Nox Laurentius Murawski

Terra Aluvis Vol. 1


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höchstwahrscheinlich ebenso – wenn man die Statistiken bezüglich aller Aufbrüche zum Feld der Himmelsspeere betrachtet. Und Ihr …", der königliche Berater hielt inne und musterte den jungen Mann mit einem äußerst rätselhaften Blick, "Ihr wart vernünftig genug, ihm nicht zu folgen, und somit Euer Leben und das des ganzen Königshauses Faryen zu verschonen."

      Die trockenen Worte des Wissenden ließen die Miene des Prinzen düster werden. Eine immer größer werdende Antipathie dem Mercurio gegenüber machte sich in ihm bemerkbar. "Des Weiteren", fuhr Hal ruhig fort, "hätte ein fremdes Eingreifen in die Reise Eures Freundes, wie Ihr bereits richtig festgestellt habt, den Tod Eurer Freundschaft zum Opfer – was sich für Euch unter Umständen als noch schlimmer erweisen könnte als sein tatsächliches Ableben selbst."

      Sacris hatte mit einem Mal alle Mühe, sich zu beherrschen und nicht einfach aufzustehen, um den königlichen Berater zum Schweigen zu bringen. Er wollte es nicht hören! Es brachte nichts! Nichts außer Schmerz! Doch behielt der junge Mann auch weiterhin seine Fassung und schaffte es, dem eindringlichen Blick des Mercurios selbstsicher standzuhalten – zähneknirschend.

      "Ihm ab der Grafenstadt Henx weitere Einheiten zur Seite zu stellen", setzte Hal gelassen fort; und seine Stimme bildete einen absoluten Kontrast zur negativen Spannung, die in ihrem intensiven Blickkontakt lag, "würde lediglich zur Folge haben, dass nur noch mehr Menschen ihr Leben für eine aussichtslose Reise opfern – wenn man die Statistiken bezüglich aller Aufbrüche zum Feld der Himmelsspeere betrachtet."

      Und so schloss der Wissende kühl kalkulierend: "Die geringste Anzahl an Opfern würde somit durch die Aufrechterhaltung des Status quo gewährleistet."

      Der nüchterne Vortrag des Mercurios über die Verluste im Zusammenhang mit Lewyns Vorhaben war nicht gerade das gewesen, was sich der König erhofft hatte; so fürchtete er, dass dieser nur mehr Schaden angerichtet als geholfen hatte. Tatsächlich bemerkte er, dass sein Sohn den Worten des Wissenden mit wenig Begeisterung begegnete.

      Sacris starrte den kahlköpfigen Mann über sich unbeirrt und über alle Maßen finster an. "Ach, wirklich …?", ging er grimmig auf seine Worte ein, "Nun, stellt Euch einmal vor, dass ich all das schon gewusst habe. Vielen Dank für die Darlegung des ohnehin schon Offensichtlichen!", und er deutete erst auf sich und danach auf ihre Umgebung, "Was meint Ihr denn bitte, warum ich mich gerade hier befinde? Und warum ich auch nichts weiter unternommen habe, um Lewyn in der Ferne aufzuhalten oder anderweitig mit Truppen zu unterstützen?"

      Der Prinz stand ruhig auf, ohne den Blickkontakt zum Mercurio zu unterbrechen, und fuhr nahtlos fort: "Und damit Ihr auch noch jenes wisst, 'Wissender': Es war Lewyn selbst, der bereits von vornherein jede Hilfe meines Vaters abgelehnt hat – da ihm offenbar klar gewesen ist, wie unglaubwürdig das alles auf andere wirken musste. Immerhin hat er es noch nicht einmal geschafft, mich, seinen besten Freund!, davon zu überzeugen."

      Sacris kniff seine Augen unmerklich zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. "Tut also bloß nicht so, als würden Eure 'Ratschläge' zu irgendetwas nütze sein!", er rümpfte flüchtig die Nase, während seine Stimme mehr und mehr zu einem Zischen wurde, "Ihr redet viel und wisst …", er nickte verbittert, "… ja, wisst gewiss noch wesentlich mehr als Ihr nach außen hin preisgebt. Aber Eure Zunge ist ungezügelt und scharf, nimmt weder Rücksicht auf Gefühl noch Zustand desjenigen, mit dem Ihr sprecht; so rate ich Euch dringend, in Euren 'allumfassenden Büchern' nachzuschlagen, was es mit den Begriffen 'Taktgefühl' und 'Mitleid' auf sich hat."

      Der König beobachtete die Reaktion seines Sohnes ernst und nachdenklich … Sacris bot dem Mercurio offenkundig die Stirn und wirkte im Vergleich zu all den anderen Menschen völlig unbeeindruckt von dessen autoritärem Auftreten. Der Wissende hatte während der Tirade des Prinzen eine Augenbraue gehoben und seinen Blick ebenso beherrscht erwidert wie er ihn von dem jungen Mann empfangen hatte. Sowohl der König als auch der Berater schwiegen.

      "Wenn Ihr nichts mehr zu sagen habt, werde ich mich nun zurückziehen", endete Sacris knapp und nickte seinem Vater kurz zu, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und den Thronsaal verließ. Der Mercurio sah ihm mit einem still interessierten Blick nach. Der König seufzte.

