Sabine Engel

Familie Kuckuck wandert aus


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hat, sind die Einzelheiten. Unser neues Zuhause ist so eng und düster, dass es einer Zelle in Alcatraz Konkurrenz machen könnte. Von einem schmalen fensterlosen Flur geht rechts das Badezimmer ab, das exakt einer Person Platz zum Zähne Putzen bietet, die zweite Person stünde bereits in der winzigen Dusche. Dem Flur folgt die Wohnküche, von der aus die beiden Schlafzimmer abgehen. Durch das einzige schmale Fenster, das relativ hoch an der Wand mir gegenüber liegt, sehe ich direkt auf dünne Grashalme, die irgendwo neben der Treppe zur Frontterrasse stehen müssen. Die Decke hängt so niedrig, dass ich froh bin, dass weder Bea noch ich zu körperlicher Größe neigen. Björn könnte wahrscheinlich gerade eben aufrecht stehen, zumindest in der Mitte des Raumes. Unter dem Rauchmelder und in allen Türstürzen täte er gut daran, den Kopf einzuziehen. Sagen wir, das Apartment wirkt ein wenig gedrungen. Dabei hat Candis alle Wände in leuchtenden Farben von gelb über orange, hellgrün bis pink gestrichen. Hell wird es hier unten trotzdem nicht, zumindest nicht ohne Lampen. Diese verdunkeln sich jedoch, sobald der vorsintflutliche Kühlschrank aufbrummt, was etwa alle paar Minuten geschieht und die ganze Wohnung vorübergehend in flaue Düsternis taucht. Zum Glück ist es ja nur für den Übergang. Om.

      „Immerhin werden wir in diesem Apartment keines deiner Kinder verlieren“, stellt Bea fest. Sie quetscht sich am Kühlschrank vorbei und lässt sich zu mir auf das Futon fallen. Dann reicht sie mir ein Bier.

      „Nee, ich kann jederzeit hören, dass sie noch da sind“, stimme ich zu, „selbst wenn sie draußen spielen.“

      Die Scheiben sind so dünn, dass jedes Geräusch von der Straße hereindringt. Auch die Wände bestehen bestenfalls aus Pappe. Daher weiß ich, dass Stina und Jana gerade in ihrem Zimmer aufgeregt miteinander tuscheln. Ich höre sogar das Kratzen von Tims Buntstiften auf seinem Block.

      „Und wenn ich mich ganz weit zur Seite lehne, könnte ich Tim bestimmt durch die Wand hindurch kitzeln.“

      „Fast wie beim Zelten.“ Bea lacht und öffnet ihr Bier mit einem altvertrauten Zischen. „Dosenbier! Ich fühle mich wie 13.“

      „Shh, lass das nicht Jana hören.“

      „Keine Sorge. Deine Große trinkt bestimmt noch keinen Alkohol. Sie kommt ganz auf dich.“

      „Eher auf Björn, würde ich sagen.“

      Bea zuckt die Schultern. „Wie du meinst.“ Sie hebt ihr Bier. „Auf unsere Höhle!“

      „Spielen wir, wir sind die Croods?“, zwitschert Tim aus dem Raum hinter der Wand.

      Die Croods sind eine Steinzeitfamilie, deren Zuhause eine Höhle ist. Offenbar hat sogar mein Fünfjähriger begriffen, wo wir gelandet sind.

      „Bea hat nur einen Scherz gemacht“, antworte ich schnell und proste Bea erschöpft zu. „Auf das Abenteuer.“

      Ich gönne mir einen extragroßen Schluck und erschaudere.

      „Ihh, das ist doch kein Bier!“, keucht auch Bea neben mir. Sie verzieht das Gesicht und dreht skeptisch die Dose in der Hand. „Alkoholfrei!“

      „Mir ist jetzt alles egal.“ Ich versuche noch einen Schluck, während ich beobachte, wie ein Grashüpfer einen der Halme erklimmt, unter seinen Füßen das Gras und ganz weit über sich nur noch Himmel. Freiheit pur. Grashüpfer müsste man sein.

      „Nee, ehrlich, Jule. Ich kann viel ertragen. Aber zu sehen, wie du hier auf der Couch abhängst und alkoholfreies Bier in dich hinein kippst, das geht zu weit.“

      „Dann musst du neues holen. Ich habe für heute genug erlebt.“

      „Das mache ich. Gibst du mir Geld?“

      „Ich fürchte, der Rest unseres Bargelds ist für Sues Trinkgeld draufgegangen. Ich habe nur noch die Kreditkarte.“

      „Tja, dann musst du wohl selbst gehen.“

      „Aber …“ Eigentlich bin ich viel zu erschöpft, um zu protestieren.

