Aline S. Sieber

Dryade


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Umständen zum Trotz bei guter Gesundheit war. Und, dass es ihm selbst vielleicht irgendwie gelang, zu fliehen, auch wenn er die meiste Zeit unter Beobachtung stand.

      Seine Füße waren gefesselt, als er erwachte. Er sah direkt in die Augen eines Vampirs. Genau, wie es Vampire waren, die ihn schon seit Tagen gefangen hielten. Seit er Matt das letzte Mal gesehen hatte und ihm die Nachricht vom Herzinfarkt ihres Vaters überbracht hatte. Seinem Vater. Wie es ihm wohl gehen mochte? Ob er noch lebte? Nico hoffte es mit jeder Faser seines Herzens… Und seit dann herrschte in seinem Kopf irgendwie Leere, die aus der Unfähigkeit, zu denken, resultierte.

      Sein Überlebenswille schaltete sich ein.

      Nico zuckte zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Prompt umfloss Schwärze seine Augenwinkel. Er zwinkerte mehrmals, um sie wegzubekommen. Wenn er ohnmächtig würde, würde alles nur noch viel schlimmer werden. Der Vampir lachte höhnisch.

      „Du kommst hier nicht weg, Kleiner.“

      Eine Hand schnellte vor und hielt ihn fest, wo er war. Der Vampir beugte sich vor.

      „Wir werden sicher viel Spaß zusammen haben.“

      Mit einem Fingernagel grub er eine blutige Furche in die Wange des Jungen. Dann leckte er das Blut ab. Die Hand, die noch frei war, umfasste Nicos Handgelenk. Der Junge schrie auf, als sein Peiniger plötzlich zudrückte. Es knackte schmerzhaft.

      Während der Junge zurücksank, runzelte sein Peiniger die Stirn. Dann breitete sich ein sadistisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er beugte sich vor, um dem Jungen etwas ins Ohr zu flüstern.

      „Alles Gute zum Geburtstag, Dryade!“

      Er lachte und ging, um die gute Neuigkeit seinen Kumpanen zu berichten. Sie hatten hier einen Fang gemacht, der Gold wert war! Ein Dryade, dessen Wandlung gerade erst begann, würde von Tag zu Tag besser schmecken!

      Nico machte sich unterdessen so klein wie möglich, um den ständigen Zugriffen möglichst wenig Fläche zu bieten. Was hatte der Vampir zu ihm gesagt? Dryade? Was zum Teufel sollte das sein?

      Vor seinen Augen verschwammen die Wände und begannen, sich zu drehen. Er schloss die Augen.

      New Orleans, Vereinigte Staaten von Amerika, 2011

      „Verdammt!“

      Matt schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Mutter beobachtete ihn besorgt, während seine jüngeren Geschwister erschrocken auseinander stoben.

      „Beruhige dich, Mattheus! Nicht vor deinen Geschwistern!“

      Als Matt sie etwas genauer musterte, sah er die Schatten unter ihren Augen. Sein Vater war nicht wieder aufgewacht, im Gegenteil. Caleb Sierewski war nur eine halbe Stunde nach seiner Ankunft im Krankenhaus verstorben. Seinen Leichnam hatten sie bereits dem Bestatter übergeben, um sicherzustellen, dass die Ärzte des Krankenhauses nicht auf die Idee kamen, ihn zu obduzieren. Das würde zu zu vielen Fragen führen, vor allem, nachdem schon seine für Menschen extrem niedrige Körpertemperatur aufgefallen war. Die Ärzte hatten so schon zu viel bemerkt, denn ihnen war ein Loch in Calebs Herzen aufgefallen, dass sie für die Todesursache gehalten hatten. Matt hingegen wusste, dass das seinen Vater mit Sicherheit umgebracht hatte. Sie würden es den jüngeren Geschwistern erst noch sagen müssen, genauso wie die Tatsache, dass Nicolai seitdem verschwunden war. Und dann würden sie den Vater so schnell wie möglich unter die Erde bringen, bevor er sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Bruder machen konnte. Er würde jedes Vampirnest in der ganzen Stadt, ja, in ganz Amerika, wenn es sein musste. Bevor er ging, würde er allerdings eine andere Bleibe für seine verbliebene Familie schaffen müssen, die sein Vater nun nicht länger schützen konnte. Caleb war ein Eismagier gewesen, allerdings war es Matt ein Rätsel, woher die Anlagen dafür kamen. Jedenfalls war es seinem Vater durch die Magie, die er ausgeübt hatte, gelungen, Angreifer von seiner Familie fernzuhalten. Eine Aufgabe, die nun Matt zufiel. Er würde seine Mutter nur ungern mit seinen jüngeren Geschwistern allein lassen, aber er musste es tun, um Nico wieder zu finden. Es war im Moment oberste Priorität, Nico aus den Händen der Vampire zu befreien, in die er ohne eigenes Verschulden geraten war.

