Nox Laurentius Murawski

Terra Aluvis Vol. 1


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      Folgte man von der Hauptstadt aus der Küste in den Süden, so traf man zuallererst auf die Grafschaft Lun am Ansatz des Drachenrückens – einem sichelförmigen Bergkamm, welcher in den Ozean hineinführte. Dabei handelte es sich um das Ende des Gebirges des Grauens, das sich fernab der Küste in den Tiefen des Meeres zerlief. Der Gebirgskamm unterteilte das Menschenreich in den fruchtbaren Norden und kargen Süden, da es die Meeresströmungen umlenkte und den Niederreichen dadurch ein trockenes Klima bescherte.

      Lun war eine verhältnismäßig kleine Grafschaft und bildete den Handelsknotenpunkt zwischen dem Norden und dem Süden. Durch seinen hohen Zoll war Lun auffällig wohlhabend und reich an Schätzen. Seine Bewohner verstanden es, ihren größtmöglichen Profit aus einer jeden Situation zu ziehen, und dabei eher selten Rücksicht auf ihre Geschäftspartner und Mitmenschen zu nehmen.

      Doch der Handel und Wohlstand stellten nur einen Bruchteil der Kultur Luns dar. Die Luniden waren in erster Linie Schön­geister, Dichter und Künstler. Wo das Wesen der Henxer vom Kampf um die Gerechtigkeit bestimmt war, so bestand das Wesen der Luniden aus der Liebe für Ästhetik, Kultur und Sinnlichkeit. Entsprechend groß war jedoch auch der Schatten der Dekadenz und Intriganz, den Lun mit sich brachte; und ein jeder wusste, dass Vorsicht geboten war, wenn man mit Luniden umging – denn sie waren Meister des falschen Spiels.

      So undurchsichtig und listig die Luniden waren, so klar und aufrichtig waren die Xorniden. Die Grafenstadt Xorn lag südlich von Lun in der Drachenbucht und war als zuletzt rettender Anker von großer Bedeutung für viele Seefahrer, welche von den unberechenbaren Wirbeln des Drachenrückens heim­gesucht wurden.

      Xorn war vergleichsweise arm und bildete den direkten Gegensatz zur Grafschaft Lun, da seine Menschen nicht im Geringsten auf materiellen Reichtum aus waren und das einfache Leben und die Familie schätzten. Xorn war die Stadt der talentierten Handwerker und tüchtigen Arbeiter. Durch die in ihren Gewässern auftretenden 'Drachenwirbel' waren die Xorniden allerdings ebenso dafür bekannt, ungeschlagen in Schiffstechnik und Seefahrt zu sein. Ihre Navigatoren zählten zu den geschicktesten und zuverlässigsten des Reiches und wurden häufig mit der Überfahrt wichtiger Frachten beauftragt.

      Den Menschen Xorns sagte man allgemein nach, dass sie ihr Herz am rechten Fleck trugen und viel Wert auf praktisch Verwertbares legten – sodass sie als Bezahlung lieber ein gebratenes Schwein auf dem Tisch als eine Münze im Geld­beutel sahen.

      An der Küste in den Ausläufern des Gebirges zur Wüste hin lag schließlich Kayran. Jene Grafenstadt war für ihre Wissenschaft und Forschung bekannt. Viele Gelehrte und Meister arbeiteten dort im direkten Auftrag des Königs­hauses – nicht selten unter Beobachtung der Wissenden selbst.

      Die Intelligenz und Auffassungsgabe der Kayraner galten als herausragend und allein ihre Errungen­schaften in der Medizin sogar als 'Wunderwerk'. Daher waren sie im ganzen Reich als Heilkundige, auch 'Medici' genannt, zu finden und wurden von den meisten Menschen entsprechend hoch geschätzt.

      Doch hörte man im Norden auch von manch anderen Dingen über Kayran und seine wissensdurstigen Forscher – von Dingen, die dem König überhaupt nicht gefielen: von dunklen Ritualen und schwarzer Magie, von Experi­menten mit Menschen, die im Wahnsinn in die Wüsten hinausgetrieben wurden und Wochen später völlig verändert zurückkehrten …

      – Das gewöhnliche Volk galt dort allerdings als besonders abergläubisch, so sah man in solcherlei Aussagen keinen ernsthaften Grund zur Beunruhigung.

      Die Hauptstadt der Menschen, Hymaetica Aluvis, vereinte letztlich alle vier Grafenhäuser in sich – sowohl vom Menschen­schlag als auch von den Eigenschaften her, die sie jeweils mit sich brachten. Nur hatte Sacris den Eindruck, als würde Hymaetica zwischen den Fronten eine eigene Identität und Orientierung fehlen. Er dachte an all die klugen Köpfe Kayrans, die tapferen Krieger Henx', die gerissenen Adligen Luns und die fleißigen Handwerker Xorns … und schüttelte den Kopf.

      Wie hart und ehrlich arbeiteten die Xorniden für ihr Brot und dachten nicht einmal im Entferntesten daran, ihre Mitmen­­schen auf dieselbe Art und Weise auszunutzen, wie es ihre Nachbarn aus Lun taten. Ja, diese verdammten Luniden …!