      Sacris ging zielstrebig auf sein Zimmer zurück und war innerlich erleichtert, keinen weiteren ungewünschten Personen auf dem Weg begegnet zu sein. Als er in seinen Gemächern an­gekommen war, griff er nach dem Wasserglas vom Silbertablett und trank daraus einen kleinen Schluck. Im Vorbeigehen langte der Prinz dann noch nach einer belegten Brotscheibe, biss in diese hinein und ging damit im Mund weiter zum Stuhl neben seinem Bett hinüber. Er nahm das darum gehangene Schwert, gürtete es sich routiniert um, kehrte dabei wieder zum Tisch zurück – und biss nun endlich erstmals ein Stück von seinem Brot im Mund ab. Nachdem er es mit einem weiteren Schluck Wasser hinuntergespült hatte, verließ der dunkelhaarige Mann den Raum auch schon wieder.

      Sacris war das Ganze zuwider: Er hielt es nicht aus, erleben zu müssen, wie der ganze Adel Jahr um Jahr immer dekadenter wurde. Seit Frieden im Reich herrschte, kam es dem Prinzen vor, als wäre jeder Mensch, der es sich leisten konnte, dem Genuss und Amüsement verfallen. Zu ihren immer ausfallender werdenden Aufzügen kam nun hinzu, dass er zunehmend auf betrunkene Adlige im öffentlichen Teil des Palastes traf, auch wenn Sacris zugeben musste, dass ihn bisher noch niemand auch nur im Ansatz so ungehemmt angefallen hatte wie die Weibsbilder im Säulengang vorhin.

      Die Menschen hatten sich vorrangig an den Küstengebieten des südlichen Gebirges bis hin zu den Wüsten von Rayuv ausgebreitet. Sie handelten hauptsächlich über Hafenstädte und Schiffe, da das Landesinnere weitestgehend unbewohnt war und es kaum zugängliche Pässe gab, welche über die hohen Gipfelkämme der Berge führten.

      Die Menschen fürchteten die Einsamkeit des Gebirges des Grauens. Nur wenige Pflanzen und Tiere vermochten in jener Ödnis zu überleben – und man erzählte sich von einem unvorstellbaren Schrecken, der dort wohnte: einem Grauen, welches Mark und Bein erschüttern ließ. Niemand verlor auch nur ein Wort darüber, was einem in der Abgeschiedenheit jener Berge begegnen mochte; doch mied ein jeder sie wohl wissend, dass sie gleich dem Feld der Himmelsspeere ein Ort ohne Rückkehr waren.

      Es gab vier mächtige Grafenhäuser, welche die Pfeiler des Menschenreiches darstellten: Henx, Lun, Xorn und Kayran. Jedes von ihnen verfolgte einen eigenen Kodex und hielt bestimmte Werte und Prinzipien für heilig. So verkörperten die vier Grafenhäuser gänzlich unterschiedliche Ansichten von Kultur, Wissenschaft und Moral und hatten ihre Rivalitäten unter­einander nie ganz abgelegt. Allerdings gab es mit der Herrschaft König Faryens III seit Ewigkeiten erstmals wieder ein vereintes Reich – und dass dies mit dem plötzlichen Auf­tauchen der Wissenden zu Beginn seiner Regentschaft zusammenhing, war ein offenes Geheimnis.

      Das Königshaus Faryen hatte seinen Sitz in Hymaetica Aluvis, der Hauptstadt der Menschen, während die Grafenhäuser Henx, Lun, Xorn und Kayran in ihren gleichnamigen Städten residierten.

      Die Menschen jenseits dieser fünf Großstädte waren meist eher einfach gestrickt und lebten von Viehzucht und Landwirtschaft. Über die Jahrhunderte hinweg hatte sich ein starker Ahnenkult manifestiert, der ohne geistliche Führungspersonen in Tempelanlagen praktiziert wurde. Dabei wurden die Verstorbenen rituell in dem Glauben verbrannt, dass ihre Lebenserfahrung in den Baum der Väter einging und zur Weisheit für die Könige wurde.

      Die Kriegerfestung Henx war die einzige Grafenstadt, welche sich nicht an der Küste zum Ozean der Träume befand. An der Quelle des Tical auf dem Pass zur Senke des Schicksals gelegen sorgte Henx für die Sicherheit des Reiches – indem es die beständig von außen einfallenden Exenier-Horden am Großen Wall zurückschlug. Da die Grafenstadt Henx als Festungsanlage zwischen zwei Bergen errichtet worden war, stellte sie die nördliche Bastion gegen die hereinfallenden Anderwesen vom Norden, Osten und Westen her dar.

      Henx besaß die am besten ausgebildeten Truppen des ganzen Menschenreiches und hatte sie bei Weitem auch am häufigsten einsetzen müssen. Entsprechend wies der Graf von Henx einen unübertroffenen, militärischen Erfahrungs­schatz auf; sodass es niemanden wunderte, dass er zugleich der Oberbefehlshaber der menschlichen Armee war. Die Grafschaft Henx hatte dem König seit jeher treu gedient und ihre Krieger dienten als Hüter des Gesetzes im ganzen Menschenreich.

      Die