Heide Fritsche

Die Schandmauer


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       Die fünfziger Jahre

      Anfang der sechziger Jahre war der Kalte Krieg auf dem kältesten Tiefpunkt angelangt. In Berlin war der Kalte Krieg noch kälter, er lag unterm Gefrierpunkt. Berlin unterlag dem Viermächteabkommen. Diese Viermächte waren die Russen, die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen. Laut Abkommen bestimmten ein Kontrollrat dieser vier Mächte, was man in Berlin tun durfte und was nicht. Aber so einfach war das nun auch nicht, denn die Russen glaubten, sie hätten prinzipiell mehr zu sagen als die Amerikaner, die Engländer und Franzosen zusammen. Die Amerikaner scherten sich einen Teufel darum, was die Russen meinten. Die Engländer richteten sich nach dem, was die Amerikaner ihnen sagten. Die Franzosen existierten nur, wenn man ihre Unterschrift für ein Memorandum brauchte.

      Deutschland gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Dafür hatte man eine Ostzone und eine Westzone erfunden. Die Ostzone war die Sowjetzone. Sie wurde auch die Deutsche Demokratische Republik genannt. Was hier „Deutsch“ war, was „demokratisch“ genannt wurde und wie eine „Republik“ aussah, bestimmte Moskau. In dieser von den Russen okkupierten Zone war der Krieg noch lange nicht zu Ende, denn noch immer diktierten Lebensmittelknappheit, Materialknappheit, Stromausfall und Zensur den Alltag der Menschen. Statt Gestapo herrschte jetzt in der Ostzone der Staatssicherheitsdienst. Im Volksmund wurde er Stasi genannt.

      Aus den okkupierten Gebieten der Amerikaner, Engländer und Franzosen entwickelte sich langsam eine Bundesrepublik. Das wurde der Westen genannt. Der Westen war Wirtschaftswunder, Neonreklame und Wohlstandsspeck. Der Osten war grau und verarmt und von den Russen total ausgeplündert.

      Diese Koexistenz der stärksten Militärmächte der Welt, die auf den Raum einer Großstadt zusammen gepresst waren, musste notgedrungen zu Konfrontationen führen. Diese Konfrontationen wurden verbal ausgetragen. Darum nannte man diese Kriegsführung den „Kalten Krieg“. Im Kalten Krieg operierte man mit verbalen Kanonaden und Schlagwörtern. Ost wurde gegen West ausgespielt. Die Welt zerfiel in Nord und Süd und in Arm und Reich. Schuld daran war der Kommunismus, schrie die eine Seite. Schuld daran war der Kapitalismus, schrie die andere Seite. Propaganda, Desinformationen und Diplomatie wurden auf dem tiefsten intellektuellen Niveau geführt. Man griff den Gegnern mit diplomatischen Witzen und Kalauern an.

      Ansonsten gehrte es überall auf der Welt. Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, da begannen schon unzählige neue Kriege. Erst wurde Korea rot. Das musste verhindert werden. Dann ließen sich die Vereinten Staaten auf das Vietnam-Abenteuer ein, weil auch hier der Virus des Kommunismus die Gehirne zerfraß. Lateinamerika, Kuba und China revoltierten und revolutionierten aus dem gleichen Grund. Afrika versank in Korruption und Terrorismus. Daran ist der Westen Schuld, sagte Russland. Daran ist die Sowjetunion Schuld, sagte der Westen. Je kälter der Krieg in Berlin wurde, umso heißer wurde er in der restlichen Welt geführt.

      Neben dem Radio tauchte der Fernseher in der guten Stube auf. Krieg, Mord, Totschlag und alle Katastrophen der Welt wurden ein Teil des täglichen Lebens. Man goutierte das beim Mittagsessen und als Beruhigungspille vorm Schlafengehen. Alltag war das, was man jeden Tag vor der Nase hatte. Was man jeden Tag vor der Nase hatte, waren Lügen, dumme Witze, idiotische Anschuldigungen, Korruptionen und die Kriege der Großen. Das war die Normalität des Normalen. Das war die Beste aller Welten. Die Beste aller Welten wurde zum Supermarkt, wo jeder lernte, selektiv zu leben. Man fischte sich das aus dem Angebot heraus, was einem am besten schmeckte, was einem gerade in den Kram passte und was vom Geldbeutel akzeptiert wurde. So wurschtelte sich jeder durch.

      Besonders die Berliner entwickelten einen eigenen Pragmatismus. Man lebte den Umständen entsprechend. Man nahm die Dinge wie sie kamen. Die Berliner hatten zwei Weltkriege erlebt. Sie waren Zeugen der Morde, Überfälle und Kämpfe der Weimarer Republik. Sie ließen zwölf Jahre Hitlerdiktatur über sich ergehen. Die totale Zerstörung von Berlin von dem englischen Flächenbomberdement wurde phlegmatisch hingenommen. Berlin wurde von den Russen zur Plünderung freigegeben. In der Geschichte der Neuzeit gibt es kein Beispiel über ein derartiges barbarisches und viehisches Verbrechen an einer Großstadt. Damit prahlen die Russen. Die Frauen wurden zu Tode vergewaltigt. Keine Frau bekam dafür den Friedens-Nobelpreis. Die gesamte männliche Bevölkerung Berlins wurde nach Sibirien verschleppt. Niemand spricht darüber.