      Der Prinz ließ ein zynisches Schnauben hören, während er durch die verlassenen Gänge des Palastes schritt. Nun, es lag natürlich im Interesse der Luniden, ihre 'Kultur' auch in der Hauptstadt durchzusetzen. Schließlich mussten sie das Geld irgendwo herbekommen, das sie jeden Abend zusammen mit ihren adligen Gesellen aus Kayran in Rausch und Lust ertränkten.

      Voller Abscheu stieß Sacris die Tür zu den Hinterhöfen des Palastes auf und schlug den Weg zu den Ställen ein. Wie konnte es eigentlich sein, dass zwei der großen Adelsgeschlechter derart verkommen waren? Erst hatten sich Lun und Kayran gegen den König und seine loyalen Häuser Henx und Xorn aufgelehnt; und nun, wo sie gebändigt worden waren, stürzten sie die höhere Gesellschaftsschicht in den Schmutz! Und dann sollte er, Sacris, auch noch darauf bedacht sein, ihnen nicht negativ aufzufallen?! Pah! Er war doch kein Spielzeug, das alles mit sich machen ließ, was den Herrschaften angenehm erschien …! Er war der angehende König des Volkes und nicht der angehende Lakai des Adels.

      Lun und Kayran hatten sich einst gegen Xorn verbrüdert, um erst den Süden und dann die ganze Küste einzunehmen. Jedoch hatten sie die unberechenbaren Strömungen der Drachenbucht fatal unterschätzt; sodass die Truppen Henx' rechtzeitig eingetroffen waren, bevor eine ernsthafte Machtübernahme hatte stattfinden können – zumal Xorns Schiffe wesentlich robuster gebaut und seine Schiffsmänner denen der anderen in den wilden Gewässern weit überlegen waren.

      Nach diesem Vorfall hatte Henx einen Teil seiner Armee dem Grafenhaus Xorn überlassen und gemeinsam mit dem Königshaus ein Bündnis geschlossen, um das Reich zusammenzuhalten. Kayran und Lun hingegen hatten sich seither zurückgezogen und suchten ihre Machteinflüsse nunmehr im Verborgenen.

      Durch die Anwesenheit der Wissenden hatte sich die Situation zumindest in Kayran wesentlich entspannt; so waren der König und das Volk schließlich auf die Dienste der Medici angewiesen. Des Weiteren kamen sie um eine Zusammenarbeit mit dem Handelsbindeglied Lun ebenfalls nicht herum, da ansonsten der Kontakt zwischen den Ober- und Niederreichen versiegen würde. Folglich hatte König Faryen nichts dagegen einwenden können, dass sie ihren Zoll nochmals erhöht hatten …

      Sacris rümpfte die Nase in Missfallen. Diese nichtsnutzigen Parasiten …! Scherten sich einen Dreck um andere, jammerten aber lauthals herum, sobald ihnen etwas nicht passte – schlimmer als Kinder. Er durchquerte einen weiteren, mit Fackeln beleuchteten Innenhof und trat durch eine Gittertür auf eine gepflasterte Straße hinaus, die zu den Stallungen hinter dem Palast außerhalb der Stadt führte.

      Zwei henxische Krieger hielten vor den Ställen Wache und grüßten den vorbeikommenden Prinzen mit einem hochachtungsvollen "Wir grüßen Euch, Hoheit!". Der junge Mann erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Nicken, betrat den Pferdestall und schritt auf eine der hinteren Boxen zu – in welcher bereits ein großer, schwarzer Hengst aufgeregt hin und her scharrte und es kaum erwarten konnte, bis er endlich bei ihm ankam.

      Sacris tätschelte seine dunkle Nase und begrüßte ihn leise: "Na, Concurius, du vermisst Lydia auch, nicht wahr …?", er lächelte traurig, "Komm, lass uns ein wenig ausreiten. Das wird uns beiden gut tun …" Nachdem der junge Mann dem Rappen noch einmal über den Kopf gestrichen hatte, öffnete er die niedrige Tür, ließ Sattel und Zügel an der Wand hängen und verließ neben seinem Pferd schreitend das Gehöft.

      Sobald die Wachen sahen, dass das königliche Reittier völlig ungesattelt war, fragte eine von ihnen pflichtbewusst: "Hoheit, soll ich den Stallmeister rufen, damit er das Pferd für Euren Ausflug vorbereitet?" Der Prinz hielt im Gehen inne, drehte sich langsam auf dem Absatz herum und sah den henxischen Krieger mit gehobener Augenbraue an. "Ich bin sehr wohl in der Lage, mein Pferd eigenhändig zu satteln", meinte er kühl und verlieh seinen Worten durch einen vernichtenden Blick unmissverständlich Nachdruck. Infolgedessen räusperte sich die Wache verlegen, entschuldigte sich mit einem "Selbstverständlich, verzeiht, Hoheit!" und nahm wieder ihre Position am Tor ein.

      Sacris ging noch einige Schritte weiter, bevor er Concurius über die pechschwarze Mähne strich, … sodass jener stehenblieb