Heide Fritsche

Die Schandmauer


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„Und das Kindergeld?“

       „Das gehört zu den Einnahmen meiner Mutter. Die lässt sich nicht in ihre Finanzen hineinpfuschen.“

       „Wissen Sie, wie man so was nennt?“

      „Kann mir egal sein.“

       „Unrechtmäßiger Bezug von öffentlichen Mitteln.“

       „Machen Sie das meiner Mutter klar. Sie wird Ihnen schwören, dass ich niemals die Wohnung verlassen habe.“

       „Um wieviel Uhr haben Sie am Sonntagmorgen Ihre Schwester nach Hause gebracht?“

       „Um fünf Uhr.“

       „Haben Sie eine Leiche vor der Haustür gesehen?“

       „Eine Leiche? Nein. Was für eine Leiche?“

       „Wann haben Sie das Haus wieder verlassen?“

       „Um fünf Uhr dreißig, so ungefähr. Ich habe nur Irene ins Bett gebracht, dann bin ich sofort wieder gegangen.“

       „Da haben Sie auch keine Leiche gesehen?“

       „Weder vor der Haustür, noch sonst an einem anderen Platz.“

       „Kommen Sie bitte am Montagmorgen ins Polizeipräsidium, um Ihre Aussage zu bestätigen.“

      Am Montagmorgen, den 12. Mai 1960 war Lilly um zwölf Uhr im Polizeipräsidium. Sie brauchte nicht zu warten. Kriminalkommissar Hegmann hatte sofort Zeit für sie. Die Aussage war einfach. Lilly war am Sonntagmorgen, den 4. Mai 1960 zwischen fünf und sechs Uhr in der Reichenberger Straße gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie weder eine Leiche noch sonst etwas Verdächtiges in der Reichenberger Straße gesehen.

      Hegmann sprach danach noch lange mit Lilly, aber nicht über die Leiche, ihn interessierte das Mädchen. Er wusste nicht einmal warum: „Wie alt sind Sie?“

      Lilly zögerte. Sie wagte nicht die Wahrheit zu sagen. Sie fummelte verlegen an ihren Händen herum: „Verzeihung, ich bin noch keine sechzehn. Aber ich muss überleben. Morgens gehe ich zur Schule. Das ist ein privates Gymnasium. Das ist teuer. Das Schulgeld muss ich alleine bezahlen. Ich kann nur abends arbeiten. Aber abends einen anständigen Job zu bekommen ist unmöglich, wenn man erst fünfzehn ist.“

       „Sind Sie sich über die Altersgrenze im Klaren? Die Piano-Bar kann ernsthafte Schwierigkeiten mit der Sittenpolizei bekommen. Wenn das der Jugendfürsorge gemeldet wird, sind auch Sie hiervon betroffen.“

       „Als ich mich um die Stelle in der Piano-Bar bewarb, habe ich gelogen. Ich habe gesagt, ich wäre schon achtzehn. Papiere hat keiner von mir verlangt. Ich arbeite nur zur Aushilfe, stundenweise, in der Regel nur freitags, samstags und sonntags. Irgendwelche Anstellungsformalitäten hat niemand von mir verlangt.“

      Hegmann kritzelte gedankenverloren auf einem Blatt Papier herum. Ihn gingen die persönlichen Angelegenheiten des jungen Mädchens nichts an. Sie standen in keinem Zusammenhang mit der Nachforschung der Leiche. Lilly merkte seine Unsicherheit. Hegmann schaute sie an: „Wann sind Sie von zu Hause ausgezogen?“

      „Vor ungefähr fünf Wochen.“

       „Sind Sie nicht zu jung, um alleine zu wohnen? Ich meine, es ist schwierig, in Berlin ein möbliertes Zimmer zu bekommen. Außerdem ist das teuer. Wie finanzieren Sie das?“

      „Ich sagte Ihnen schon, ich übernehme jede Arbeit, die ich mit der Schule vereinbaren kann. Ich will das Abitur machen. Morgens gehe ich zum Unterricht. Abends arbeite ich als Hilfskrankenschwester im Krankenhaus oder manchmal in der Piano-Bar und frühmorgens vor der Schule trage ich Zeitungen aus.

      „Wenn sie noch zur Schule gehen, warum sind Sie dann von zu Hause ausgezogen?

