Sabine Engel

Familie Kuckuck wandert aus


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Deswegen bin ich hier. Oder besser gesagt, deswegen bin ich auf dem Weg. Denn noch bin ich in Kanada.

      Ich halte immer noch das Telefon in der Hand. Nicht aufgeben! Aus einer Laune heraus wähle ich erneut, dieses Mal die Nummer der englischen Hotline.

      Hier ist die Musik besser, und auch die Mitarbeiter sind deutlich freundlicher. Eine Jen verspricht, ihr Möglichstes zu tun, doch dann werden wir irgendwie unterbrochen. Ich drücke die Wahlwiederholung. Als nächstes spreche ich mit Ana, neben deren Akzent sogar Beas Gekrächze verblasst. Nachdem ich mich ein paar Minuten mit ihr abgemüht habe, bedanke ich mich, lege meinerseits auf und versuche erneut, Jen zu erreichen. Diese scheint jedoch verschwunden zu sein, stattdessen hilft mir nun Alice. Alice ist gut zu verstehen und sehr bemüht. Nach kurzer Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten verkündet sie, dass er ihr gestattet habe, uns kurzfristig neue Tickets nach Victoria auszustellen, dafür würde natürlich eine geringe Service-Gebühr anfallen, plus die Differenz zum ursprünglichen Ticketpreis. Das ist mir recht. Erleichtert stimme ich zu und freue mich schon auf Janas glückliches Gesicht, wenn ich ihr verkünde, dass wir morgen nach Australien weiterreisen. Erst als Alice davon schwärmt, wie traumhaft schön der 30-minütige Flug von Vancouver über die Strait of Georgia nach Victoria sei, wird mir klar, dass wir aneinander vorbeigeredet haben.

      Für einen winzigen, den vergangenen dreizehn Jahren geschuldeten Moment überlege ich tatsächlich, das Praktikum abzusagen und einfach zurück nach Deutschland zu fliegen. Doch dann habe ich mich gefangen. Mir bleibt keine andere Wahl, als komplett neue Tickets zu kaufen. Also verbringe ich die nächste Stunde auf diversen Seiten kanadischer Reiseagenturen. Doch egal, wie ich es anstelle, unter 6800 Dollar ist nichts zu finden. Nur ein Reisebüro, das sich auf den Großraum Asien/Australien spezialisiert hat, wirbt auf seiner Webseite mit supergünstigen Angeboten, für die man jedoch persönlich in der Filiale erscheinen müsse. Obwohl sie neben dem Verkauf von Flugtickets auch anbieten, bei der Säuberung des Vorstrafenregisters behilflich zu sein, und sogar einen eigenen Link zum Thema Reisen mit Drogen haben, besorge ich mir an der Rezeption einen Stadtplan, werfe eine Jacke über und mache mich mit dem Bus auf den Weg zur Filiale am Commercial Drive.

      Schon im Bus wird mir klar, warum Reisen nach Asien ein großes Geschäft sein müssen. Um mich herum entdecke ich kaum ein europäisches Gesicht, dafür mehr oder weniger schmale Mandelaugen und kurze Stupsnasen. Keiner meiner Mitfahrer ist älter als 25. Überhaupt sind hier in Vancouver alle ziemlich jung. Jung, sportlich und irgendwie total entspannt. Nicht nur im Vergleich zu mir. Yoga-Hosen sind angesagt, dazu schlichte T-Shirts und Sonnenbrillen. Der Kaffee in der Hand ein absolutes Must-have. So schlendern sie allein oder zu zweit durch die Straßen und spielen Sommer bei gefühlten 15 Grad Ende Juni.

      Auch die junge Mitarbeiterin in meinem Reisebüro hat eindeutig asiatische Züge. Sie lächelt freundlich und nippt an ihrem Milchkaffee. Flüge nach Australien würde sie mir gerne anbieten. Doch günstig wird es im Moment leider nicht.

      „Ferienzeit“, entschuldigt sie sich und zeigt auf ein paar Angebote auf ihrem Rechner, die noch weit jenseits meiner schlimmsten Albträume liegen. „Da wollen alle ihre Familien besuchen.“

      „Aber wir müssen hier weg. Bitte. Können Sie nicht noch einmal nachschauen?“, flehe ich. „Vielleicht gibt es einen Flug, den niemand will. Eine Airline kurz vor dem Konkurs, eine schlechte Verbindung, ganz egal, wir nehmen alles.“

      Das Mädchen dreht ihren Bildschirm von mir weg, tippt auf ihrer Tastatur, bewegt die Maus. Zwischendurch trinkt sie immer wieder einen Schluck Kaffee. Ob sie wirklich Flüge sucht oder ihre E-Mails checkt, kann ich leider nicht erkennen. Nach einer ganzen Weile richtet sie sich wieder an mich.

