzeugung ein kaum erträglicher Schmerz gewesen sein, ihre Umwelt voller Gewalt, Hunger und Korruption wahrzunehmen, aber es existierte ja eine Möglichkeit, diesem Pfad zu entrinnen. Die Bedingung hierfür lag nach Meinung der Rishis, Babas und Pirs in bedingungsloser Hingabe zu Gott und seinen Geboten. Nicht materielle Werte sollten den Menschen zum Handeln anleiten, sondern vielmehr das Versprechen der spirituellen Einheit mit Gott. Nicht die Macht der Armeen sollte die Herrscher auszeichnen, sondern ihre Pietät und Gerechtigkeit gegenüber Jedermann. Waren es bis zur Durchsetzung des Islam in Kaschmir ab dem 14. Jahrhundert n. Chr. hauptsächlich hinduistische Sadhus und buddhistische Mönche gewesen, die den Pfad der Entsagung und der Askese für sich und ihr Seelenheil gewählt hatten, so existierten etwa ab dem 15. Jahrhundert n. Chr. zeitweise Mystiker beider großen Religionen zeitgleich neben- und miteinander. Tatsächlich war der Prozess der „Islamisierung“ Kaschmirs (nicht nur des Tals) ein schleichender. Bereits ab dem 8. Jahrhundert nahmen die ersten Muslime zunehmend wichtige Stellen in der Militärhierarchie des Landes ein. Um 1320 n. Chr. konvertierte der buddhistische Herrscher Rinchana Sadr-ut-Din zum Islam. Schließlich erreichte Mir Sayyid Ali Hamadani (Shah-i-Hamadan) um 1384 das Kaschmir-Tal und sorgte mit seinen Anhängern für eine flächendeckende Durchsetzung islamischer Werte (vgl. Wani 2005). Obwohl unterschiedlichen Glaubens, blickten die Mystiker auf eine gemeinsame volksreligiöse Tradition im Kaschmir-Tal zurück, die sie selbst in ihrem Denken und Streben beeinflusst hatte. Vielleicht war es kein Wunder, dass der Sufismus im Kaschmir-Tal eine solch starke Stellung einnehmen konnte wie in kaum einer anderen Region Südasiens. So besitzt wohl die Mehrheit der Bevölkerung eine persönliche Verbindung zum Mystizismus: Entweder durch einen Pir, einen persönlichen spirituellen Lehrer, oder durch eine religiöse Bindung an einen der zahlreichen Schreine, die mit berühmten Sufi-Meistern assoziiert werden.

      _MG_5212_0_1a Foto: Schrein des Shah-i-Hamadan

      Für Mohammed Sultan Baba haben seine religiösen Überzeugungen Konsequenzen in der Lebensgestaltung. Da Gott für ihn überall und immer erreichbar ist, besucht er nur gelegentlich die lokale Moschee. Beten könne er schließlich überall, so der fromme, aber unkonventionelle Mann. Stattdessen ist er bemüht, so oft es geht, seinen „Godfather“ - seinen Pir - zu sehen, um religiöse Fragen zu diskutieren. In seinem Haus befindet sich ein Gästezimmer, das für Verwandte und Mitglieder seiner Bruderschaft gleichermaßen reserviert ist. Damit sich seine Gäste nicht so einsam fühlen, übernachtet Mohammed Sultan selbst im Bedarfsfall in jenem Raum. Mitunter wird bei diesen Anlässen gemeinsam gesungen und gebetet. Während sich das religiöse Leben Mohammed Sultans fast ausschließlich in seinem privaten Umfeld abspielt, besucht seine Frau Gulshen regelmäßig die Schreine Hazratbal, Makhdoom Sahib und Dastagir Sahib, um zu beten und um Beistand zu bitten. Sie ist die religiöse Spezialistin der Familie Baba, die sämtliche Festtage und Rituale in- und auswendig kennt. Von ihren Ausflügen bringt sie jedes Mal kleine Portionen „heiliger“ Speisen mit, die sie an die Nachbarn und ihre eigene Familie verteilt. Das kann zum Beispiel Halwa sein oder Reis, der von anderen Gläubigen an den Schreinen verteilt wurde.

      hairshowa Foto: Eine Reliquie des Propheten Mohammed (pbuh) wird den Gläubigen gezeigt.

