Heide Fritsche

Die Schandmauer


Скачать книгу

wurde ein Schuljunge von sechzehn Jahren herausgeholt. Seine Mitschüler sind draußen. Sie sprechen von unglücklicher Liebe, Einzelgänger, Opfer von Spott und schäbigen Späßen. Scheint mehr ein Disziplinarfall für die Schule zu sein.“

      Kriminalkommissar Herbert Hegmann übernahm die Leiche in der Reichenberger Straße. Er diskutierte die Situation mit seinen Kollegen. Die Schwestern Macher hatten die Leiche zwischen elf und zwölf Uhr am Sonntagmorgen vor ihrer Haustür gesehen. Die Polizei hatte die beiden Damen gegen dreizehn Uhr in die Reichenberger Straße zurückgefahren. Als die Polizei zur Stelle kam, war die Leiche verschwunden. Man hat die „angebliche“ Fundstelle gründlich untersucht und Blutspuren gefunden. Die Blutbefunde waren zur technischen Untersuchung sichergestellt worden. Ein alter Schuh wurde neben der Treppe gefunden. Es war unsicher, woher der stammte. Ansonsten fehlte jeder weitere Befund. Eine Leiche wurde nicht gefunden. Die diensthabenden Polizeibeamten waren im Haus von Tür zu Tür gegangen. Der Aussage nach hatte niemand was gesehen. Die Glaubwürdigkeit einiger Personen wurde aber angezweifelt. Herbert wollte der Sache noch einmal nachgehen.

      „Man muss die Ergebnisse aus der Reichenberger Straße mit äußerster Vorsicht behandeln.

      „Eine Meldung fürs Presseamt?“

      „Wird sich nicht vermeiden lassen. Die Leute klatschen so oder so.“

      „Wenn die Presse misstrauisch wird, kommt sie mit unbehaglichen Kommentaren.

      „Ha, ha, ha Presse! Die Ostpresse ist nicht nur zensuriert, die Artikel werden eigenhändig vom Politbüro geschrieben.“

      „In einem Artikel der Iswestija wird der Bundeskanzler Adenauer beschuldigt, mit zwei Hakenkreuzen im Gästebuch der Nationalgalerie der Künste in Washington signiert zu haben.“

      „Alle Westdeutschen sind in der Ostpresse Aggressoren, Revanchehetzer und Faschisten, alle Ostdeutschen sind Friedenstauben, die sich im kommunistischen Taubenschlag der Sowjetunion in ihrer europäischen Koexistenz gefährdet fühlen.“

      „Der Osten will die Entspannung, sagt die Sowjetunion. Der Westen glaubt eh nicht daran, jedenfalls nicht, solange die Sowjetunion versucht, in aller Welt Hass und Feindseligkeit gegen die Bundesrepublik zu schüren.“

      „Das ist Wasser auf Franz Josef Strauß’ bajuwarische Mühlen. Er will seinen politischen Weizen nur noch mit atomarem Antrieb mahlen. Wenn die Bundesrepublik keine Atomwaffen bekommt, pfeife der Westen aus dem letzten Loch und Moskau lache sich ins Fäustchen, sagt Strauß.“

       „Hört! Hört!“

       „Klar doch, Pankow liebt solche Töne. Für die ist Franz Josef Strauß der leibhafte Beweis, dass die Bundesrepublik einen Bruderkrieg plant, einen Revanchekrieg. Die rechten Faschisten versuchen, die Sowjetunion mit Atomwaffen zu erpressen.“

      „Soll es einem da nicht ans Herz greifen, wenn man den gewaltigen Verteidiger der Friedenstauben, Nikita Chruschtschow in Baku in diplomatische Reden eingezwängt sieht?“

      Der Kriminalbeamte las aus der Tageszeitung vor:

      „Der Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland bedeutet zugleich die Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin und damit den Abzug der Besatzungstruppen aus Westberlin. Falls die Westmächte keinen Friedensvertrag mit der Bundesrepublik unterzeichnen wollten, würde das ihnen die Rechte nicht wahren, auf deren Wahrung sie bestehen. Sie würden dann natürlich des Rechtes auf Zutritt zu Westberlin verlustig gehen.“

      „Hast du noch mehr Kalauer auf Lager? Du könntest versuchen, auch mal zu arbeiten.“

       In der Reichenberger Straße

      Im Haus in der Reichenberger Straße, wo die beiden Schwestern Macher lebten, wohnten zumeist ältere oder alte Menschen und einige junge Ehepaare und jüngere Untermieter. Die jungen Leute waren fast alle spät in der Nacht vom Samstag zum Sonntag nach Hause gekommen. Eine Leiche hatten sie nicht vor der Haustür gesehen. Alle hatten am Sonntagmorgen lange geschlafen, alle, bis auf die beiden alten Damen, die jeden Sonntagmorgen in die Kirche gingen.