      „Sorry.“ Sie schüttelt bedauernd den Kopf. „Aber wenn Sie bis September warten, sieht es besser aus. Ab Mitte August bekommen wir fast täglich neue Angebote. Und wenn Sie sich für unseren Newsletter anmelden, zahlen Sie bei der ersten Buchung pro Flug sogar zehn Dollar weniger.“

      „Wow.“

      „Ja, toll, nicht wahr?“, wischt sie meine Ironie einfach beiseite.

      „Nur was soll ich in der Zwischenzeit machen?“

      Ich weiß selbst nicht, warum ich diese Frage überhaupt stelle. Aber mein Gegenüber lächelt. „Vancouver ist herrlich, besonders im Sommer. Wussten Sie, dass Vancouver eine der schönsten Städte der Welt mit der höchsten Lebensqualität ist?“

      „Nein, das wusste ich nicht“, erwidere ich höflich, denn um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht.

      „Nummer drei auf dem Mercer Index.“

      „Tja, nur leider habe ich keine Wohnung in der dritt-lebenswertesten Stadt der Welt gemietet, sondern in Australien.“

      Das Mädchen nickt verständnisvoll. „Ja, es ist nicht leicht, hier etwas zu finden. Seit den Olympischen Spielen sind die Mietpreise explodiert. Aber mit etwas Glück finden Sie über den Sommer ein Sublet. Manche Studenten sind froh, wenn sie ihr Apartment untervermieten können. Und es ist ja nur für kurze Zeit.“

      Irgendwie bin ich zu verwirrt, um zu protestieren. „Wo soll ich so jemanden finden?“, frage ich stattdessen.

      „Oh, die University of British Columbia hat eine Miet-Hotline. Da können Sie anrufen. Aber besser ist es natürlich, die Angebote online zu checken, wegen der Fotos.“

      Sie schreibt etwas auf einen Zettel und schiebt ihn mir zu.

      Langsam tickert die Botschaft zu mir durch. Entweder ich kaufe die Flugtickets zu den derzeit verfügbaren Konditionen und verschulde mich für die nächsten zehn Jahre, oder ich brauche einen Plan B.

      Mein Praktikum beginnt erst zum ersten September. Eigentlich wollte ich solange mit den Kindern in Melbourne ausspannen, durch das australische Victoria tingeln, die Sonne genießen und Urlaub machen. Aber vielleicht hat Bea recht. Ich sollte mein Schicksal entspannter nehmen, mich in meine Sweatpants werfen und einen Coffee to go trinken. Dann werden wir uns eben eine nette Wohnung in Vancouver mieten und die Zeit in Kanada überbrücken. Bis September sind es noch zwei Monate. Ich werde die vorausbezahlte Miete für unser Apartment in Melbourne zurückfordern und die ersten Leasingraten für das Auto. Damit müssten wir gut über die Runden kommen, bis die günstigen Flugangebote für den Herbst herauskommen. Es gibt wirklich schlimmere Orte auf dieser Welt als Beautiful British Columbia.

      „Beautiful British Columbia, Beautiful BC.“ Ich bete mein neues Mantra auf dem gesamten Rückweg, und als ich endlich wieder im Hostel ankomme, habe ich mich selbst von meinem Plan überzeugt. Fast zumindest. Weil ich weder Bea noch meine Kinder irgendwo entdecken kann, kuschle ich mich wieder auf mein Sofa in der Lobby und schreibe eine E-Mail an die Wohnungsverwaltung in Australien, in der ich unsere Situation erkläre, vorschlage, das Apartment für Juli und August anderweitig zu vermieten und mir die bereits gezahlte Miete für die beiden Monate zurückzuerstatten. Dann tippe ich den Namen der Webseite ein, den mir die Asiatin aus dem Reisebüro notiert hat, und durchforste das Angebot nach einer geeigneten Bleibe in Beautiful Vancouver.

      Zwei Stunden später ist tatsächlich alles gut. Oder fast. Zumindest habe ich den Karren wieder auf den rechten Pfad geschoben. Lässig bummle ich in meiner Yoga-Hose und mit einem im Hostel geborgten Kaffeebecher in der Hand zum Strand von Jericho Beach. Meine Familie zu finden, ist nicht sehr schwierig. Als erstes erkenne ich Tim, der mit dickem Pulli aber nackten Füßen in der niedrigen Brandung steht und Steine ins Wasser wirft. Auf dem Sandstrand hinter ihm, mit dem Rücken an einen großen Baumstamm gelehnt, sitzen Bea, Stina und Jana. Bea hebt ihre Sonnenbrille leicht an, um mich zu mustern.

      „Warum trägst du bei dieser Wolkendecke eine Sonnenbrille?“, erkundige ich mich.

      „Es ist Sommer!“

      „Aber doch nicht hier.“

      Stina zieht Jana die Kopfhörer aus dem Ohr, weicht geschickt dem Ellbogen ihrer Schwester aus und zeigt auf mich. „Mami ist wieder da!“

      „Und sie hat ein Apartment für uns gefunden“, ergänze ich.

      „Wieso