Viktoria Horstbrink

Melodie


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müsste er noch etliche E-Mails beantworten und weitere Telefonate führen, aber er schaltet den Computer aus und ruft nach seinem Hund Beaner, der sofort angeschossen kommt. Gefolgt von seinem grau-braunen Schnauzer, läuft er durch den Flur seiner Wohnung in die Küche, schnappt sich den Schlüssel, der auf der Theke liegt, und geht zusammen mit Beaner nach draußen. Er lässt den Sandstrand von Malibu und den rauschenden Pazifik hinter sich, der direkt vor dem 4-Parteien-Haus liegt, indem Jonathan sich vor 8 Jahren seine Wohnung gekauft hat. Bekleidet mit Chucks, Jeans und rotem T-Shirt läuft er ein paar Meter zu dem nahe gelegenen Park. Hier hat Beaner Auslauf auf einer grünen Rasenfläche und genügend Bäume, an denen er sein Beinchen heben kann. Sobald sie dort angekommen sind, wirft Jonathan einen zerfetzten Tennisball, dessen gelbe Farbe man nur noch erahnen kann, weit von sich. Beaner spurtet dem Ball hinterher und bringt ihn hechelnd seinem Herrchen wieder. Dieses Spiel kann unendlich wiederholt werden, ohne das einem von beiden langweilig werden würde. Während er ausgiebig mit seinem besten Freund spielt, der ihn sogar auf Welttournee begleitet hat, gehen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Es ist nicht das erste Mal, dass er nach einer Tournee in ein mentales Loch fällt. Es ist schwer in den Alltag zurückzufinden, wenn man erst monatelang im Tonstudio an einer CD gearbeitet hat, die sämtliche Kreativität, Konzentration und Inspiration gekostet hat, um danach für weitere Monate die Welt zu bereisen und fast jeden zweiten Abend ein erfolgreiches Konzert aufzuführen. Die Anspannung und Nervosität, sowie der Gedanke: Wird es eine gute Show? Werden die Fans zufrieden sein? Und dann dieses Gefühl, wenn man die Bühne betritt - Adrenalin rast durch die Adern.

      Jonathan bräuchte nach diesen anstrengenden Monaten Zeit zur Entspannung und Erholung, um all das zu verarbeiten. Doch dafür ist keine Zeit. Der Alltag hat ihn bereits wieder eingeholt, und er weiß nicht, wie er damit umgehen soll.

      Während er so lang trottet in der warmen Sonne, auf dem saftigen Grün und Eltern mit ihren Kindern beobachtet, die miteinander Fußball oder Baseball spielen, beschließt er seine Eltern zu besuchen.

      Zwanzig Minuten benötigt Jonathan, um zu seinem Elternhaus zu fahren. Es steht in Woodland Hills, einem Stadtteil von Los Angeles, im Südwesten des San Fernando Valley. In der hügeligen Landschaft stehen einladende Einfamilienhäuser, mit prachtvollen Gärten. Es blühen Azaleen und Zitrusbäume. Hohe Tannen und Palmen ragen über die Dächer empor. Er parkt seinen grauen Porsche vor der Garage der Eltern und geht einen gepflasterten Weg durch den Garten zur Eingangstür. Er fühlt sich immer geborgen, wenn er nach Hause kommt. Hier sind seine Wurzeln. In diesem zweistöckigen, weißen Haus ist er zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder aufgewachsen. In dieser Umgebung kann er ein ganz normaler Mensch sein. Einfach nur Jon. Es gibt keinen Erfolgsdruck oder Stress. Er muss nicht genau überlegen was er sagt oder wie er sich verhält. Hier interessiert man sich für ihn und nicht wie hoch die Verkaufszahlen der aktuellen CD sind, oder wann die nächste Tournee geplant wird. Die einzige Frage, die er hier beantworten muss, ist die, was er gerne essen möchte. Seine Familie ist der wichtigste Bestandteil in seinem Leben. Seine Eltern und auch sein Bruder helfen ihm immer wieder auf den Boden der Tatsachen, in die Realität zurück. Das war seit dem Beginn seiner Karriere so gewesen. Mit 16 Jahren wurde er von einem Talentsucher entdeckt, als er eine Nebenrolle im Schulmusical gespielte. Er war von Jonathan so begeistert, dass er ihm ein Vorsingen bei Daniel Lewinsky organisierte. Dass er damals überhaupt einen Ton vor Aufregung hervorbrachte, wundert Jonathan noch heute. Sein Körper zitterte damals als wäre er aus Eiswasser entstiegen. Daniel Lewinsky hat einen beachtlichen Namen in der Musikbranche und hat in den letzten Jahrzehnten etliche Musikpreise einheimsen können.

      Trotz ungeheurer Nervosität schaffte Jonathan es, ihn zu überzeugen. Von da an ging es voran wie auf einer Überholspur. Es begann mit Live-Auftritten bei Footballspielen, gefolgt von Einladungen zu Fernseh- und Radioshows, bis hin zu seiner ersten CD. Zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Debüt-Albums war er gerade 19 Jahre alt.

