Viktoria Horstbrink

Melodie


Скачать книгу

wiedergibt, ist es, als ob man auf der Bühne eines Opernhauses entlang geht.

      Als einer der beiden Aufzüge sich öffnet und Herr Lehmann darin wartet, muss Vivian tief durchatmen. Herr Lehmann ist einer der wenigen Personen aus der Geschäftsleitung, die Vivian absolut nicht leiden kann. Seine dauernden kleinlichen Beschwerden sind störend und nervenaufreibend. Doch sie lässt sich nichts anmerken und stellt sich lächelnd neben ihn in den Fahrstuhl. Im Meetingraum sind bereits fast alle anwesend. Die Damen und Herren stehen plaudernd um den Kaffeetisch. Während sie laut lachen und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen, baut Vivian Laptop und Beamer auf und überfliegt noch ein letztes Mal ihre Unterlagen.

      Nachdem die Teilnehmer der Präsentation kurz darauf auf den Stühlen am Konferenztisch Platz genommen haben und erwartungsvoll auf Vivian schauen, steht sie auf, blickt zu Wilfried, der ihr beide Daumen hoch hält und sieht dann in den Rest der Runde. Anfangs erläutert sie die Ausgangslage des ersten Quartals im Visionex Fiskaljahr für ihr verantwortliches Produkt Gorgeous Hair. In den Monaten Dezember bis Februar lief der Absatz stabil, ohne große Promotionsaktivitäten oder Preissenkungen. Im zweiten Quartal, März bis Mai, ging der Absatz zurück, trotz größerer Promotionsaktionen, wie zum Beispiel Sonderplatzierungen bei einigen Handelspartnern und Handzettel in Tageszeitungen. „Der Absatzrückgang ist darauf zurückzuführen, dass ein Konkurrenzunternehmen ein neues Produkt, namens Watershine, auf den Markt gebracht hat, bestärkt durch Fernseh- und Radiowerbung, sowie Coupons“, erläutert Vivian und beruft sich hierbei auf die Analyse des Marktforschungsunternehmens.

      „Wissen wir, welche Käufergruppe zu dem neuen Produkt gewechselt ist?“ fragt Herr Lehmann. Am liebsten würde sie ihm sagen: „Wenn Sie der Marktforschungsabteilung auch nur Ansatzweise ein legitimes Budget zur Verfügung stellen würden, dann könnte ich Ihnen diese Frage mit Leichtigkeit beantworten“, stattdessen antwortet sie sachlich: „Leider können wir hierzu keine professionelle Aussage treffen, da uns bislang keine Informationen darüber vorliegen.“ Um weitere Diskussionen zu vermeiden und nicht aus dem Konzept zu kommen, führt sie ihre Präsentation umgehend fort. „In den Handelsunternehmen, in denen das neue Produkt Watershine nicht eingeführt worden ist, sind wir von dem Absatzrückgang nicht betroffen. Im Gegenteil, wir können sogar ein leichtes Plus verzeichnen. Es bleibt abzuwarten, ob die Kunden dauerhaft das Produkt bevorzugen oder wieder zu unserem Produkt Gorgeous Hair zurückkehren. Der Preis spielt derzeit keine Rolle, da beide Produkte in derselben Preisklasse liegen.“

      Es werden noch einige Punkte zu den laufenden Produktionskosten angesprochen und zu eventuellen Werbekampagnen. Zum Schluss bittet Vivian die Vorstandsmitglieder ihr Budget auf Ausschöpfungsmöglichkeiten zu prüfen. Studien über die Käufergruppen sind zwingend notwendig, um geplante Werbekampagnen gezielt auszurichten.

      Als sie ihren Laptop und Beamer herunterfährt, kommt Wilfried auf sie zu und lobt sie: „Gut gemacht, Vivian. Wie immer. Aber ich habe ja auch nichts anderes von dir erwartet!“

      Vivian freut sich sehr über dieses Kompliment. Sie wird Wilfried sehr vermissen, denn in ein paar Monaten wird er in den Ruhestand gehen. Sie arbeitet schon seit über neun Jahren mit ihm zusammen und schätzt ihn sehr. Er hat eine offene, direkte Art und weiß gleichermaßen ihre geradlinige, wenn auch manchmal temperamentvolle Art zu schätzen. Sie wird nicht nur Wilfried Schneiders trockenen Humor und seinen Teamgeist vermissen, sondern auch die Sicherheit, die er ihr gegeben hat. Nicht nur, dass er sie beruflich gefördert hat, er war es auch, der es ihr ermöglichte jeweils drei Monate nach der Geburt der Kinder, in ihren Job zurückzukehren. Kein anderer hätte sich für Vivian so stark gemacht. Vor allem nicht nach dem zweiten Kind. Bevor Vivian das erste Mal schwanger wurde, hatte sie in kürzester Zeit sehr viel erreicht. Nachdem sie neben dem Beruf ihren Universitätsabschluss absolviert hatte, war sie mit 22 Jahren die jüngste Produktmanagerin in ihrem Unternehmen gewesen. Aber die Erfolge der Vergangenheit zählen heutzutage nicht mehr.

