Heide Fritsche

Die Schandmauer


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Wir waren hier ungefähr zwei Stunden und haben ein paar Jungen aufgelesen. Danach sind wir weiter in eine andere Disko, Rita und ich. Susanne wollte nicht mitkommen. Sie hatte eine Verabredung mit ihrem Freund. Das ist kein Disko-Typ, der ist stinklangweilig, Betriebswirt. Uns will er nicht treffen. Er will mit der ganzen buckligen Familie nichts zu tun haben, sagt er.“

      Herbert unterbricht sie: „In welche Disko sind Sie dann gegangen?“

      „Ich sagte Ihnen schon, ich kann mich nicht an alle Namen erinnern, auch nicht an die Reihenfolge. In der Kantstraße waren wir auch. Rita habe ich irgendwo unterwegs verloren. Die hat sich mit ein paar Typen abgesetzt. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Zum Schluss bin ich in die Piano-Bar gegangen. Lilly arbeitet da am Wochenende. Die hat mich nach Hause gebracht.“

      „Um sechs Uhr, sagten Sie?“

       „Kann sein, weiß ich aber nicht genau. Da müssen Sie Lilly fragen.“

       „Wo kann ich Ihre Schwestern erreichen?“

       „Weiß ich nicht, jedenfalls nicht in der Reichenberger Straße, die wurden da rausgeschmissen.“

      „Wie bitte?“, Kommissar Hegmann war überrascht, „Frau Schwitters, ich meine Ihre Mutter, sagte …“

       „Ja, die sollen da offiziell wohnen, aber die dürfen sich in der Reichenberger Straße nicht blicken lassen.“

      „Können Sie mir die Anschriften Ihrer Schwestern geben?“

      „Die kenne ich nicht. Ich weiß auch nicht, wo die wohnt. Susanne arbeitet in einem Friseurgeschäft am Flughafen, das habe ich schon gesagt. Lilly arbeitet am Wochenende in der Piano-Bar. Manchmal ist sie als Hilfskrankenschwester im Virchow. Ansonsten besucht sie irgendwelche Schulen oder Kurse, ich habe keine Ahnung wo. Rita wohnt bei Susanne. Susanne hat eine eigene Wohnung in Tempelhof. Das ist irgendwo in der Nähe vom Flughafen. Rita arbeitet bei Karstadt am Hermannplatz.“

      „Sie bleiben bei Ihrer Aussage, eine Leiche hätten Sie nicht gesehen?“

       „Hab ich nicht, keine Spur.“

      „Danke, das war alles.“

       Die Piano-Bar

      An den Wochenenden kamen Musikstudenten in die Piano-Bar. Sie spielten in der Regel Jazz, Blues oder Rag. Man war im Amerikanischen Sektor. Das gab den Grundton an. Das Ambiente der Bar war hierauf abgestimmt. Man gab sich modern in schwarz-weiß mit Musiknoten an den Wänden. Die Getränke hatten phantasievolle Namen wie Andante, Presto, Allegretto, Adagio molto, Moderato e grazioso, Lento, Vivace, Largo oder Forte, abhängig davon, wie viel Alkohol in die Gläser kam und in welcher Mischung mit Wodka, Gin, Whisky, Bacardi und Martini.

      Die Piano-Bar war auf jung gemacht. Aber Jugend hatte man kaum noch in Berlin, nicht vor dem Tresen. Berlin vergreiste. Die Jugend reiste in den „freien“ Westen. Hier konnte man sich ein Leben aufbauen. Hier konnte man seine Zukunft planen. Berlin hatte keine Zukunft mehr.

      Eine abgestandene Blondine stand hinterm Tresen. Sie war Mitte dreißig und großzügig dekolletiert. An Wochenenden war die Piano-Bar stippevoll. Dann halfen mehrere jüngere Mädchen aus. Studentinnen nannten die sich, was auch immer sie studierten.

      Kriminalkommissar Hegmann kam in die Piano-Bar. Er setzte sich an den Tresen. Hinterm Tresen liefen die jungen Dinger wie aufgescheuchte Hühner herum, verwechselten Lento mit Forte, Largo mit Vivace, mixten alles Mögliche zusammen und mussten ein ganzes Register an Schlüpfrigkeiten und spöttischem Zynismus über sich ergehen lassen. Oft wurde laut protestiert und nach dem Boss geschrien.

