Heide Fritsche

Die Schandmauer


Скачать книгу

Zimmertür war noch immer verschlossen. Lilly wagte kaum, sich zu bewegen. Sie wollte nicht die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ihre Person lenken. Aber ihr Schweigen half ihr auch diesmal nichts. Susanne und Rita nahmen ihre wichtigsten Sachen und verließen das Haus. Frau Schwitters kontrollierte jeden Gegenstand, den sie einpackten. Dann erinnerte sie sich an Lilly: „Wo ist Lilly? Wo ist diese Hure? Auch noch immer draußen auf dem Strich?“

      Frau Schwitters rüttelte an Lillys Zimmertür: „Aufmachen! Wird’s bald! Ich schlage die Tür ein. Ich hole die Polizei. Ich schlage dich in Stücke, wenn ich dich erwische.“

      Lilly schmiss den Pappkoffer mit den Büchern und Kleidern aus dem Fenster, dann stieg sie hinterher. Ihre Sachen konnte sie am Bahnhof Zoo einschließen. Vielleicht konnte sie bei einer Freundin unterkommen. Das Leben ging weiter, auch ohne Familie.

       Der Flüchtling

      Es war Samstag, der 13. April 1960. Alfred Weichelt ging von Tür zu Tür. Irgendwo musste sich eine Unterkunft für ihn finden, gleichgültig was und wenn es nur eine Schlafstelle war. Vorläufig war er im Flüchtlingsauffanglager in Marienfelde. Das war für ihn die Hölle: Als eingefleischter Junggeselle war er nicht gewohnt, Kinderlärm um sich herum zu haben. Jetzt war er diesem hektischen Betrieb ausgesetzt. Die Völker strömten herbei, jeden Tag. Das war das Resultat der Zwangskollektivierung des Bauernstandes in der Ostzone.

      „Begreifen Sie doch: Ich bin kein Bauer. Mich mit Hunderten von Bauern einzupferchen, bringt mich in die Klapsmühle.“

      „Berlin ist überlaufen. Wir werden Sie nach Westdeutschland rüber fliegen.“

      Weichelt wollte aber nicht nach Westdeutschland fliegen. Er wollte überhaupt nicht fliegen. Er wollte ein kleines Zimmer haben, irgendwo in Berlin, mehr verlangte er nicht. Er telefonierte von Zeitungsannonce zu Zeitungsannonce. Er ging von einer Empfehlung zur anderen, bis er in der Reichenberger Straße ankam. Hier klingelte er zuerst bei Frau Elster. Frau Elster war sehr zurückhaltend: „Bei mir kommt kein Mann in die Wohnung. Ich war einmal verheiratet, das reicht.“

      Mitleid hatte sie trotzdem: „Aber eine Tasse Kaffee und eine Stulle können Sie bekommen... Also, Flüchtling sind Sie? Warum sind Sie geflohen?“

      „Zwangskollektivierung.“

      „Sie doch kein Bauer nicht.“

      „Alle reißen sich den Mund wund über die Zwangskollektivierung des Bauernstandes, aber an den kleinen Mann mit Privatbetrieb denkt keiner. Ich hatte eine kleine Druckerei, Reklame, Laufzettel, Krimskrams, Traueranzeigen, Gratulationen, was sich gerade bot, nicht viel, Einmannbetrieb, aber ich war mein eigener Herr. Jetzt sollte ich in einem staatseigenen Betrieb jeden Quatsch der Partei drucken. Das war alles zensurierter Blödsinn, Propaganda, Blablabla, politische Schulung, Gehirnwäsche... Nee, wissen Sie, ich bin zu alt für so was.“

      Weichelt war deprimiert: „Die Ostzone erklärt die Zwangskollektivierung als eine Welle der freien Einsicht der Bauern und des Mittelstandes. Die Zwangskollektivierung ist aber nichts anderes als Terror gegen die Bevölkerung.“

      Frau Elster schmolz das Herz. Sie konnte diesen armen Menschen nicht einfach wegschicken: „Versuchen Sie einmal nebenan bei Schwitters ihr Glück. Ich will nicht klatschen, aber da war letzte Woche ein Krawall. Die Alte hat die jungen Mädchen rausgeschmissen. Da sind bestimmt ein paar Zimmer leer.“

       Die Leiche

      Zwei alte Damen kamen am Sonntagmorgen, dem 4. Mai 1960, zur Polizeiwache. Sie wollten eine Aussage machen. Der diensthabende Beamte notierte. Die Damen berichteten: Als wir, das heißt, meine Schwester und ich, aus der Kirche kamen, lag eine Leiche vor unserer Haustür.“

      „Ganz bestimmt eine Leiche“, echote ihre Schwester.

