Nox Laurentius Murawski

Terra Aluvis Vol. 1


Скачать книгу

Stimme wurde plötzlich finster, "… der is' verschleppt word'n … schon vor viel'n Woch'n – keine Ahnung von wem oder was. War'n keine Spuren oder so zu seh'n." Der Blonde sah stirnrunzelnd auf, während Sheena immer aufgebrachter wurde. "Einfach weg! Alles steh'n un' lieg'n gelass'n! Die Leute sag'n alle, 's war'n diese Wölfe, aber ich glaub' den' nich'! Un', un' mein Bruder erst recht nich'!" Ihr Tonfall war zum Ende hin immer bissiger und schmerz­erfüllter geworden und sie betrachtete das verletzte Bein ihres Bruders beklommener denn je …

      "Verschleppt?", hakte Lewyn ernst nach, "Ohne jede Spur?" – "Ja, Mann, sagt' ich doch grad'!", warf das Mädchen zurück, "Und jetz' sind wa hier allein un' wiss'n nich', was wa jetz' mach'n soll'n." Der Blonde nickte nachdenklich und wandte sich wieder der Verletzung des Jungen zu. Er begann allmählich zu verstehen, wie es zu alldem hier gekommen war. "Deswegen habt ihr also angefangen, Leute zu überfallen", murmelte er, "um euch selbst am Leben zu erhalten …"

      Das Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern und erwiderte: "Ja, was sollt'n wa denn bitte sonst tun? Diese ganz'n Stadt­leute in Rafalgar, die hab'n uns schnurstracks rausgeschmiss'n und gesagt, wir soll'n wo anders hin!", und sie verstellte ihre Stimme zu einem abfälligen Keifen, "'Für Bettler un' Streuner kein' Platz' un' so! Halt'n sich eben für was Bess'res, diese elenden Stadtleute, pah!" Der junge Mann blickte ungläubig auf. Er wusste ja, dass die Menschen in Rafalgar sehr stolz sein konnten, aber verwaiste Kinder abzulehnen …! – Lewyn schüttelte seinen Kopf und arbeitete weiter. "Ihr hättet nach Hymaetica kommen sollen", meinte er gefasst, "Es gibt dort sogar eine spezielle Einrichtung für Kinder wie euch, die mittellos von ihren Eltern zurückgelassen worden sind."

      Sheena sah ihn auf einmal mit großen, überraschten Augen an. "Wirklich?!" Dann zügelte sie sich aber schnell wieder und setzte erneut ihren misstrauischen Gesichtsausdruck auf. "Warum sollt'n die sich um solche wie uns kümmern …? Alles gelog'n-!" – "Warum sollte ich dich anlügen?" Der Blonde hatte die Wunduntersuchung abermals unterbrochen und schaute sein weibliches Gegenüber nun ruhig schweigend an …

      Je länger sich Lewyn mit den beiden Jugendlichen befasste, desto jünger kamen sie ihm vor: Das Mädchen zum Beispiel, welches er noch vor Kurzem fast für eine ausgewachsene Frau gehalten hatte, machte auf ihn mittlerweile den Eindruck, als hatte sie nicht mehr als vierzehn, … vielleicht fünfzehn Winter erlebt.

      Sheenas dunkelgrüne Augen begannen zu flackern, als sie der junge Mann so aus der Nähe musterte; und auf ihren Wangen zeichnete sich ein Hauch von Röte ab. "Weil … w-weil …", stammelte sie jäh verunsichert und musste sich zusammenreißen, "… weil ihr uns're Väter un' Mütter verschleppt habt!!!"

      Lewyn wich unter der Wucht ihrer Worte zurück. Mit so einer Anschuldigung hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Es folgte ein höchst angespannter Moment der Stille, … bevor der Blonde in berstendes Gelächter ausbrach und damit einige Vögel in den nähergelegenen Bäumen aufscheuchte.

      "Und was genau", setzte der Lewyn schließlich äußerst vergnügt an, nachdem er sich wieder gefangen hatte, "sollten 'wir elenden Stadtleute' mit euren Eltern tun, nachdem wir sie verschleppt haben?" Sheena war sichtlich erbost darüber, dass sie von ihrem Gegenüber nicht ernst genommen wurde. Aber jener lachte nur: "Sie vielleicht als Sklaven in unseren Häusern halten, damit sie für uns kochen und putzen?!" Der Blonde sah sie unter erneutem Kopfschütteln an und tät­schelte grinsend ihren zerzausten Kopf. Das Mädchen duckte sich daraufhin weg und fauchte ihn an, wobei sie seine Hand abschüttelte.

      Doch dann ließ Lewyn von ihr ab und richtete seinen Blick wieder auf die Wunde vor ihm … Sein Lächeln war verschwunden. "Weißt du eigentlich, dass auch aus den großen Städten nicht wenige Menschen verschwinden?" Und wesentlich leiser und ernster fügte er dann an: "Vor wenigen Tagen hat es meine beste Freundin erwischt." Der junge Mann wartete nicht auf eine Antwort, sondern legte das große Tuch vorsichtig um die Pfeileintrittsstelle, bevor er das Fläschchen öffnete und eine klare Flüssigkeit über die Wunde goss. Kayne schrie prompt auf und krümmte sich, sodass Lewyn ihn wieder zur Erde hinab drücken und seiner Schwester bedeuten musste, ihn festzuhalten. Dann umfasste er den Pfeil so nah am Ansatz wie möglich und zog ihn vorsichtig und routiniert aus dem Bein des Jungen heraus – welcher daraufhin abermals aufschrie.

