Nox Laurentius Murawski

Terra Aluvis Vol. 1


Скачать книгу

hinter ihm … Das weit­läufige Rascheln des vom Wind durchkämmten Gras­meeres um ihn herum … – Das Knacken eines durch­brochenen Zweiges von schräg hinter ihm.

      Augenblicklich schnellte Lewyn herum und schoss den Pfeil in diese Richtung ab. Ein Schrei erklang aus dem hohen Gras. Sofort ertönte ein Rascheln aus einer völlig anderen Richtung – gefolgt von einem leisen Surren, dessen Ursache seine Schulter nur knapp verfehlte. Lydia wieherte auf und galoppierte davon. Der Blonde hingegen ließ sich kontrolliert zu Boden fallen, bevor er von der Feuerstelle weg ins Gras rollte und auf dem Weg zwei weitere Pfeile aus dem Köcher am Boden zog. Ein erneutes Surren hörte direkt in der Erde neben ihm auf, wo er eben noch sein Bein gehabt hatte.

      Während Lewyn in Windeseile einen weiteren Pfeil auflegte, bemerkte er, dass er soeben einem Bolzen ausgewichen war: schlecht gearbeitet, keine Soldaten, vermutlich Wege­lagerer. Er schoss seinen Pfeil dem akustischen Ursprung des Fremdgeschosses entgegen und suchte geduckt durch das Gras huschend nach demjenigen, den er vorhin getroffen hatte. Der junge Mann fand ihn sehr schnell; denn dort, wo jener lag, waren die Halme umgeknickt. Mit einem Satz war er bei ihm, zog den Dolch, hielt ihn dem Fremden an die Kehle und rief: "Komm raus! Zeig dich und ich verschone das Leben deines Gefährten!"

      In der Zeit, da Lewyn die Gestalt vor sich fest im Griff hielt und im schattigen Schutz des Grases auf eine Reaktion wartete, bemerkte er, dass sich sein Pfeil tief in den Oberschenkel des Angreifers gebohrt hatte. Keuchend hielt sich jener sein blutendes Bein und schien noch unter Schock zu stehen. Der Fremde trug eine viel zu große und schon sehr abgenutzte Lederrüstung und machte auch ansonsten einen eher zerschlissenen Eindruck …

      Nach einem kurzen Moment der Stille trat jemand vom Waldrand her in den Schein des Lagerfeuers – die Hände mit einer Armbrust in die Höhe gestreckt. So erhob sich auch der Blonde langsam mit seinem Opfer und zog es mit sich zum Lager zurück. Die Person in seiner Gewalt war nicht sonderlich schwer und auch mehr als zwei Köpfe kleiner als er. Ein Kind …?

      Am Feuer angekommen bedeutete Lewyn seinem Gegenüber mit einem knappen Nicken, die Armbrust abzulegen – geräuschvoll landete die Waffe im Gras. Nachdem der junge Mann dem Angreifer in seinem Griff das Kurzschwert abgenommen hatte, schubste er ihn seinem Komplizen entgegen und schwang die soeben erworbene Klinge sofort in ihre Richtung. "Was wollt ihr hier, Streuner?"

      Die unverletzte Person fing die andere auf und wich einen Schritt vor dem Blonden zurück. Sie trug einen dunklen Kapuzenumhang, aber ansonsten nicht weniger abgetragene Kleidung als ihr kleinerer Gefährte. Sie nahm ihre Kapuze ab und gab somit den Blick auf ihr halbkurzes, wild zerzaustes Haar und ihr ungepflegtes Gesicht preis, welches allerdings eindeutig einer jungen Frau gehörte. Die Fremde stierte ihn nun böse an und rief: "Wie kannste's wagen, mein' Bruder zu verletz'n!?"

      Lewyn keuchte fassungslos auf und traute seinen eigenen Ohren nicht. Er besah sich flüchtig die beiden Bolzen am Boden, ehe er mit hochgehobenen Augenbrauen zu der Fremden sprach: "Du beliebst zu scherzen, wenn du meinst, dich zur nächtlichen Stunde in mein Lager schleichen zu müssen, mich fast tödlich zu treffen, um mir dann vorzuwerfen, mich verteidigt zu haben!"

      Der Blonde hielt das Kurzschwert weiter auf sie gerichtet und wartete auf eine Erklärung. Der halbwüchsige Junge sackte zusammen, dass die Frau in die Knie ging, um seinen Sturz abzufangen. Sie legte ihn vor sich ins Gras und funkelte den langhaarigen Mann stinksauer an: "Ihr Großstädter habt doch eh' nichts and'res als 'n Tod verdient! – Und jetz' hilf endlich meinem Bruder, sonst stirbt er!"

      Lewyn konnte nicht anders als trocken aufzulachen. "Was für ein freches Biest bist du eigentlich?!", erwiderte er und schüttelte ungläubig den Kopf, "Ich war nicht derjenige, der euch hier angefallen hat! Hilf ihm doch selbst, denn es scheint ja nicht das erste Mal zu sein, dass ihr arglose Reisende überfallt!" Damit ließ der junge Mann das Schwert sinken und murmelte abschließend: "… Und deine Treffsicherheit wird auch nicht von ungefähr kommen."

