Sabine Engel

Familie Kuckuck wandert aus


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      „Oh.“ Bea überlegt kurz, dann strahlt sie. „Super. So haben wir noch ein bisschen Zeit, uns in Vancouver umzusehen und den kanadischen Sommer zu genießen.“

      Genießen? Das kann auch nur von Bea stammen. Schweigend dränge ich mich an ihr vorbei, übernehme den Gepäckwagen und schiebe ihn, gefolgt von meinen Kindern, zum Ausgang.

      „Also, wer kommt gleich mit zum Strand?“, höre ich Bea von hinten rufen, als sich vor mir die Türen öffnen und den ersten Blick auf das sommerliche Vancouver freigeben.

      Viel sehen kann ich allerdings nicht. Denn draußen regnet es in Strömen.

      „Soweit zur kanadischen Sonne“, denke ich laut und sehe mich nach dem Taxistand um, während der einmal ins Rollen geratene Gepäckwagen mich hinter sich her die Straße hinab zieht.

      „Hier drüben“, ruft Bea. Als ich es endlich schaffe, den Wagen zu stoppen, und mich umdrehe, entdecke ich sie etwa fünfzig Meter zur anderen Richtung vom Ausgang entfernt. Sie hat die Tür eines dunklen Mini-Busses aufgerissen und Tim samt seinem Hai bereits auf einen der hinteren Plätze verfrachtet.

      Der Fahrer des Großraumtaxis, ein Inder mit orangefarbenem Turban, steht etwas hilflos neben seinem Wagen, während ein junger Mann mit offenbar asiatischen Wurzeln und einer obligatorisch grünen Uniform an einer Schlange wartender Menschen und Koffer vorbei auf Bea zu eilt.

      Oh, nein! Leider bin ich mit dem schweren Gepäckwagen nicht ganz so wendig wie meine Freundin. Bevor ich den Wagen auch nur gewendet und durch die nächste Pfütze gewuchtet habe, hat der Taxi-Stand-Beauftragte Bea erreicht.

      „I need you to wait for your turn“, ruft er laut.

      Bea starrt ihn kurz und verständnislos an und wendet sich dann ab, um auch Stina in den Wagen zu helfen.

      „Ich glaube, wir müssen uns hinten anstellen.“ Janas Blick irrt verunsichert zwischen Bea, dem Mann in Uniform und mir hin und her.

      „Es tut mir leid, wir kommen aus Deutschland“, versuche ich eine Entschuldigung, als ich meine Familie endlich erreiche. Damit überlasse ich Bea den Gepäckwagen und mache mich daran, meine Kinder wieder aus dem Taxi zu befreien.

      „Ah“, sagt der Mann und sein Gesicht leuchtet auf. „Germany. Autobahn.“ Er nickt wissend und mimt mit den Händen ein Lenkrad.

      „Genau, Autobahn.“ Bea strahlt.

      „Fahrvergnügen. German Fahrvergnügen auf Autobahn. 250 kilometers per hour.“

      „Nee, nicht mit Jule.“ Sie deutet auf mich. „Sie ist immer ein bisschen vorsichtiger. 130 maximal.“

      „Ja, und dafür komme ich an. Und zwar dort, wo ich hin will“, fauche ich.

      „So ist es“, stimmt Bea bestens gelaunt zu und begibt sich artig auf den letzten Platz der Warteschlange, die unter einem langen Baldachin verläuft. Gegen Regen und Wind geschützt beobachtet sie geduldig, wie ich erst Stina, dann Tim aus dem Wagen hebe, mich mit dem Hals im Sicherheitsgurt verfange und fluche, weil ich bei dem Versuch mich zu befreien mit dem rechten Fuß ins Rinnsal neben dem Bordstein trete. Völlig überflüssig, wie sich herausstellt. Denn zehn Minuten später sitzen wir genau in demselben Großraumtaxi, aus dem ich Stina und Tim gerade herausgezogen habe, und folgen dem Verkehr vom Flughafen in Richtung Innenstadt.

      „Tja, das hätten wir einfacher haben können“, kommentiert Bea und verzieht das Gesicht. „Und jetzt?“

      Ich habe keine Ahnung. „Wir brauchen eine Unterkunft bis Björn die Unterlagen geschickt hat. Kennen Sie ein kleines Hotel, vielleicht am Strand?“, frage ich den Fahrer auf Englisch.

      Der Mann wiegt seinen Turban.

      „Nur nicht zu teuer.“ Da ich das Apartment in Melbourne bereits für die vollen sechs Monate vorab bezahlen musste, gleicht mein Bankkonto einer Wüste.