      Der heilige Ort, an dem dies geschieht, macht die Gaben zu rituell „reiner“ Nahrung. Manchmal trägt auch sie entsprechende Spenden an den Schrein ihres jeweiligen Besuchs. Auf diese Weise entsteht ein gewisser Kreislauf des Gebens und Nehmens unter den Gläubigen, der alt und jung, arm und reich gleichermaßen einschließt. Eine verbindliche Zuwendung zu den Mitmenschen hier und jetzt, und eine, die als Zakat im Islam ohnehin vorgeschrieben ist. Zakat ist ein kleiner Prozentsatz des Einkommens, der für Bedürftige oder wohltätige Zwecke zur Verfügung gestellt wird. Mitunter wird Zakat auch als „Armensteuer“ bezeichnet, was den Sachverhalt jedoch nur unzureichend charakterisiert. Da die Grundhaltung der Familie Baba die Liebe zu Gott und den Menschen ist, bedrücken sie auch die gewaltsamen Vorgänge in Kaschmir über alle Maßen. Religion und Glauben zum Ausgangspunkt von Tod und Unterdrückung zu erklären, erfüllt die Familie mit Unverständnis. Dabei stehen die Babas selbstverständlich nicht außerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Auch sie sind von Gewalt bedroht, wenn sie beispielsweise in die Stadt gehen, um Besorgungen zu erledigen, oder wenn die indische Armee wieder einmal eine Haus zu Haus Durchsuchung durchführt. Auch sie erleben staatliche Ungerechtigkeiten mit und machen sich ihre politischen Gedanken, wie man alles besser gestalten könnte. Im Gegensatz zu fundamentalistischen Glaubensbrüdern und -Schwestern setzen Mohammed Sultan und die Seinen jedoch auf gesellschaftlichen Dialog und göttlichen Beistand. Menschen müssen einander mit Worten überzeugen, nicht töten, so ihre Maxime. Sie leben in der Tradition Nunda Rishis, der bereits vor mehr als 500 Jahren erkannte:

       „Es gibt keinen Gott außer Gott. Als ich in der Lage war, mich selbst zu erkennen, erkannte ich Gott. Verlust und Gewinn wurden identisch für mich, und die Unterscheidung zwischen Leben und Tod verschwand.“

      2.2. Zain-ul-Abidin

      Mann des Glaubens, Mann der Kunst

      Als Shahi Khan, genannt Zain-ul-Abidin, aus der Shah Mir-Dynastie im Jahre 1417 n. Chr. den Thron in Kaschmir bestieg, folgte er seinem grausamen Vater Sultan Sikander. Hatte sich Sikander noch gebrüstet, dass er den „Hinduismus im Tal ausgelöscht“ habe, so beschritt sein Sohn Zain-ul-Abidin den entgegengesetzten Weg. Er ermutigte die zwangskonvertierten und vertriebenen Hindus zur Rückkehr nach Kaschmir, schaffte die Zwangssteuern für sie ab und erließ ein allgemeines Verbot der Rinderschlachtung. Daneben zeigte er sich als Mann des Handwerks und der Kunst. Ihm werden einige der wichtigsten Kulturgüter Kaschmirs zugeschrieben: die Kunst des Pashmina-Stickens, die Teppichknüpferei und die Lackboxen-Herstellung. Dies alles machte ihn im kollektiven Gedächtnis vieler Kaschmiris zum Budshah, zum großen König, dessen Toleranz und Kreativität auch heute in Kaschmir noch sprichwörtlich sind.

      abidin_01 Foto: Grabmal der Mutter Zain-ul-Abidins.

      Die Regierungszeit seines Vaters war von der Verfolgung Andersgläubiger sowie der Zerstörung ihrer Tempel geprägt. Gleichzeitig war dieser bemüht, sich durch den Bau von Moscheen, wie der prachtvollen Freitagsmoschee in Srinagar, unsterblich zu machen. Hatten unter seiner Herrschaft benachbarte Länder wie Tibet noch um ihre Existenz fürchten müssen, so setzte Zain-ul-Abidin auf diplomatische und freundschaftliche Beziehungen, was freilich durch eine starke Armee unterstützt wurde. Er entsandte Botschafter bis nach Aserbaidschan, in die Türkei und Ägypten und bemühte sich als Staatsmann um politisches Gleichgewicht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass er ausschließlich mit weicher Hand regierte hätte oder dass er ein Friedensaktivist gewesen wäre. Was aus heutiger Sicht jedoch selbstverständlich scheint - gelebte Toleranz und Weltoffenheit -, muss für die damalige Zeit geradezu revolutionär gewesen sein. Dennoch wurden Gesetzesverstöße unter seiner Herrschaft ebenso hart bestraft wie unter der anderer Regenten. Allerdings hatte Zain-ul-Abidin bereits zu Beginn seiner Amtszeit die bis dahin bestehenden Gesetze und Verordnungen einer gründlichen Revision unterzogen. Die von nun an gültigen Regeln wurden in Kupferplatten eingraviert und sowohl auf öffentlichen Plätzen wie in Gerichtsgebäuden zur Schau gestellt (vgl. Dhar 1999, S. 60). Es sollte niemand sagen, er habe die Gesetze nicht gekannt.