Heide Fritsche

Die Schandmauer


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worden. Seit einem Jahr arbeitete sie hier im Verkauf.

      Ritas richtige Schwester war Susanne. Susanne war zwei Jahre älter als Rita. Sie wuchs in ihren ersten beiden Lebensjahren in Schlesien in glücklichen Familienverhältnissen auf. Von Natur aus war sie introvertiert. Sie sprach selten, sehr selten und dann auch nur, wenn sie ausdrücklich dazu aufgefordert wurde. Sie war immer im Hintergrund, schweigend. Susanne war eine graue Unscheinbarkeit. Trotzdem hatte sie mehr Glück als Rita. Beruflich ging es ihr glänzend und auch auf Männer wirkte sie anziehend, obwohl sie so schüchtern war.

      Susanne arbeitete seit drei Jahren als Friseurlehrling. Seitdem sie im Friseursalon arbeitete, färbte sie sich jede Woche ihre Haare in einer anderen Neonfarbe. Das gehörte zu ihrem Berufsimage. Außerdem behandelten sich die Friseusen gegenseitig gratis. Das war eine gute Reklame fürs Geschäft, ohne Zweifel. Gleichzeitig waren diese Friseusen auch Versuchskaninchen für alle chemischen Produkte und Farbstoffe, die im Wirtschaftswunderland tagtägliche neu auf den Markt geschmissen wurden. Darüber dachte niemand nach. Die Friseusen waren jung, unbeschwert und naiv. Sie bewunderten sich selbst mit immer neuen Farben in den großen Spiegeln der Salons. Sie waren die Welt von Morgen nach der verlorenen Generation der Kriegszeit. Sie repräsentierten die neue Zeit nach den grauen Mäusen der Arbeitsmaiden und Ruinenfrauen. Sie wollten genießen, in großen Zügen. Sie hatten aber nicht gelernt, dass alles einen Preis hat, auch der Luxus der neuen Welt.

      Ohne Zweifel machten diese lackierten, selbstleuchtenden Frisuren Susanne bunter. Mehr sichtbar wurde sie dadurch nicht. Aber ihre Kunden liebten sie. Tagein, tagaus hörte Susanne sich geduldig jedes Gewäsch und jeden Klatsch ihrer Kundinnen an. Sie störte nie mit unnützen Fragen. Sie kommentierte nichts. Sie gab keine Informationen weiter. Aller Kummer der Kundinnen, ihre kleinen und großen Geheimnisse, aller Klatsch und Tratsch, alle Informationen, Lügen und Desinformationen kamen nie über die Türschwelle des Friseursalons hinaus. Das wussten die Kundinnen zu schätzen. Susannes Wortkargheit verwandelte sich hier in reines Gold. Sie kassierte astronomische Trinkgelder.

      Als die Herrengesellschaft, die Irene und Rita auf der Straße aufgelesen hatte, in der Reichenberger Straße angeströmt kam, kroch Susanne in sich selber zusammen wie in einem Schneckenhaus. Mit den Frauen im Friseursalon konnte sie großartig auskommen. Sie lächelte, arbeitete fleißig, ließ die Frauen reden und alle waren ihr dankbar. Wie aber sollte sie sich gegenüber diesen Männern verhalten? Susanne setzte sich geduldig in eine Ecke. Sie wagte gar nichts anderes. Sie war fügsam und geduldig und wartete ab, was geschah. Ansonsten schwieg sie wie gewöhnlich. Sie neigte den Kopf nach unten. Wenn sie angesprochen wurde, stierte sie auf den Fußboden. Wenn sie jemand etwas fragte, schüttelte sie den Kopf oder sie nickte. Ansonsten brachte sie kein Wort hervor.

      Irene hatte eine Halbschwester. Sie hieß Lilly. Auch Lilly war an diesem Abend stumm. Auch sie sagte kein Wort, als zehn wildfremde Männer in der Reichenberger Straße anmarschiert kamen. Aber im Gegensatz zu Susanne war Lilly niemals fügsam und geduldig. Gleichgültig, in welche Situationen sie kam, so wartete sie ab, beobachtete, registrierte, was gesagt und gemacht wurde und dann handelte sie konsequent.

      Lilly war der Prügelknabe ihrer Mutter, Irene war ihr Liebling. Irene durfte die Realschule besuchen. Lilly musste arbeiten gehen. Das Geld, das sie verdiente, musste sie zu Hause abgeben. Sie könne in der Reichenberger Straße nicht gratis wohnen und essen, hatte ihre Mutter gesagt. Da war Lilly vierzehn Jahre alt.

