Sabine Engel

Familie Kuckuck wandert aus


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zurückzukehren, wo ich dem Fahrer den Zettel mit der Anschrift unter die Nase halte.

      „Coole Gegend, wirklich“, bestätigt Bea Candis Worte, als das Taxi von der Hauptstraße in eine der Nebenstraßen abbiegt.

      „Up-and-coming“, kommentiert unser Fahrer mit starkem indischen Akzent.

      Jana rümpft die Nase. Wahrscheinlich denkt sie dasselbe wie ich. Wenn man wie Bea drei Jahre seines Lebens in einem Bauwagen verbracht hat, hat man definitiv eine andere Vorstellung von cool. Die Gegend mag im Aufschwung sein, bis sie irgendwann schick ist, wird es noch eine Weile dauern, eine ziemlich lange Weile. Immerhin habe ich entlang der Hauptstraße ein nettes Studenten-Café erspäht, gleich neben einem Laden für indische Hosen und gebatikte T-Shirts. Wer trägt so etwas noch? Außerdem gibt es kleine Geschäfte mit Gemüse aus der Region und sogar ein etwas alternativ angehauchtes Kino. Die Straße, in die wir gerade einbiegen, besteht aus einfachen Holzhäusern, von denen einige vor Kurzem einen bunten Anstrich erhalten haben. Doch der überwiegende Teil wartet schön länger auf frische Farbe. Trotzdem scheine ich, zu meiner eigenen Überraschung etwas richtig gemacht zu haben.

      „Mami, das ist schön“, ruft Stina und zeigt auf ein türkisfarbenes Haus mit blühenden Azaleen im Vorgarten, vor denen unser Taxi nun hält. Es hat große, weiß gerahmte Sprossenfenster. Vier Stufen führen auf eine kleine Terrasse mit einer gemütlichen Bank, die neben der ebenfalls weiß getünchten Eingangstür steht.

      „Das ist wirklich bezaubernd und bestimmt nicht billig. Welche Studentin kann sich so etwas leisten? Es sei denn, sie hat reiche Eltern.“ Bea klettert aus dem Taxi und streckt sich.

      „Sie ist bestimmt ein Youtube-Star“, vermutet Tim sachlich, und Jana verdreht die Augen.

      „Oder das“, stimmt Bea ihm zu und wispert: „Du hast wirklich Glück, dass Björn so viel Verständnis hat.“

      „Wie kommst du jetzt auf Björn?“

      „Na, die Miete hat er bezahlt, oder?“

      „Nein, das hat er nicht. Darum geht es ja. Ich bin hier, weil ich endlich wieder auf eigenen Beinen stehen will.“

      „Ach, Jule. Wozu willst du auf zwei Beinen stehen, wenn ihr gemeinsam vier habt?“ Bea spitzt die Lippen und schließt für einen Moment theatralisch die Augen, als müsste sie sich sammeln.

      „Wirklich hier, Mam?“ Jana gönnt mir einen vorsichtig erfreuten Blick, der mein Herz glücklich aufhüpfen lässt.

      Sicherheitshalber vergleiche ich noch einmal die Adresse auf meinem Zettel. Wie es scheint, ist alles korrekt.

      „Ja, allerdings hat Candis gemeint, der Eingang zu unserer Wohnung wäre hinten“, sage ich laut, um Bea und Tim zurückzurufen, die bereits die ersten Koffer auf der Treppe abgestellt haben und nun die Bank erproben.

      „Schade, das hätte mein Lieblingsplatz werden können“, stellt Bea fest und bleibt noch für einen kurzen Moment sitzen, als müsste sie sich von einem Traum verabschieden. Dann folgt sie Stina, Jana und mir um das Haus herum.

      „Hier hoch!“, ruft Tim, der schon vorausgestürmt ist.

      Ich höre seine Trippelschritte, die ein paar Holzstufen hinaufklettern. Dann sehe ich ihn. Er steht über uns auf einer größeren, ebenfalls in sauberem Weiß erstrahlenden Terrasse und drückt seine Nase an einer Glasscheibe platt.

      „Ohhh. Unser Fernseher ist mindestens so groß wie Papas Schreibtisch.“

      „Siehst du einen Pool?“, erkundigt sich Jana.

