Heide Fritsche

Die Schandmauer


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      „Beruf?“

      „Angestellter bei der Stadtreinigung.“

      „Wie lange wohnen Sie schon hier?“

      „Seit drei Wochen.“

      „Wo waren Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag?“

      „In der Kneipe an der Ecke Ohlauer Straße und Paul-Lincke-Ufer. Wir haben bis elf, zwölf Uhr Skat gespielt. Dann bin ich ins Bett gegangen.“

      Frau Schwitters war wieder ins Wohnzimmer gekommen. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging unruhig hin und her.

      Der Kriminalkommissar ließ sich nicht irritieren: „Wann sind Sie am Sonntagmorgen aufgestanden?“

      „Gegen elf Uhr.“

       „Haben Sie um diese Zeit eine Leiche vor der Haustür gesehen?“

      „Ich bin am Sonntag erst um sechs Uhr abends rausgegangen, zum Essen. Es hat am Sonntag geregnet. Da war kaum ein Mensch auf der Straße.“

      Aus der Küche hörte man Rumoren. Schranktüren wurden geöffnet, Schubladen wurden rausgezogen. Frau Schwitters ging in die Küche. Sie ließ die Wohnzimmertür wieder offen. Herr Weichelt kam angelatscht, immer noch im Schlafanzug. Aus der Küche hörte man Frau Schwitters schimpfen. Bauer grinste: „Dat is‘n Besen, sach ich Ihnen.“ Er erklärte nicht, wen und was er mit Besen meinte.

      Hegmann fragte auch nicht danach: „Herr Bauer, wenn wir noch weitere Auskünfte brauchen, werden Sie von uns hören.“

      Hegmann war aufgestanden und zeigte jetzt Herrn Weichelt seinen Ausweis. Während der Kriminalkommissar mit einem Ohr auf die Geräusche in der Küche hörte, machte er auch hier wieder seine Routinenotizen: Name, Alter, Beruf, Adresse.

      Alfred Weichelt war zweiundfünfzig Jahre alt und Drucker von Beruf. Er war arbeitslos. Er war aus der Ostzone geflüchtet. Er kam aus Leipzig. Außer der Familie Schwitters kannte er in Berlin niemanden.

       „Was haben Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag gemacht?“

       „Kann mich nicht erinnern. Hab wohl einen über den Durst getrunken.“

      Frau Schwitters kam mit Irene ins Wohnzimmer. Irene war zierlich und gut gebaut. Sie hatte ein hübsches Gesicht und langes dunkles Haar. Hegmann war zerstreut. Er wusste nicht mehr, was er Herrn Weichelt gefragt hatte: „Wann sind Sie am Sonntag nach draußen gegangen?“

      „Am Sonntag war ich nicht draußen, auch heute bin ich nicht aufgestanden. Ich fühle mich nicht gut. Ich habe eine Erkältung bekommen.“

      Frau Schwitters mischte sich hier ein: „Es wäre besser, wenn Herr Weichelt sich wieder ins Bett legt. Es ist unangenehm, kranke Menschen in der Wohnung zu haben.“

      Weichelt sah Hegmann fragend an. „Danke, das genügt, wenn ich weitere Auskünfte brauche, hören Sie von uns“, antwortete Hegmann automatisch. Er war jetzt auf Irene konzentriert. Sein Berufsinstinkt sendete ihm alle möglichen Signale. Der Kriminalkommissar wusste nur nicht, welche. Er stellte wiederum seine üblichen Fragen: Name, Alter, Beruf, Anschrift.

      Irene war achtzehn Jahre alt. Sie hatte im letzten Jahr die Mittlere Reife abgeschlossen und machte jetzt eine Lehre als technische Zeichnerin. Der Trümmerhaufen von Berlin wurde wieder aufgebaut. Die Baubranche hatte Hochkonjunktur. Die gesamte Altstadt war zu Trümmerbergen zusammen gescharrt worden. Auf den Trümmerhaufen bei Lilienthal gab es sogar eine Skischule. Im Westen von Berlin wurden ganze Satellitenstädte im Märkischen Viertel ins Grüne geplant. Westdeutschland fieberte im Wiederaufbauwunder. Die DDR wollte dem nicht nachstehen, sie baute die Stalinallee und plante den Palast der Republik.