      Vivian ist noch nicht richtig am ihrem Schreibtisch angekommen, kommt Petra wieder auf sie zu. „Entschuldige, dass ich dich wieder überfalle, aber Torben hat wieder angerufen. Er bittet dich, sein Telefon zu übernehmen. Wenn Herr Weide von TradeMart anruft, sollst du ihn auf morgen vertrösten oder dir genau sein Problem beschreiben lassen und mit den Kollegen eine Lösung finden.“

      „Typisch Torben! Keiner hat wichtige Arbeit, nur er“, erwidert Vivian und weiß, dass sie so offen nur gegenüber Petra sein kann. „Stell seinen Apparat auf mich um. Aber ich gehe jetzt erst mal essen. Ich bin nämlich mit Veronika in der Kantine verabredet.“

      Vivian legt ihren Laptop auf den Schreibtisch, nimmt ihr Portmonee und geht zur Kantine.

      Am Eingang der Kantine wartet Veronika schon auf sie. Obwohl sie in der gleichen Firma arbeiten, sehen sie sich selten. Freudig umarmen sie sich zur Begrüßung.

      „Gut siehst du aus“, begrüßt Veronika Vivian. „Vor allem so schick.“

      „Ich hatte heute eine Präsentation vor der Geschäftsleitung. Daher dieses Outfit. Aber jetzt kann ich ja wenigstens meine Haare wieder aufmachen. Ich bekomme schon Kopfschmerzen“, mit einem Handgriff öffnet Vivian ihre streng zusammen gebundenen Haare und ihre lange rot gewellte Mähne fällt wie ein Schleier über ihren Rücken.

      „Wie geht es dir?“, möchte Vivian wissen, als sie und Veronika ihre Teller an der Essensausgabe entlang schieben.

      „Och“, stöhnt sie, „ich bin es langsam leid die allein erziehende Mutter zu spielen. Markus soll sich endlich mal einen Job hier in Frankfurt suchen. Auch für unsere Beziehung ist diese Wochenendpendlerei nicht das Beste.“

      „Das kann ich mir vorstellen“, stimmt Vivian ihr zu. „Gibt es denn nicht die Möglichkeit, dass du und Amelie nach Berlin gehen?“

      „Ich kann doch hier nicht alles so einfach aufgeben. Finde mal als Mutter einen adäquaten Job. Das kannst du vergessen. Wir zwei können froh sein, dass wir schon den Job hatten, bevor wir schwanger wurden. Außerdem will ich Amelie nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen. Sie hat sich so gut im Kindergarten eingelebt, das will ich ihr nicht kaputt machen.“

      Das kann Vivian natürlich verstehen. Das wollte sie für ihre Kinder auch nicht. Aber so ganz alleine auf sich gestellt zu sein wie Veronika - das wäre auch nicht schön. Veronika hat überhaupt keine Verwandten in Frankfurt. Da weiß Vivian mal wieder zu schätzen, wie gut sie es hat, dass ihre Eltern, generell ihre Familie, in der Umgebung wohnt.

      Wie hilfreich das ist, merkt Vivian direkt nach dem Mittagessen, als sie wieder an ihrem Schreibtisch sitzt und den Anrufbeantworter abhört. „Guten Tag Frau Steenkamp, hier spricht Claudia Becker aus der Bärengruppe des St. Matthias Kindergartens. Wir bitten Sie Sarah abzuholen, da wir befürchten, dass sie Läuse hat. Danke schön.“

      Am liebsten würde Vivian laut schreien. Das darf doch nicht war sein. Ich wette David muss auch nach Hause, weil er automatisch ebenfalls unter Verdacht steht Läuse zu haben. Es bleibt Vivian nichts anderes übrig als, wie so oft, ihre Mutter zu Hause anzurufen und sie zu bitten die Kinder vom Kindergarten abzuholen und zu betreuen bis sie nach Hause kommt.

      Vivian ist sehr froh, ein so inniges Verhältnis mit ihrer Mutter zu haben. Lena war für sie schon immer ein Vorbild gewesen. Als kleines Kind hat Vivian sie mit großen Augen bestaunt, wenn sie schick gekleidet mit ihrem Vater aus dem Haus ging. Ihre Mutter legt immer noch großen Wert auf ihr Aussehen. Bis heute hat Vivian ihre Mutter immer nur geschminkt auf die Straße gehen sehen. Die Schminke ist dezent, aber so, dass sie hübsch anzusehen ist. Das versucht Vivian ihr nachzuahmen. Sie benutzt immer ein wenig Lidschatten und Lippenstift. Des Weiteren ist sie Vivian ein Vorbild, weil sie zusammen mit Vivians Vater Falk einen Schreinereibetrieb aus dem Nichts aufgebaut hat, die heute ein florierendes Unternehmen mit über 20 Angestellten ist. Aber am allermeisten bewundert Vivian an ihrer Mutter, wie intensiv sie sich um ihre Familie kümmert und schon immer gekümmert hat. Vivian findet es einfach phänomenal und wundert sich, woher ihre Mutter die Kraft nimmt. Mit 55 ist sie 26 Jahre älter als Vivian, aber es scheint als hätte sie weitaus mehr Energie als sie. Wie gerne würde sie das alles auch mit so einer Eleganz bewältigen. Eine zauberhafte Ehe und das nach 34 Jahren, ein florierendes Geschäft, Zeit für Kinder und Enkelkinder und immer gut gelaunt.