      „Wir waren schon immer für uns alleine verantwortlich. Wir mussten auch zu Hause Geld für die Miete abgeben. Für Essen und Kleidung mussten wir selber sorgen. Warum wir ausgezogen sind? Das ging so plötzlich, da hatte ich keine Zeit zum Nachdenken.“

      „Sie sprechen immer von wir. Wer ist wir?“

      „Meine beiden Stiefschwestern, Susanne und Rita und ich …“, Lilly stockte. Sollte sie diesem Fremden von der Polizei alles erzählen? Warum? War das wichtig? Hatte das etwas mit dieser unbekannten Leiche zu tun? Lilly sprach ungerne über ihre Mutter. Sie schämte sich. Lieselotte hatte ihren Vater aus seiner eigenen Wohnung rausgeschmissen. Sie hatte ihn angeschrien und geschlagen. Jetzt war ihr Großvater tot und sie hatte nichts für ihn tun können. Sie war dreizehn Jahre alt gewesen, als er starb. Sie war genauso hilflos dem Toben ihrer Mutter ausgesetzt wie ihr Großvater. Lilly schämte sich, überhaupt daran zu denken. Die Schande fiel auch auf sie zurück. Lilly schwieg.

      Hegmann wartete. Er hatte so einiges bei der Familie Schwitters mitbekommen. Ihm war auch klar, dass dies nur die Spitze eines Eisberges war. Warum wollte er das wissen? Das ging ihn nichts an. Was immer hier zu Tage kam, war kein Fall für die Kriminalpolizei. Sollte er das Mädchen der Jugendfürsorge übergeben? Das würde das Übel nur noch schlimmer machen. In den Spezialheimen der Kinder- und Jugendfürsorge herrschten unvorstellbare Verhältnisse. Er hatte in seinem Beruf so einiges mitbekommen. Die Kinder wurden geschlagen, eingesperrt und missbraucht. Dieses Mädchen hier hatte niemals aufgegeben. Sie kämpfte für eine bessere Zukunft. Sie war fest entschlossen, sich durchzubeißen. Sie arbeitete hart, um lernen zu können. Im Spezialheim war sie ausgeliefert und abgestempelt. Hier würde ihr Wille und Lebensmut zerbrochen. Herbert Hegmann war ratlos. Wie konnte man gegen Frau Schwitters vorgehen? Sollte man sie polizeilich melden? Wenn ihr das Erziehungsrecht abgesprochen würde, würden diese Mädchen auch wieder in der Jugendfürsorge langen. Das konnte er diesem Mädchen hier nicht antun.

      Am einfachsten ist es immer, nach Dienstvorschrift zu handeln. Hier war so ein Fall, den er an die entsprechende Stelle weiterleiten konnte, aber Hegmann saß fest im Konflikt seiner eigenen Gefühle. Dieses schmächtige Mädchen mit den klaren Augen und dem festen Willen, sich alleine durchzubeißen, konnte er nicht einfach zur Seite schieben. Vielleicht konnte er sie einfach nur beobachten und versuchen, ihr privat zu helfen. Vielleicht … Hegmann fühlte sich hilflos: „Sind Sie am Freitagnachmittag um fünf Uhr wieder in der Piano-Bar?“ Lilly nickte. „Ich habe jetzt keine Zeit mehr, ich hätte Sie aber gerne noch einmal gesprochen.“

      Am Freitagnachmittag um fünf Uhr war Kriminalkommissar Hegmann pünktlich in der Bar. Das war eine Berufsgewohnheit von ihm. Er bekam Kaffee. Einen Cognac? Ja! Er war nicht im Dienst. Wie sollte er das erklären? Musste er überhaupt was erklären?

      Lilly schwieg. Sie wartete. Er würde schon sagen, was er wollte. Die ersten Gäste kamen. Ein Musikstudent spielte nachlässig auf dem Piano. Neben ihm stand ein Mädchen. Sie trällerte die Tonleiter rauf und runter und wärmte die Stimme an. Lilly lief ein paar Mal zur Bar, bediente einige Kunden und kam zum Tisch zurück, wo Herbert Hegmann saß. Hegmann fühlte sich unbehaglich. Er hatte hier nichts zu tun. Er hatte auch woanders nichts zu tun. Er war paralysiert und unfähig, die Dinge entspannt auf sich zukommen zu lassen. Er war unfähig, einfach wegzugehen.

      „Sie sprechen nicht gerne über Ihre Familie?“

      „Familie?“ Lilly lachte. „Hier laufen so viele Leute herum, die sich aussprechen wollen, anonym und unverbindlich. Familie? Das ist ihr Lieblingsthema. Das Wort Familie bedeutet für sie anklagende Blicke, resigniertes Kopfschütteln und bittere Zerknirschung. Wollen Sie das von mir hören?“

      Hegmann sagte nichts mehr. War er so dumm oder war dieses junge Mädchen so tief verletzt, dass sie ihm nicht einmal antworten konnte? Lilly sprang auf, ging zum Tresen und bediente. Hegmann hatte seinen Kaffee ausgetrunken, das war der richtige Augenblick, um zu gehen. Er ging nicht. Lilly kam wieder an seinen Tisch zurück. Sie brachte noch einen Cognac mit.

      „Der