      Die Untersuchung verlief ergebnislos. Nur bei Familie Schwitters wurden merkwürdige Verhältnisse aufgedeckt. Familie Schwitters wohnte in einer Sechszimmerwohnung, Parterre. Amtlich gemeldet waren das Ehepaar Ewald und Lieselotte Schwitters und vier minderjährige Töchter. Das waren Irene Gärtner, Lilly Naumann und Susanne und Rita Schwitters. Herbert Hegmann sprach mit Lieselotte Schwitters. Das war am Montagnachmittag um vier Uhr. Ewald Schwitters war noch nicht zu Hause.

      Hegmann wollte mit den Töchtern sprechen. Das war nicht möglich, sie waren nicht zu Hause. Wo ihre Töchter sich befanden, wusste Frau Schwitters nicht. Sie kannte nicht die Arbeitsgeber ihrer Kinder. Nur die älteste Tochter war zu Hause: „Irene schläft noch. Ich werde sie sofort wecken.

      Frau Schwitters verließ das Wohnzimmer und ließ die Tür zum Korridor offen stehen. Durch die offene Tür sah Hegmann einen Mann im Schlafanzug durch den Gang schlurfen. Er ging zum Badezimmer oder zur Toilette. Hegmann hörte Wasser rauschen. Der Mann mochte fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Jahre alt sein. Er war ungefähr ein Meter und achtzig groß.

      Dann hörte Hegmann den Schlüssel zur Wohnungstür. Ein umfangreicher Mensch kam herein. Schwerfällig stapfte er an der offenen Wohnzimmertür vorbei. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Er grüßte nicht. Er schloss eine Tür auf, ging in ein Zimmer und schloss die Tür hinter sich wieder ab. Aus einem anderen Zimmer hörte Hegmann die Stimmen von zwei Frauen. Sie wurden immer lauter.

      „Ich hole den nicht aus der Kneipe heraus.“ Unverständliches Gemurmel. Hegmann lauschte angestrengt, dann hörte er Lärm, als wenn Gegenstände herumgeschmissen wurden.

      „Nein, nein, nein.“

      Wieder Lärm. Dann knallte eine Tür. Lieselotte Schwitters kam zurück. Sie war hochrot im Gesicht. Ihre Augen funkelten aufgeregt. Ansonsten hatte sie sich total unter Kontrolle. In dem Moment, als Lieselotte ins Zimmer kam, schlurfte diese Type von rund fünfzig Jahren wieder über den Flur. Frau Schwitters machte schnell die Wohnzimmertür hinter sich zu. Hegmann fragte interessiert: „Wer war das?“

      „Der wohnt hier. Ist doch nicht verboten, ein paar Zimmer zu vermieten. Bei der Wohnungsknappheit.“

      „Es kam noch ein anderer Mann hier vorbei, so ein dicker, schwerfälliger. Ist das auch ein Untermieter?“

      „Herr Bauer, ja, der arbeitet bei der Stadtverwaltung.“

       „Haben Sie noch mehr Untermieter?“

       „Nein.“

       „Könnte ich die beiden Untermieter bitte sprechen?“

      „Ich kann die nicht dauernd belästigen. Die bezahlen ihre Miete und machen keinen Ärger. Ich kann mir die Leute nicht vergraulen.

      Hegmann war ärgerlich: „Es handelt sich um einen Mordfall. Wir können Sie und ihre Untermieter zum Polizeiamt vorladen. Ist Ihnen das angenehmer?“

      Frau Schwitters wurde unsicher. Mit Behörden hatte sie nicht gerne zu tun. Sie ging auf den Gang und klopfte an eine Tür: „Herr Weichelt? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Doktor holen?“

      Hegmann hörte die Antwort nicht.

      „Ein Polizeibeamter ist hier und möchte Sie sprechen“, sagte Frau Schwitters. Wieder ein unverständliches Gemurmel hinter der Tür. Herr Weichelt rührte sich nicht. Jetzt hörte Hegmann, wie stattdessen der dicke Herr Bauer seine Tür aufschloss. Er kam in den Korridor.

      „Was ist?“

      Hegmann stand auf, ging in den Korridor und zeigte ihm seinen Ausweis: „Mordkommission.“

      Herr Bauer kam mit ins Wohnzimmer und setzte sich. Hegmann holte seine