      Sheena stand unter sichtlicher Anspannung und zuckte bei jedem Schrei zusammen, während sie die Handgriffe des langhaarigen Mannes mit gebanntem Blick verfolgte. Sofort nachdem der Pfeil entfernt worden war, presste Lewyn das große Tuch auf die nun noch stärker blutende Wunde und wies das Mädchen an, das Andrücken für ihn zu übernehmen. Der Blonde nahm etwas von der Tinktur und tränkte damit ein zusammengefaltetes, kleineres Tuch. Danach ersetzte er den großen, blutgetränkten Stofflappen durch das nasse Tuch und schickte sich dann an, das Bein zu verbinden.

      Kayne wimmerte vor sich hin und hatte die Augen schmerz­erfüllt zusammengekniffen, war aber offenbar noch immer zu schockiert, um die Situation wirklich zu begreifen. Nachdem Lewyn die Wundbehandlung abgeschlossen hatte, fasste er ihm wieder prüfend an die nunmehr schweißgebadete Stirn und redete ihm in beruhigendem Tonfall zu: "Schhh, ganz ruhig, gleich sollte der Schmerz nachlassen. Ruhe dich aus." Er stand mit den eben verwendeten Gegenständen auf, legte die Tinktur in die Tasche zurück und sprach, ohne sich Sheena zuzuwenden: "In deiner Nähe sollte eine Decke liegen. Nimm sie und leg sie über deinen Bruder, damit er nicht auskühlt."

      Anschließend entfernte sich Lewyn vom Lagerfeuer, nahm den blutigen Stofflappen sowie den Pfeil und wusch sie zusammen mit seinen Händen unter Zuhilfenahme der klaren Flüssig­keit und seinem Wasserschlauch über der Wiese aus. Am Ende breitete er den Lappen in der Nähe des Feuers zum Trocknen aus und legte den Pfeil zurück in seinen Köcher.

      Doch der junge Mann blieb nicht bei den Kindern, sondern hielt nun Ausschau nach Lydia. Als er sie nirgends auffinden konnte, pfiff er laut mit seinen Fingern in die Nacht hinaus. Kurz darauf wehte der Wind ein leises Wiehern zu ihm herüber – und schon wenig später zeichnete sich bereits die Silhouette eines schlanken Pferdes gegen den Sternen­himmel ab.

      Lewyn kam Lydia entgegen und tätschelte behutsam ihre Nase, bevor er sich zu ihr vorbeugte und besänftigend zuredete: "Na, hast dich ganz schön erschreckt, was, meine Gute …?" Die Stute wieherte zutraulich auf und trabte kurz auf der Stelle, bevor sie wieder ruhig wurde. Der junge Mann lachte leise, ehe er eine Hand an ihre Seite legte und sie vom Lagerfeuer fort führte.

      Nach einer Weile blieben sie an einem weich abfallenden Wiesenhang stehen, der einen weiten Ausblick in die Ferne zurück Richtung Westen bot. Schwer seufzend setzte sich der Blonde auf die Erde und stützte die Hände hinter seinem Rücken ab, um zu den hellen Sternen über ihnen hinauf­zublicken. Sie waren wunderschön … Auch der Schimmel ließ sich nun gemächlich neben ihm im Gras nieder und schnaubte müde vor sich hin, während sein Schweif ab und zu aufpeitschte. Lewyn fuhr mit seinen Fingern durch die weiße Mähne der Stute, lächelte und lehnte sich dann seitlich an sie an. "Ach, Lydia, wenn ich dich nicht hätte …" Er seufzte erneut und schaute wieder zum klaren Nacht­himmel auf …

      "Wie war sie …?", ertönte es plötzlich kleinlaut hinter ihnen. Der junge Mann wandte seinen Kopf zur Seite und sah, dass das fremde Mädchen einige Schritte von ihm entfernt im Gras stand und ihre Hände knetete. Sie fühlte sich offen­sichtlich unwohl … Lewyn hob eine Augenbraue, legte die Stirn in Falten und blickte wieder zum Himmel hoch. Dann erwiderte er nachdenklich: "Celine gehört zu den gut­mütigsten Menschen, die mir je begegnet sind …" Er vernahm ein leises Rascheln, bevor er merkte, wie sich Sheena neben ihn ins Gras setzte.

      Als der Blonde aber nichts weiter von sich gab, begann das Mädchen, ihn zum ersten Mal genauer zu betrachten: seine langen Wimpern, seine schmale Nase, seine geschwungenen Lippen, sein rundes Kinn … Die kurzen Strähnen seiner hellen Haare umspielten sein schlichtweg schönes Gesicht im Wind, während die längeren Strähnen nur vereinzelt träge hin und her flatterten. Sheena fand allerdings, dass die Augen des jungen Mannes – sofern sie nicht gerade von fliegenden Haaren verdeckt wurden – irgendwie furchtbar einsam in die Ferne gerichtet waren …

      "Sie bedeutete dir sehr viel, nich' wahr?", wagte das Mädchen zaghaft die Stille zu durchbrechen. "Hör bitte auf, von ihr zu sprechen, als sei sie schon tot!", zischte Lewyn plötzlich und warf ihr einen harschen Blick