       „Die war nackend, hatte überall blaue Flecken und war blutverschmiert.“

      „Können Sie mir eine nähere Beschreibung geben?“ fragte der Beamte.

      „Das war ein Mann, also… hm…“ Die alte Dame errötete leicht. Ihr war das sichtlich unbehaglich, das detailliert beschreiben zu müssen. „Der war nackend, ganz … also, wissen Se … da kann man doch nicht hingucken. … Is doch unanständig.“

      „Ja“, konterte ihre Schwester.

      „Alter?“, fragte der Polizeibeamte sachlich. Er war müde. Es war Sonntagmorgen und er hatte keine Lust, sich diesen Blödsinn von zwei senilen Frauen anzuhören.

      „Mechthild, was würdest du sagen? So zwischen dreißig und sechzig meine ich, so ungefähr.

      „Ja, genau.“

       „Haarfarbe?“

      „Tja, die Haare waren dünn, soweit ich sehen konnte. Was glaubst du, Mechthild, waren die dunkel oder waren die nicht dunkel?“

      „So ungefähr, ja.“

      „Augenfarbe?“

      „Der hatte die Augen geschlossen. Wie soll ich das wissen.“

      „Größe?“

      „Welche Größe?“

      „Die Körpergröße natürlich. Was glauben Sie denn?“

      Das ältliche Fräulein errötete zart.

      „Der liegt da, quer vor der Haustür. Er versperrte den ganzen Eingang. Wir konnten nicht in unser Haus kommen. Größe? Ja? Die Tür ist ein Meter fünfzig breit. Die Treppe ist zwei Meter breit. Also, zwischen ein Meter fünfzig und zwei Meter würde ich sagen. Was meinst du, Mechthild?“

      „Genau.“

       „War der Mann dünn, dick, kräftig, schmächtig?“

      „Was soll man dazu sagen? Wie er da so lag … also … dick? Nee! Dünn war er auch nicht. Die Beine waren dünn wie dünne Streichhölzer. Der Bauch war schwabbelig. Aber sonst war nicht viel an ihm dran. Meinst du nicht auch, Mechthild?“

      „Du hast ganz Recht.“

      „Wie war Ihr Name?“

      „Wir wohnen im selben Haus, wo diese Leiche liegt, in der Reichenberger Straße in der dritten Etage, gleich die erste Tür links, wenn Sie die Treppe raufkommen.“

       „Ihre Namen, bitte.“

      „Macher, Clara und Mechthild Macher.“

      Der diensthabende Beamte wandte sich an einen Kollegen vom Außendienst:

       „Kurt, würdest du die beiden Damen zur Reichenberger Straße fahren und die Fundstelle sicherstellen? Ich werde die Mordkommission benachrichtigen.“

       Im Polizeipräsidium

      Am Montag, dem 5. Mai 1960 herrschte der gewohnte Betrieb im Polizeipräsidium. Das lief von links nach rechts und von rechts nach links. Man trabte treppab und treppauf. Es wurde gearbeitet, telefoniert, diskutiert und konferiert. Tür auf und Tür zu. Man hatte Aktenmappen unterm Arm, Aktenmappen lagen auf dem Tisch, Aktenmappen kamen in die Schränke hinein und aus den Schränken heraus. Das elektronische Zeitalter war noch nicht in die Dienststuben eingezogen. Hier lag noch der Staub von tausenden von Akten.

      Die Ereignisse vom Wochenende wurden registriert und besprochen. Zwei Vergewaltigungen, dreizehn Schlägereien und eine Leiche in der Reichenberger Straße. Am Montagmorgen um neun Uhr war eine Leiche aus dem Landwehrkanal gefischt worden.

       „Könnte die Leiche im Landwehrkanal mit der Leiche in der Reichenberger Straße identisch sein?“

      „Man