      Trotz des hohen Zuspruchs ermahnten ihn seine Eltern immer wieder, einen Plan B im Hinterkopf zu haben, falls der Erfolg abreißt. Sie haben ihn stets unterstützt und natürlich an ihn und seine Leistungen geglaubt, aber trotzdem dafür gesorgt, dass er nicht übermütig wurde.

      Er öffnet die Tür und ruft ins Haus hinein. Aber er bekommt keine Antwort. Er geht in die Küche an den Kühlschrank und nimmt sich eine Flasche stilles Wasser heraus. Danach streift er durch das Wohnzimmer und betrachtet sich die Bilder auf dem Kamin. Er schaut sich die Kinderbilder von ihm und seinem Bruder an. Auf einen Foto sitzen sie Arm in Arm am Strand und strahlen fröhlich in die Kamera. Jonathan lacht besonders kess in die Linse, mit einer großen Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Er muss lachen, als er an den Moment, beziehungsweise an den Abend denkt, bevor das Bild gemacht wurde. Er war acht Jahre alt und mit seiner Familie auf Hawaii. Mit einem Faden um seinen lockeren Zahn gewickelt, forderte er seinen kleinen Bruder auf, die Tür mit der der Faden verbunden war, zu zuknallen. Er hatte nicht geglaubt, dass sein Bruder sich das trauen würde, aber dieser fackelte nicht lange und schlug die Tür zu. Den Schmerz spürt Jonathan jetzt noch, wenn er daran denkt. Er betrachtet die anderen Bilder, unter anderem das, was nach seinem ersten Live-Auftritt mit seinen Eltern geschossen wurde. Wie stolz sie alle waren. Auch dieses Gefühl wird er nie vergessen. Stolz ist er immer noch auf sich und seine Band, wenn sie die Bühne verlassen und noch bis zum Tourbus die Leute applaudieren und jubeln hören. Nur kann er es heute nicht mehr so unbeschwert genießen, weil der Erfolgsdruck mit jedem Mal wächst. Was kommt als nächstes? Wirst du es wieder so gut hinbekommen? Bist du den Erwartungen gerecht geworden? Einmal ist er in einem Interview nach seiner Schwäche gefragt worden. Nach einiger Überlegung gab er zu, immer Unsicherheit und Selbstzweifel zu haben. Bei der Frage, was wiederum seine größte Stärke sei, antwortete er: Der Kampf und der Sieg gegen diese Unsicherheit. Damit hat er genau das ausgedrückt, was ihn so sehr zermürbt. Ein Außenstehender kann das wahrscheinlich gar nicht verstehen. Denn wer mit 32 Jahren bereits fünf Alben veröffentlicht und damit 50 Millionen CDs verkauft hat, sollte nur so vor Selbstbewusstsein strotzen.

      Genau aus diesem Grund ist es ihm so wichtig, den engen Kontakt mit seiner Familie und seinen Freunden aus der Jugend zu halten. Sie kennen ihn von klein auf und behandeln ihn wie einen normalen Menschen. Er geht mit ihnen zu Football- oder Basketballspielen. Sie gehen zusammen in Bars oder an den Strand, und haben einfach nur Spaß. Ihnen kann er vertrauen und sich geben wie er ist, ohne Angst davor zu haben, etwas über sich in den Boulevardblättern zu lesen. Anders ergeht es ihm bei Leuten, die er erst nach seinem Erfolg kennen gelernt hat.

      Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als sein Vater das Wohnzimmer betritt. „Na Jon, schwelgst du in der Vergangenheit?“

      „Hi Dad, ich habe mich schon gefragt, wo ihr seid. Ist Mom nicht bei dir?“

      „Sie kommt gleich. Sie unterhält sich mit Betty von nebenan. Es kann also etwas länger dauern“, gibt er grinsend von sich.

      Jonathan setzt sich auf die weiße, bequeme Stoffcouch und sein Vater nimmt auf dem Sessel gegenüber Platz. „Na mein Junge, was treibt dich her?“

      „Nichts besonders, ich wollte nur mal nach euch sehen. Es ist schon wieder so viel Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal hier war“, antwort Jonathan. Er merkt wie die Anspannung, die er noch heute Vormittag extrem gespürt hat, langsam von ihm weicht. „Habt ihr was von Patrick gehört?“, fragt Jonathan, der schon länger nicht mehr mit seinem Bruder gesprochen hat.

      „Nein, leider nicht. Er muss seiner neuen Freundin völlig verfallen sein“, erwidert sein Vater mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht.

      Jonathan muss lachen. „Ja, das muss ein gutes Gefühl sein. Bei mir ist das schon so lange her, ich kann mich kaum noch daran erinnern.“

      „Man sollte meinen dir liegen die Frauen zu Füßen“, neckt sein Vater.

      „Ja genau, das nächste Mal suche ich mir einen Fan als Freundin. Ich nehme dann eine von denen, die sich mein Gesicht auf den Oberarm tätowiert haben. Dann kann sie jeden zeigen wie ihr Freund aussieht, ohne dass ich dabei sein muss“, frotzelt Jonathan.

      Sein Vater lacht nur und schüttelt den Kopf.

      „Hey Sweetheart“, ertönt es aus dem Eingangsbereich. „Was für eine schöne Überraschung dich zu sehen“,