      Die Betrunkenen waren in der Regel friedlich. Zwei Gläser Schnaps, zwei Bier und dann kam der große Weltschmerz. Man mochte dies nicht und das nicht und schon gar nicht und überhaupt… traurige Unzufriedenheit im Blick, die Augendeckel auf und zu. Das waren aufgeblasene Nichtigkeiten. Das allgemeine Ambiente war ein Ritual aus Schnaps, Toilette, Rauchschwaden und Geschwafel.

      Hegmann verlangte ein Bier. Ein junges Mädchen bediente ihn. Achtzehn Jahre war das Mindestalter in diesem Job, diese hier sah wie fünfzehn aus. Man konnte sich täuschen. Aber das junge Ding hatte den Job im Griff. Alle Anzüglichkeiten prallten an ihr ab. Sie hatte eine unsichtbare Glaswand um sich herum, lächelte, schenkte ein, rechnete ab, hörte zu, war aufmerksam, schnell, zuvorkommend, höflich, leise, aber immer distanziert. Jede Aufforderung zum Tanz und jede Einladung wurde abgelehnt. Sie lächelte jeden gleichbleibend und unpersönlich an. Ansonsten sprach sie wenig und von sich selber sprach sie überhaupt nicht.

      Hegmann zeigte ihr seinen Dienstausweis:

      „Kriminalpolizei. Kennen Sie eine Lilly Naumann?“ Das Mädchen wurde rot im Gesicht: „Das bin ich.“

      „Haben Sie einen Augenblick Zeit?“

      Lilly lachte gestresst: „Sie sehen, was los ist.”

       „Wann machen Sie Feierabend?“

      „Offiziell um ein Uhr, freitags und samstags kann es später werden.“

      „Wo kann ich Sie sonst erreichen?“

      „Hier, morgen Nachmittag zwischen drei und fünf. Da ist nichts los.“

      Der Tresen war von Männern belagert. Freitagabend war es immer voll. An diesem Tag kamen viele Ehepaare oder solche, die sich dafür ausgaben, meistens das letztere. Die Männer, die hier landeten, waren einsame Nachtwandler. Die meisten hatten ein Bedürfnis sich auszusprechen. Einige brauchten jemanden, der ihnen zuhörte oder der ihnen Gesellschaft leistete. Andere ließen sich volllaufen und dann kam die große Beichte, sie heulten und jammerten. Das war ein Gemisch aus Selbstmitleid und Weltschmerz. Eine Type kam immer mit einem alten Muttchen. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, sie über sechzig. Sie war runzelig und zusammengeschrumpft. Vielleicht war sie auch schon über siebzig. Ab sechzig wirken manche Frauen noch jung, andere sehen steinalt aus. Frauen kamen selten alleine. Wenn sie älter oder hässlich waren, wurden sie angemacht. Das war unangenehm. Wenn sie jung oder hübsch oder beides waren, wurden sie belagert, wetteifernd und protzig. Das war genauso pöbelhaft.

      Lilly beobachtete, registrierte und lächelte gleichgültig, was auch immer gesagt wurde. Sie zuckte die Schultern, wenn wiehernd gelacht wurde. Obszönitäten prallten von ihr ab. Ihr fehlten in dieser Beziehung alle Begriffe der Anatomie. Der doppelte Boden existierte erst gar nicht. Alle fanden das lustig, nur Lilly nicht. Auch der weinerliche Katzenjammer der Betrunkenen interessierte sie nicht. Das gleiche jämmerliche Selbstmitleid hatte sie jahrelang von ihrem Stiefvater zu hören bekommen. Damit konnte ihr keiner imponieren.

       Lilly

      Kriminalkommissar Herbert Hegmann war am nächsten Tag um drei Uhr in der Piano-Bar. Die Türen standen offen. Es wurde gelüftet. Es roch nach Alkohol und abgestandenem kalten Rauch. Herbert war der einzige Gast. Lilly schloss die Türen und Fenster. Es war Mai, aber die Luft war immer noch kalt und feucht vom Regen. Lilly servierte Herbert einen Kaffee.

       „Einen Cognac dazu?“

       „Ich bin dienstlich hier.“

       „Was kann ich für Sie tun?“

       „Sie sind polizeilich bei Lieselotte Schwitters gemeldet.“

       „Das ist meine Mutter.“

       „Sie wohnen aber nicht da.“

      Lilly schwieg.

      „Nach jedem Umzug müssen Sie sich innerhalb von drei Tagen polizeilich ummelden. Sie werden Ärger mit der Polizei bekommen.“

      „Meine Mutter sagt, wenn ich mich ummelde, verlöre sie das Kindergeld.“

      „Wieso