      Der Blonde ging hinüber zur Armbrust, hob sie auf und legte das schartige Kurzschwert des Jungen zusammen mit seinem eigenen Bogen zum Köcher auf die Erde zurück. Dann setzte er sich hin und betrachtete die Armbrust: einfache Bauweise, nichts für lange Distanzen. Ein Wunder, dass sie ihn damit fast zwei Mal getroffen hatte.

      Als Lewyn zu der Fremden hinübersah, bemerkte er allerdings, dass sie ihn immer noch hasserfüllt anstarrte. "Und? Was erwartest du nun von mir?", meinte er und lachte sarkastisch, "Dass ich mich vielleicht noch dafür entschuldige, deinen Bolzen ausgewichen zu sein …?!" Der langhaarige Mann zog die beiden Geschosse in seiner Umgebung aus der Erde und hielt sie kopfschüttelnd der jungen Frau hin, bevor er diese zusammen mit der Armbrust zum Kurzschwert legte und seinen Kopf schüttelte. "Törichtes Kind."

      Das Mädchen hatte aber noch immer nichts Besseres zu tun als ihn vorwurfsvoll anzustarren; sodass der Blonde aufseufzte, in seine Tasche griff, eine kleine Verbandsrolle herauszog und sie der Fremden zuwarf. Diese fing die Rolle zwar auf und schaute kurz darauf hinab, richtete ihren Blick dann jedoch gleich danach wieder unbeirrt auf den jungen Mann wenige Schritte entfernt.

      Lewyn sah sie stirnrunzelnd an. "Nein, ich glaube dir jetzt nicht, dass du nicht weißt, wie man einen Pfeil entfernt. Ihr führt nicht erst seit gestern dieses Leben und seid mit Sicherheit nicht immer ohne Verletzungen davongekommen." Der Blonde holte seinen Trinkschlauch hervor und nahm daraus einen großen Schluck, wobei er den Jungen aus den Augenwinkeln näher betrachtete … Jener hielt sich weiterhin sein blutendes Bein und weinte mittlerweile leise vor sich hin – Verdammt nochmal aber auch, warum musste er so ein ausgeprägtes Gewissen haben?!

      Der junge Mann schloss den Schlauch wieder und begann, nach etwas in seiner Tasche zu suchen. "Wie heißt du, Fremde?", raunte er, während er ein kleines Fläschchen hervorholte und wieder in seiner Tasche herumwühlte. Sie aber schwieg nur und starrte ihn weiterhin an. "Dein Name?!", Lewyn wandte sich ihr mit genervtem Blick zu, der eindeutig sagte: 'Entweder du kooperierst oder dein Bruder verblutet.'

      In höchster Missbilligung verengte das heranwachsende Mädchen die Augen zu Schlitzen – wovon sich ihr langhaariges Gegenüber herzlich wenig beeindrucken ließ – dann gab sie plötzlich einen zischenden Laut von sich und wandte beleidigt ihren Kopf ab. Lewyn wartete noch einen Moment, ob sie etwas sagen würde, bevor er die Tinktur wieder zurücklegen und die streunenden Jugendlichen einfach ignorieren würde …

      "Sheena", murmelte die Fremde schließlich leise und undeutlich. "'Schna'?", wiederholte der junge Mann gelassen; mehr war bei ihm nicht angekommen. "Sheeeenaaa", sie überbetonte ihren Namen, damit er ihn richtig verstand. "Geht doch." Lewyn kam nicht umhin, unmerklich zu schmunzeln, während er zwei Tücher, den Wasserschlauch, ein anderes Fläschchen und die Tinktur nahm, aufstand und zu den beiden hinüberschritt. Die junge Frau wich auf seine Annäherung hin instinktiv zurück, während sie ihren Bruder schützend in den Armen hielt. Lewyn ignorierte diese Abwehrhaltung einfach und tat, was getan werden musste.

      Er hatte ungern Menschenleben auf dem Gewissen. Für gewöhnlich begegneten ihm so weit im Landesinneren allerdings nun mal eher weniger gut gesinnte Menschen als vielmehr Banditen und Räuber. Wilde Raubtiere gab es hier in dem Landstrich noch nicht wirklich und Pflanzenfresser schlichen sich nicht derart verstohlen an. Doch es war zum ersten Mal, dass ihn solche Jungspunde – und das auch noch in so kleiner Anzahl – angefallen hatten.

      "Wie heißt dein Bruder, Sheena?", wollte Lewyn wissen, "Und was machen Kinder wie ihr allein hier draußen? Wo sind eure Eltern?" Der hellhaarige Mann hielt das Mädchen beschäftigt, während er ihr den vorhin zugeworfenen Verband abnahm, den Puls des Jungen überprüfte und seine Stirn abtastete, um herauszufinden, ob jener Fieber hatte. Nachdem er sichergegangen war, dass der Puls stabil und noch keine Entzündung auf­getreten war, begann Lewyn damit, sich die Pfeileintrittsstelle näher anzusehen. Dazu zückte er seinen Dolch und schnitt die Hose des Jungen am Oberschenkel weit genug auf, dass er die Wunde ungehindert behandeln konnte. Es war ein sauberer Schuss gewesen, deswegen war das Fleisch nicht verrissen. Der Bruder des Mädchens konnte dankbar sein, dass er nur mit Jagdpfeilen geschossen hatte, sonst wäre das Ganze äußerst hässlich geworden.

      Sheena beobachtete seine Handlungen mit sehr besorgtem und gleichzeitig gequältem Blick. Es schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen, auf die Hilfe