Heide Fritsche

Die Schandmauer


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Anstößige Wörter müssen vermieden werden.“

      „Man darf auch nicht ‚das leibliche und sinnliche Leben’ verherrlichen oder gar bordellartige Gespräche im Schoß der Familie führen.“ Das war Irene. Sie machte auf intellektuell wie immer. Rita kam mit den Brötchen. Irene holte Bier.

      Familienleben! Dachte Lilly verächtlich, Familienleben war geheuchelte Ehrbarkeit, die öffentlich ausgestellt wurde, die aber niemals stimmte und die keiner glaubte. Familie war ein Markenartikel. Das war die Grundlage des deutschen Staates. Die Familie war ein Warenhaus von gängigen Werten wie triefende Würde, hölzerne Anständigkeit und ausgekochte Sauberkeit. Die Familie wurde sakral gehütet und nach kaufmännischen Prinzipien auskalkuliert und immer an die jeweilige politische Lage angepasst. So war es jetzt auch wieder in der Ostzone. Familie? Natürlich! Selbstverständlich! Aber die Kinder gehörten dem Staat. Die Kinder mussten der jeweiligen politischen Ideologie entsprechend ausgerichtet und dressiert werden und zwar von der Wiege bis zum Grab. Dafür sorgte die Partei. Familie? Was war das? Das war das, was der Staat diktiert und was in die politischen Landschaften hineinpasste.

      Rita sprach auf Klaus und Robert ein: „Irenes Großvater starb vor zwei Jahren. Er hinterließ eine größere Summe Geld. Lilly und Irene erbten das Geld. Ihre Mutter wurde von ihrem Vater enterbt. Sie hatte eine höhere Ausbildung bekommen. Das wurde ihr Pflichtanteil genannt. Lilly und Irene sollten sich alleine durchwurschteln, darum sollten sie das Erbe bekommen.“

      „Meine Mutter führte einen langen Prozess”, mischte sich Irene hier ein, „sie verlor eine Instanz nach der anderen. Lilly und ich, wir sind beide noch minderjährig. Meine Mutter hat das Erziehungsrecht. Sie beanspruchte die Kontrolle über das Geld, um unsere Erziehung sicherzustellen. Als sie sich abgesichert hatte, kaufte sie sich einen Mercedes. Seitdem fährt sie an jedem Wochenende nach Westdeutschland. Darum sind wir an jedem Wochenende alleine in der Wohnung.“

      Jürgen, Norbert und Günther hingen neben und hinter Lilly am Klavier, pickten auf den Tasten herum und sangen, jeder nach einer eigenen Melodie, jeder mit einem anderen Text. Aus dem Fernseher tönte die Stimme des Nachrichtensprechers: „Die Sowjetunion protestierte gegen die Übermittlung einer Medaille an einen Sowjetbürger durch die deutsche Botschaft. Arbeitskollegen von Iwan Goppe, wohnhaft in der Siedlung Kaliez im Rayon Solikamsk hätten ausgesagt, dass ein Postbote ein Paket von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau an besagten Iwan Goppe abgegeben hätte …“

      „Mit Politik tu ich mir nicht befassen, det jeht mir jar nischt an“, sagte Helmut. Helmut und Rainer verschwanden im Schlafzimmer von Schwitters. Sie durchwühlten den Kleiderschrank und kostümierten sich. Helmut zog das schöne Geblümte von Frau Schwitters an und Rainer den guten Gestreiften von Herrn Schwitters. Die Kleider hingen wie Säcke an ihnen herunter. Sie wurden mit Unterhosen und Strümpfen ausgestopft. Helmut fand den Lippenstift von Frau Schwitters.

      „Breeennend hei-hei-heißer Wüstensand“, grölte Jürgen und Norbert und hämmerten aufs Klavier. Helmut und Rainer tanzten eng umschlungen. Klaus und Robert waren mit Irene beschäftigt: „Seid ihr alle vier Geschwister?“

      „Nein, Susanne und Rita sind Schwestern, und Lilly und ich, wir sind Halbschwestern, wir haben die gleiche Mutter, aber verschiedene Väter.“

      „Ja so jet dat, Männer kann’ste nehmen, brauchen und wegschmeißen.“

      Martin hatte den Kasten mit den Sicherungen gefunden. Das war spannend. Er zog eine Sicherung raus, setze eine andere rein und wieder umgekehrt, hin und her. Das Radio klickte aus und an, der Fernseher wurde schwarz und explodierte in Blitzlichtern. Der Plattenspieler leierte, hackte und verstummte. Jürgen und Norbert hämmerten weiterhin auf dem Klavier herum. Sie schwebten in seliger Bierstimmung.