      „Ich tue natürlich was dazu“, ruft Bea von der mittleren Bank. Sie kann sich kaum regen. Tim ist, in Beas Schal gehüllt, mit dem Kopf in ihrem Schoß eingeschlafen. An ihrer rechten Schulter lehnt Stina. Sie schnarcht leise, und ihre Brille droht, von der Nase zu rutschen. Bea zieht sie vorsichtig ab und bettet Stinas Kopf neben dem ihres Bruders in ihren Schoß.

      „Schon gut“, seufze ich. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich richte meinen Blick an Bea vorbei.

      Jana hockt auf der zweiten Rückbank. Ihre Augen sind auf Beas Hinterkopf gerichtet. Doch ihr Blick ist der Welt entglitten. Allein die Tatsache, dass sie weder ihr Handy bearbeitet, noch sich nach freiem WLAN umsieht, kann nur bedeuten, dass sie mindestens genauso erschöpft ist wie ich.

      Ich lehne mich an die kühle Scheibe der Beifahrertür und lasse die Straßen an mir vorüberziehen. Durch den grauen Regenschleier erkenne ich Holzhäuser mit bunten Vorgärten, hohe Bäume, grüne Grasstreifen und die Rücklichter der Autos.

      „Wreck Beach“, erklärt der Fahrer nicht ganz akzentfrei und deutet irgendwo nach links.

      Einen Strand sehe ich nicht. Nur Regen und Pfützen und Bäume.

      „Sie dürfen da nicht hingehen, Ma’am“, warnt er. Um seine Stimme windet sich Abscheu, aber auch etwas, das sich verdächtig nach Sensationslust anhört. „Nackte! Und Drogen. Die Polizei führt jeden Sommer Razzien durch.“

      „Razzien? Wo soll ein Nackedei denn Drogen verstecken?“, überlegt Bea von hinten, während ich mich frage, warum sie ausgerechnet diesen Teil der Unterhaltung auf Englisch verstanden hat.

      „Here is better“, erklärt der Fahrer und biegt in eine Einfahrt ein. „Jericho Beach, gute Gegend, sehr sicher. Auch für Kinder.“

      Vor uns liegt ein dreistöckiges weißes Haus mit mehreren Flügeln, dessen helle Fenster uns durch den Regen einladend entgegen leuchten. Das Hostel steht mitten in einem kleinen Park. Der Strand kann nicht weit weg sein, denn über uns kreisen zwei Möwen. Wenn es hier auch noch warme Duschen und weiche Betten zu einem einigermaßen annehmbaren Preis gibt, werde ich mich für den Rest des Tages meinem Schicksal fügen.

      „Können Sie kurz warten, während ich frage, ob es noch ein freies Zimmer gibt?“

      Doch unser Fahrer ist bereits ausgestiegen und hievt Beas riesigen Armeesack aus dem Kofferraum. „Gibt es“, lacht er.

      Schnell folge ich ihm um den Wagen herum. „Woher wollen Sie das wissen?“

      „Das Hostel gehört meinem Schwager. Er hat noch drei Zimmer frei.“ Er strahlt mich zufrieden an und zeigt eine Reihe weißer Zähne.

      Das Auto, die Bäume und das weiß verputzte Hostel beginnen sich um mich herum zu drehen. Meine Finger krallen sich am Kofferraumdeckel fest. Ich versuche mich zu sammeln. Das ist alles zu viel. Vor meinen Augen verschwimmen die Buchstaben und Zahlen des Nummernschilds und tauchen schließlich wieder auf. ‚Beautiful British Columbia‘ lese ich auf dem Kennzeichen. Ja, hübsch ist es hier. Hübsch dreist.

      „Haben Sie uns deswegen hierher gefahren? Weil das Hostel Ihrem Schwager gehört?“

      Zwei große braune Augen blitzen mir unter einem orangefarbenen Turban entgegen. „Ich habe Sie hierher gefahren, weil Sie nach einer preiswerten Unterkunft am Strand gefragt haben, Ma’am. Wenn Sie ein schickes Hotel in English Bay gewollt hätten, hätte ich Sie zu meinem Bruder gebracht. Ich kenne auch ein gutes Bed and Breakfast in der Nähe der Cambie Street, es gehört einem Onkel, und ein …“

      „Schon gut.“ Vielleicht ist es die Müdigkeit oder ein Anfall von Sarkasmus. Jedenfalls muss ich plötzlich lachen. Ich lache und wische mir die Augen, in denen sich Tränen und Regen mischen.

      „Geht es dir gut, Jule?“, fragt Bea und reibt mir den Rücken.

      Stina steckt ihren Kopf aus der Taxitür. „Guck mal, ein Eichhörnchen!“, ruft sie begeistert und zeigt auf einen Baum, um dessen Stamm ein schwarzes, pelziges Wesen klettert. „Und da, noch eines.“