      „Nein, nur einen Sessel, Bücher, einen Teppich und einen Tisch mit Stühlen.“

      „Macht nichts, es wäre auch nicht unser“, faucht sie plötzlich in gewohnter Bissigkeit. „Unser Eingang ist nämlich da unten.“

      Mit einem leichten Stechen auf Höhe meines Herzens folge ich ihrem Blick, der unter die Terrasse führt, wo sich zwischen allerlei Gerümpel, zwei Stapeln mit Kaminholz und ein paar Spinnweben noch eine Tür befindet.

      „Das sieht gruselig aus“, jammert Stina.

      Weil ich ihr nicht recht geben will, mir aber auch gerade nichts Positives einfällt, antworte ich lieber nicht. Beautiful BC. Alles wird gut.

      „Papperlapapp, mein Schätzchen.“ Bea hat mir den Schlüssel aus der Hand genommen und sich einen Weg durch unsere Taschen gebahnt. „Dieses Haus hat eine ganz wunderbare Energie. Das spüre ich sofort.“ Sie lächelt breit, zieht den Kopf unter einem besonders niedrig hängenden Balken ein und winkt Stina, ihr zu folgen. „Möchtest du aufschließen?“

      Stina nickt. Ich atme erleichtert auf und drücke Jana kurz an mich und flüstere: „Keine Sorge, es ist ja nur für den Übergang. Okay?“

      Meine Große befreit sich stumm aus meiner Umarmung, nimmt ihren Bruder an die Hand und folgt den anderen ins Dunkel, während ich mit dem Gepäck zurückbleibe.

      Ich habe gerade den letzten Koffer in den dunklen Flur gewuchtet und die Tür hinter mir geschlossen, als von irgendwoher Stinas Ruf erschallt.

      „Oh, wie niedlich! Wohnt es hier?“

      Schnelle, kurze Schritte, dann höre ich Tim. „Was?“

      „Shh, sei leise. Du machst ihm Angst.“

      „Was habt ihr da?“ Jana.

      „Ein Eichhörnchen.“

      „Wo?“

      „Na, da. Da vorne, auf dem Bett.“

      Für einen Moment halte ich den Atem an. Dann vernehme ich auch Beas Schritte. „Von einem Haustier hat eure Mutter gar nichts gesagt.“ Pause. „Aber man kann doch kein Eichhörnchen in einer … Oh.“ Beas Stimme bricht ab.

      Das ist nicht gut. So schnell ich kann, versuche ich mir in dem engen Flur einen Weg um oder über unsere Taschen zu bahnen. Warum um alles in der Welt hat denn niemand daran gedacht, das Licht einzuschalten? Vorsichtig mache ich einen weiteren Schritt, bleibe jedoch mit dem Fuß in Stinas Rucksack stecken und stürze mit den Händen voran zwischen Janas Koffer und Beas Seesack, wo sich die spitze Rückenflosse von Tims Hartgummi-Hai in meine Hüfte bohrt.

      „Autsch!“

      „Jule“, ruft Bea, „was auch immer du da tust, mach jetzt keinen Lärm. Stina, Tim, Jana. Rückzug. Sofort!“

      „Was ist denn los?“ Stinas Stimme zittert.

      „Das ist kein Eichhörnchen“, stellt Jana kühl fest.

      „Zurück!“ Bea.

      „Wieso nicht?“, will mein Jüngster sofort wissen. „Es hat doch einen Schwanz.“

      „Jana.“ Beas Stimme klingt eindringlich. „Nimm jetzt deinen Bruder, und dann verlassen wir alle zusammen das Apartment.

      „Und das Eichhörnchen?“ Stina klingt verzweifelt.

      „Um das kümmern sich deine Mami und ich.“

      Blöderweise steckt Mami immer noch im Flur fest. Mein linkes Knie rutscht tiefer in den Spalt zwischen den Koffern, während meine Hände vergeblich nach Halt tasten. Obwohl die Rückenflosse des grau-blauen Meerungeheuers nichts von ihrer Boshaftigkeit verloren hat, verbeiße ich mir tapfer jeden weiteren Laut. Wenn ich nur ein bisschen mehr sehen könnte.

      Jana mit Tim auf dem Arm taucht wie ein Schatten aus der Dunkelheit auf. „Eichhörnchen sind nicht schwarz-weiß“, erklärt sie leise.

      In meinem Kopf rumort es. Während ich meine Hand aus einer Taschenschlaufe befreie, muss ich an Bugs Bunny denken, komme aber irgendwie nicht weiter. Hat sich ein Kaninchen bei uns eingenistet?

      Hinter Jana folgen Stina und Bea.

      „Raus, alle raus und zwar leise“, bestimmt Bea.

      Sie