      „Lilly hat keinen Verstand.“, sagte ihre Mutter. „Gymnasium? Ha, ha, ha! Das ich nicht lache! Ich schmeiße mein Geld nicht vor die Schweine. Die geht in die Fabrik. Die kann sich ihren Lebensunterhalt alleine verdienen. Das ist das einzig vernünftige, was sie zustande bringt. Bei mir hängt sie nicht herum. Ich unterstütze keine Faulenzer. Zu etwas anderem taugt dieses Flittchen ohnehin nicht.“

      Seitdem Lilly vierzehn Jahre alt war, musste sie arbeiten. Zuerst war Lilly Saisonarbeiterin. Sie half beim Verkauf in Geschäften aus. Sie sprang überall ein, wo jemand gebraucht wurde. Im Haushalt helfen? Putzen? Kein Problem! Lilly sagte ja, immer und überall. Jeder Pfennig war willkommen. Alles, was sie nicht bei ihrer Mutter ablieferte, investierte sie in Kursen. Sie besuchte Stenografie-, Schreibmaschine- und Mathematikkurse, Englisch- und Französischkurse. Sie war jeden Abend unterwegs. Morgens um sieben Uhr ging Lilly aus dem Haus. Sie kam nachts um elf Uhr in die Reichenberger Straße zurück, legte sich ins Bett, schlief und verschwand früh morgens wieder, bevor die anderen aufstanden. Sie kommentierte nichts. Sie gab ihrer Mutter keine Informationen, wo sie war und was sie machte. Sie antwortete ihrer Mutter nicht, wenn sie angesprochen wurde. Sie drehte sie sich um und ging weg. Deswegen nannte ihre Mutter sie eine Herumtreiberin, ein Flittchen und eine Hure.

      Nach einem Jahr, als Lilly das Schreibmaschinen- und Stenografie Examen bestanden hatte, bekam sie eine Anstellung als Schreibkraft in einem Büro. Jetzt verdiente sie regelmäßig und gut. Auch davon sprach sie mit niemanden. Ihre Mutter hätte dann noch mehr Geld von ihr verlangt und noch mehr an ihr herum gestänkert. Wie, wo und wann sie arbeitete, war ihre Angelegenheit. Das ging niemanden etwas an.

      Damals gab es noch eine achtundvierzig Stunden Woche in Deutschland. Auch samstags wurde gearbeitet. Aber jeden Tag von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags im Büro zu sitzen, genügte Lilly nicht. Abends besuchte sie weiterhin Mathematik- und Sprachkurse. Ihre Kolleginnen glauben, sie wollte Kariere machen. Sie wollte zur Privatsekretärin avancieren oder sich für die Korrespondenz in der Auslandsabteilung bewerben. Lilly war jung. Die ganze Welt stand ihr offen.

      Lilly äußerte sich nicht dazu. Wenn ihr jemand einen besseren Job angeboten hätte, hätte sie nie nein gesagt. Aber des Lebens letzter Zweck war dies nicht für sie. Lilly lernte, um des Lernens willen. Sie las alles, was sie auftreiben, erstehen oder ausleihen konnte. Im Lernen und Lesen öffneten sich für Lilly ganz andere Welten. Lilly lebte mit und in ihren Büchern. Hier verwischten sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum, Phantasie, Utopie und Wunschbilder. Es öffneten sich immer neue Möglichkeiten. Jetzt hatte sie ein privates Gymnasium gefunden, wo sie ihr Abitur nachmachen konnte. Allerdings musste sie hier tagsüber zur Schule gehen. Darum hatte sie im Büro gekündigt und suchte einen Job, wo sie abends oder nachts arbeiten konnte.

      Auch in dieser Nacht in der Reichenberger Straße war Lilly in einem Buch versunken. Dann kam diese lärmende Kompanie und machte jegliche Konzentration unmöglich. Die Kakophonie von Stimmen, Lachen, Singen und Schreien schlug wie eine Sintflut über ihr zusammen. Politik, Klatsch und Banalität wurden wie Kraut und Rüben durcheinander geschmissen. Wer sagte was? Worum ging es? Lilly konnte nicht folgen.

      „Erzähle mal, wie war das mit diesem Skandal?“

      „Skandal? Dem wollt ich mal eins auswischen, wollt ich. Und da hab ich jesacht, ‚Wat hab’n Se eben jesacht?‘, und da hat er jesacht: ‚Kommen Se mir nich mit so wat.‘“

      „Unmöglich!“

      „Sach ich doch, sach ich doch.“

      Alle redeten gleichzeitig, keiner hörte zu. Jeder hatte eine Meinung, die niemanden interessierte.

      „Das Volk weiß nicht, was es will und die Abgeordneten sind zu faul, zu müde und zu beschäftigt.“

      „Man sollte diese aufgeblähten Beamtenkörper abschaffen.“

      „In Bonn produzieren diese Typen tausend Narrheiten und Albernheiten. Hier fischt jeder im Trüben.“

      „Meinst’e?“

      „Deutschland müsste amtlich organisiert werden und nicht von wildgewordenen Spießbürgern, sach ich.“

      „Amtlich organisiert? Mit all die irrsinnigen Vorschriften? Glaubst’e das interessiert mich. Das interessiert mich überhaupt nicht.“

      Susanne gähnte. Sie hatte Lust ins Bett zu gehen. Sie traute sich aber nicht, einfach aufzustehen und alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Rita war in der Küche, um ein paar Stullen zu schmieren. Die Herren hatten Schrippen und Aufschnitt mitgebracht. Das wurde ein richtiges Fest.

      „Nächstes Jahr? Tunis? An jeder Straßenecke ein Harem. Wa?“

      „Woher