      „Was macht Mama?“, piepst Tim hinter der Wand.

      „Mama Crood geht jagen und bringt gutes kanadisches Bier mit“, erklärt Bea.

      „Ich will auch jagen!“, ruft Tim.

      Jana und Stina schieben sich mit ihm durch die Tür. Für einen Moment habe ich den Eindruck, sie würden etwas verbergen. Doch dann kommen sie heraus und quetschen sich zu uns auf das schmale Sofa.

      „Okay Jule, in der Zwischenzeit werden Jana, Stina und ich Ordnung in unserer Höhle schaffen“, bestimmt Bea und deutet auf das Chaos aus Koffern und Einkaufstüten. „Jana, räum die Feuerstelle frei. Stina, du legst die erbeuteten Tiere in die Kühlfalle.“

      Meine Töchter starren Bea verständnislos an.

      „Das Fleisch muss in den Kühlschrank, Herzchen.“ Bea lacht. „Und dann könnt ihr bitte eure Koffer auspacken.“

      Zu meiner Überraschung erntet sie kein Murren. Widerspruchslos räumen Jana und Stina die Lebensmittel in den Kühlschrank und schleppen die Taschen in ihr Zimmer.

      „Lasst im Schrank noch Platz für Tims Sachen. Ich packe seine Tasche aus, sobald ich zurück bin“, rufe ich ihnen hinterher.

      „Lass nur, wir kümmern uns darum“, bietet Jana an und hilft sofort Stina, Tims Tasche und sein Spielzeug in ihr Zimmer zu tragen, bevor sie die klapprige Falttür sorgfältig hinter sich schließt.

      Einigermaßen verwirrt aufgrund dieser ungewohnten Eintracht und Hilfsbereitschaft mache ich mich mit Tim auf die Jagd.

      Leider stellt sich heraus, dass Mami keine begnadete Jägerin ist. Gemeinsam pirschen Tim und ich durch die Gänge des gigantischen Supermarkts und spähen in den Regalen nach vertrauenswürdigen Flaschen. Doch das einzige, was wir finden, sind die Dosen mit dem alkoholfreien Zeug. Sie stehen etwas abseits, im untersten Regalfach, ganz hinten im letzten Gang, als würden sie sich ihrer Existenz schämen. Neben ihnen befinden sich nur noch ein paar Kanister mit destilliertem Wasser.

      „Wir könnten uns auf die Lauer legen“, schlägt Tim vor.

      „Und darauf warten, dass das Bier von selbst vorbeikommt?“

      Mein Sohn nickt begeistert.

      „Nein, wir machen das anders“, beschließe ich. „Wir fragen die Frau an der Kasse.“

      Wahrscheinlich hätte ich besser auf meinen Sohn gehört. Denn an der Kasse erklärt mir eine junge Mitarbeiterin namens Katie, dass wir nichts übersehen haben. Der Supermarkt führe gar keinen Alkohol. Immerhin macht sie einen deutlich verständnisvolleren Eindruck als Sue, die Kellnerin. Also wage ich eine zweite Frage, erleide aber erneut eine Niederlage. Alkoholische Getränke werden nur in staatlichen liquor stores verkauft. Ob die am Canada Day geöffnet haben, weiß Katie leider nicht.

      „There is one in Whistler“, mischt sich der Mann hinter mir ein. Er trägt ein kariertes Flanellhemd und sieht aus wie ein echter kanadischer Holzfäller. Ihm fehlt nur noch die Axt. „Der ist auch an Feiertagen geöffnet.“

      „Das sind zwei Stunden Fahrt!“, weist ihn eine ältere Dame zurecht, die an der Kasse nebenan eine Tüte Äpfel bezahlt.

      „Es ist aber eine schöne Strecke, eh!“

      Katie wirft mir einen mitleidigen Blick zu. „Vielleicht gehen Sie in eine Bar“, schlägt sie vor.

      „Nicht mit dem Kind!“, entrüstet sich die Apfel-Lady und mustert Tim skeptisch. „Das ist gegen das Gesetz.“

      Ich gebe auf. Mit Tim an der Hand schleppe ich mich zum Ausgang. Beautiful British Columbia, Beautiful BC, murmle ich leise mein Mantra und schrecke überrascht auf, als mich jemand vorsichtig am Arm berührt.

      „You might want to try this“, sagt die Apfel-Lady überraschend sanft und steckt mir eine Visitenkarte zu. Dann lächelt sie mild, tätschelt Tim kurz die Schulter und verschwindet, bevor ich etwas sagen kann, in ihrem Mercedes.