      „Was haben Sie in der Nacht vom Samstag zum Sonntag gemacht?“, fragte Hegmann Irene.

      „Alles Mögliche, so von einer Disco zur anderen. Vom Riverboat bis zum Savignyplatz haben wir alles mitgenommen. Ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.“

       „Wann sind Sie nach Hause gekommen?“

       „Weiß ich nicht. Gegen sechs Uhr vielleicht.“

      „Haben Sie eine Leiche vor der Haustür gesehen?“

      „Eine was?“ Irene sah fragend von einem zum anderen: „Sie machen keine schlechten Scherze?“

      Hegmann holte wieder seinen Dienstausweis hervor: „Mordkommission.“

      Irene staunte: „Ist ja toll! Was für eine Leiche?“

      Hegmann war verärgert. Er kam nicht von der Regenbogenpresse, um Sensationsneuigkeiten zu verkünden: „Haben Sie eine Leiche gesehen oder nicht, ja oder nein?“

      „Nee, leider nicht. War das ein Mann oder eine Frau?“ Herbert überhörte die Frage.

      „Haben Sie am Wochenende ihre Geschwister gesehen?“ Er durchblätterte flüchtig seine Fragebogen: „Rita, Susanne und Lilly. Das waren doch die Namen?“

      „Susanne und Rita Schwitters sind meine Stiefschwestern, Lilly Naumann ist meine Halbschwester.“

      „Waren die am Wochenende hier in der Wohnung?“

      Irene sah flüchtig ihre Mutter an, dann ging sie zum Fenster und schaute auf die Straße.

       „Wenn Sie mir hier keine Antwort geben können, kommen Sie morgen früh um zehn Uhr zum Polizeipräsidium Zimmer 2043.“

      Hegmann packte seine Sachen zusammen und ging. Das wurde ihm zu bunt. Als er die Wohnung verließ, hörte er hinter sich Schreien und Krachen. Irgendetwas wurde zerbrochen. Himmel, war das eine Wirtschaft! Ein Mann kam durch die Haustür. Er war total betrunken. Hegmann schätze ihn auf Anfang vierzig. Er war ungefähr ein Meter dreiundachtzig groß und korpulent. Der Mann war hochrot im Gesicht. Er schwitzte und stöhnte. Hegmann hatte einen Verdacht. Er sprach den Mann an: „Sind Sie Herr Schwitters? Ewald Schwitters?“ Der Mann atmete schwer.

      „Kriminalpolizei.“

      Der Mann starrte ihn ausdruckslos an, setzte sich auf die Treppe, die in den ersten Stock führte, legte den Kopf ans Geländer und fing an, mit offenem Mund zu schnarchen. Die Tür zur Nachbarwohnung wurde geöffnet. Frau Elster kam ins Treppenhaus. Sie war alt, verhutzelt und mager: „Herrn Schwitters kriegen Sie so schnell nicht wach.“

      „Ja so, das ist Herr Schwitters?“, Hegmann zeigte auf den schlafenden Mann.

      „Der trinkt wie ein Loch. Das ganze Wochenende ist er nicht nach Hause gekommen. Den kriegen sie aus der Kneipe nicht mehr raus. Sie könnten den in Stücke schlagen, der gibt keinen Piep von sich.“

      Frau Elster zeigte bedeutungsvoll auf die Nachbartür und kicherte. Aus der Wohnung von Schwitters kam lautes Schreien. Hegmann hatte genug. Er ging nach draußen.

       Die Nachforschung

      Am nächsten Morgen, pünktlich um zehn Uhr, meldete sich Irene Naumann im Polizeipräsidium, Zimmer 2043. Hegmann ließ sie eine halbe Stunde warten. Es bereitete ihm kein Vergnügen, sich mit den Angelegenheiten der Reichenberger Straße zu befassen. Er holte einen Kollegen zur Beglaubigung der Aussage. Irene war jetzt dezent und geschmackvoll gekleidet und tadellos frisiert. Sie war eine auffallend hübsche Person. Sie war selbstsicher, zu selbstsicher.

       „Waren Ihre Geschwister am Wochenende in der Reichenberger Straße?“

       „Ja.“

       „Wann?“

      „Am Samstagnachmittag war ich erst am Flughafen und habe mir die Haare schneiden