      Rita wusste nicht genau, ob sie mit Robert oder mit Klaus anbändeln sollte. Irene war immer noch mit ihren eigenen Familienproblemen beschäftigt: „Jedes Wochenende sind meine Eltern unterwegs. Wir können hier tun und lassen, was wir wollen. Aber meine Mutter nimmt uns alles Geld ab. Alle Essenswaren werden eingeschlossen.“

      Rolf hörte entmutigt auf, am stummen Radio zu kurbeln. Er setzte sich bei Susanne auf den Schoss. Susanne protestierte. Rolf kitzelte sie.

      „Nein... nicht... mir wird übel...“, Susanne wollte aus dem Wohnzimmer weglaufen, konnte aber nicht.

      Helmut und Rainer tanzten im Dunkeln weiter, ohne Musik. Am Klavier wurde getrunken und gegrölt: „Schwarzer Kater Stanislaus …“

      Die ganze Wohnung lag im Dunkeln. Lilly schob sich an der Wand entlang.

      „Huh... Huh!“ Martin fühlte sich witzig. Er tastete sich vorwärts, stolperte über Lilly und fiel. Mit dem Kopf schlug er gegen die Tischkante. Ein Zahn wurde beschädigt: „Verdammte Scheiße!“ Er wischte sich das Blut mit dem Taschentuch ab. Im Dunkeln flammten Streichhölzer und Feuerzeuge auf.

      Lilly erreichte den Korridor, tastete sich bis zu ihrer Zimmertür und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab, legte sich auf ihr Bett und schlief ein. Der Lärm in der Wohnung mischte sich mit ihren verworrenen Träumen. Sie hörte einen Wasserfall und Räderrollen. Dann wurde der Lärm konkreter. Türen knallten. Jemand schrie. Die Stimme kannte Lilly. War das ein Alptraum? Lilly war mit einem Male hellwach. Sie blieb regungslos liegen und lauschte. Ihre Mutter war zurückgekommen. Wie spät war es? Fünf Uhr morgens? Wieso kamen die mitten in der Nacht wieder nach Zuhause zurück? Was war passiert? Reifenpanne? Unfall? Oder war der Schwitters wieder stinkbesoffen? Wahrscheinlich! Das war nicht das erste Mal. Was sollte sie jetzt machen? Sie stand auf und zog sich an, leise, bloß keinen Lärm machen. Lilly wartete.

      Im Korridor hörte sie das Kreischen ihrer Mutter: „Pornographisch ... bis ins Mark vergiftet... anstößig... verlotterte Bande... bringe ich in die Erziehungsanstalt … “

      Dazwischen konnte sie laute Proteste von Männerstimmen ausmachen: „Wie? Wat hab’n Se eben jesacht?“

      „Ich hole die Polizei. Raus! Rauuuus ….!“ Das hallte im Treppenhaus. Offensichtlich schrie sie jetzt im Treppenhaus die Nachbarn zusammen. Sie wollte Zeugen haben.

      „Das verbitte ich mir aber. Was erlauben Sie sich für einen Ton?“ War das Norbert?

      „Skandal is das …“

      „Sie … kommen Sie mir bloß nicht mit Skandal!“

      „Sie können mir mal!“

      „Das is ja jrossartig! Ich soll Sie? Sie können mir!“

      „Wenn Sie nicht sofort …“

      Lilly hörte einen Knall. Was war passiert? Draußen wurde es hell. Offensichtlich wurden jetzt die Jungen nach draußen befördert. Sie hörte Poltern und einen undefinierbaren Lärm. Etwas flog gegen ihre Tür, Porzellan klirrte, Schritte jagten vorbei. Dazwischen hörte sie Proteste: „Unglaublich!“

      Irgendjemand drohte: „Komm’Se, komm’Se doch!“

      „Wat’n! Wat’n …“

      „Vaflucht!“

      Jemand trampelten über den Korridor: „Sie … Sie …“

      Im Treppenhaus schrie ein Mann: „Herrjott, wat sind Sie for ene!“

      Die Wohnungstür wurde zugeschlagen. Einen Augenblick lang war es stille, dann legte Lieselotte Schwitters gegen Rita los:

      „Flittchen. So was will ich nicht im Hause haben...raus, habe ich gesagt, raus …“. Schon wieder krachte etwas. Lilly hielt den Atem an. Wurde ihre Mutter jetzt gegen Rita und Susanne handgreiflich? Dann war auch sie in höchster Gefahr. Vorsichtig packte sie ein paar Kleidungsstücke und ihre Bücher in einen alten Pappkoffer.

      „Wenn Rita rausgeschmissen wird, gehe ich auch“, sagte Susanne. Normalerweise war Susanne zu schüchtern, um zu sprechen, aber wenn Rita angriffen wurde, dann