      Diese Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts haben in Berlin Spuren hinterlassen. Sie kreierten den speziellen Berliner Charakter. Man ließ die Großen die Großen sein. Hinter ihren großen Worten kam auch nur der kleine Schmutz zum Vorschein, wie sie Habgier und Größenwahn hervorbringen. Der kleine Mann auf den Straßen von Berlin war in seiner Gelassenheit immer noch grösser als alle großen Worte der Großen dieser Welt.

       Irene, Lilly, Susanne und Rita

      Es war Samstag, der 6. April 1960. In der Wohnung bei Schwitters in der Reichenberger Straße in Berlin waren vier Mädchen und zehn Jungen versammelt. Sie tranken, randalierten, sangen, diskutierten, lärmten und aßen, alles durcheinander und ohne Zusammenhang. Jeder sprach mit jedem. Alle sprachen gleichzeitig. Niemand hörte zu.

      „Scotsch-Whisky! Ich nem Scotsch-Whisky. Wie habt ihr nich? Wieso habt ihr nich? Gibt’s doch gar nicht. Na hör mal.“

       „Scotsch-Whisky? Nix für mich. Mir hat der Arzt alles verboten. Ich darf keine Wurst essen, keine Butter und keinen Zucker. Ich darf keinen Wein trinken. Aber Wodka, davon hat er nicht gesprochen. Wie? Ihr habt auch keinen Wodka? Ist doch die Höhe!“

      „Mensch treib Sport.“ Walter boxt seinem Nachbarn in die Seite: „Warum treibst du keinen Sport?“

      Irene war auf die Idee gekommen, auf der Straße ein paar Jungen anzureden und einzuladen, einfach so. Man musste die Feste feiern, wie sie fallen. Die Eltern waren unterwegs, mal wieder, wie jedes Wochenende. Die Mädchen konnten tun und lassen, was sie wollten. Irene nahm Rita mit. Rita war Irenes Stiefschwester.

      Auf der Straße sprachen sie wildfremde Männer an. Irene konnte das ganz locker, so nebenbei, kühl und überlegen. Sie machte auf intellektuell. Das zog immer. Rita bewunderte Irene. Sie wollte gerne wie sie sein, konnte aber nicht. Sie hatte nicht den Schmiss, nicht das Aussehen und nicht dieses gewisse Etwas wie Irene. Die Männer flogen auf Irene. An einem Abend zehn fremde Männer einzuladen, war für Irene ein Kinderspiel.

      Rita wurde auf der Flucht geboren. Im Januar 1945 floh die Familie vor den Russen aus Schlesien. Die Familie hatte seit undenklichen Zeiten in Schlesien gewohnt. Früher war man einmal österreichisch gewesen. Seit dreihundert Jahren war man preußisch. Aber das spielte keine Rolle, ob man Österreicher oder Preuße war, das Leben ging weiter. Als jedoch die Russen kamen veränderte sich dieses „Laissez-faire“. Alles, was deutsch war, wurde umgebracht. Das geschah methodisch. Das war in Teheran, Jalta und Potsdam geplant worden. Wer sein Leben retten wollte, musste fliehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ritas Mutter starb nach der Geburt. Rita überlebte. Das Dorf hatte sich geschlossen auf die Flucht gemacht. Alle haben sich gegenseitig geholfen. Eine Nachbarin von Ritas Mutter hatte auch ein neugeborenes Kind. Sie konnte Rita die Brust geben. So überlebte Rita.

      Aber Rita wurde während der Flucht auf der Landstraße geboren. Es gab keinen Arzt und keine Hebamme, der bei der Geburt hätte helfen können. Es gab keine Desinfektionsmittel. Auf den hartgefrorenen Wegen vom Januar, Februar und März 1945 gab es auch keine Waschgelegenheit. Durch die primitiven Umstände ihrer Geburt wurde Rita das Rückgrat deformiert.

      Rita wollte gerne so extrovertiert agierend wie Irene sein, konnte aber nicht. Ihre körperlichen Probleme belasten sie und behinderten sie überall. Sie war fleißig und liebenswürdig und konnte keiner Fliege was zuleide tun. Aber ihre Zeugnisse lagen unter dem Klassendurchschnitt. Ist die Intelligenz genetisch bedingt oder wird sie durch die Umstände gefördert? Darüber streiten sich die Gelehrten. Aber die Entwicklung von Irene, Lilly, Susanne und Rita sprach eine eindeutige Sprache. Alle vier waren von Krieg, Nachkriegszeit und psychotischen Eltern beschädigt und belastet. Keines der Mädchen war vom Schicksal besonders privilegiert behandelt worden. Aber ihre Lebenswege waren sehr verschieden.