      Matt verfluchte sich zum wiederholten Mal dafür, dass er mit den Vampiren überhaupt Handel getrieben hatte. Diese Blutsauger waren in der ganzen Mythenwelt dafür bekannt, kein Stück Skrupel im Leib zu haben. Es war seine Schuld, dass sein Bruder ihnen in die Hände gefallen war. Und das so kurz vor seiner Wandlung. Was, wenn sie ihn nun weiterverkauft hatten? Wenn sie ihn gar getötet hatten? Sein Bruder musste einfach noch am Leben sein. Er konnte nicht daran glauben, dass die Vampire, denen er die Drogen verkauft hatte, Nicolai schon getötet hatten. Denn sonst würde er wahnsinnig werden.

      Er würde Nicos Hilfe brauchen, um die Familie über die Runden zu bringen, das wusste er jetzt schon. Die lockere Art seines Bruders, gepaart mit seinem liebevollen Umgang mit den kleineren Geschwistern, hatte sie schon in der Vergangenheit aus so mancher Krise gerettet. Nico wusste genau, in welchen Situationen er wie handeln musste. Er musste ihn einfach zurückholen, es ging nicht anders.

      Seine Mutter wusste, welche neue Verantwortung auch sie jetzt übernehmen musste, aber auch sie musste sich erst daran gewöhnen. Die Zwillingsschwestern waren noch zu klein, um die Tragweite dessen zu verstehen, dass ihr Vater nicht mehr wiederkommen würde. Und Konstantin würde es wahrscheinlich aus jugendlichem Trotz einfach nicht beachten. Jetzt mussten sie die Familie durchbringen.

      Als hätte sie seine Gedanken gehört, sah seine Mutter ihn an und nickte, bevor sie aufstand und nach

      ihren jüngeren Kindern rief.

      „Olga, Wera! Konstantin!“

      Die Spielgeräusche brachen ab. Das Getrappel von Kinderfüßen auf Teppich ertönte, als die Zwillinge in das Wohnzimmer kamen. Die beiden waren hellblond, ein allerliebster Anblick, genau wie ihre Mutter. Sie sahen aus wie Porzellanpüppchen. Konstantin hingegen sah fast aus wie sein Bruder: schwarze Haare, schlank und jugendlich-schlaksig kam er ins Wohnzimmer geschlurft. Er erinnerte Nadja so schmerzhaft an Nico, dass sie sich einen Moment lang abwenden musste.

      „Wann kommen Nico und Papa wieder?“

      Damit waren sie schneller beim Thema, als Matt lieb war. Während seine Mutter sich um die Zwillinge kümmerte, kniete er sich hin, um mit seinem Bruder zu sprechen.

      „Dein Papa hat dich lieb, das weißt du. Aber er ist gestern weggegangen und er wird nie wieder kommen, Konstantin. Papa ist jetzt im Himmel.“

      „Aber er ist doch gestern noch gesund gewesen!“

      Matt sah seinem jüngeren Bruder an, dass dieser begriff, es aber nicht wahrhaben wollte. Bevor er jedoch weitere Ausführungen beginnen konnte, fragte Konstantin schnell: „Und wo ist Nico? Er ist doch nicht auch für immer weggegangen?“

      Ich hoffe es nicht, dachte Matt. Und das machte ihm Angst. Dieselbe Angst sah er in den Augen seines Bruders.

      „Ich weiß es nicht, Konstantin. Aber ich werde ihn zurückholen, egal, wie lange es dauert.“

      Das Verständnis verschwand und der Elfjährige stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will aber nicht so lange warten! Sag ihm, dass er jetzt zurückkommen soll, sofort! Ich will mit ihm spielen! Olga und Wera haben auch beide jemanden zum Spielen, nur ich nicht!“

      Dass seine kleinen Schwestern jemanden zum Spielen hatten, weil sie Zwillinge waren, ärgerte Konstantin gelegentlich, wenn weder Nico noch Matt Zeit hatten, um mit ihm zu spielen. Seine Freunde hänselten ihn manchmal wegen seiner blassen Haut, und das verletzte ihn. Aber wenn er heimkam und dann Nico da war, der ältere Bruder, der immer ein offenes Ohr für ihn hatte, und eigentlich immer bereit war, mit ihm zu spielen, dann war das schnell vergessen. Er sagte sich dann, dass die anderen im Gegensatz zu ihm keinen coolen großen Bruder hatten, der mit ihnen spielte. Und Matt war schon viel zu alt, um ihm noch nahe zu sein, zumindest empfand er das so. Jetzt, wo auch noch sein Vater nicht mehr da war…Tränen stiegen ihm in die Augen.

      Er wollte, dass ein Vater zurückkam, auch, wenn er wusste, dass das wahrscheinlich