Franco Bollo

Quergefönt


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die durch die Stille schleichen. Doch plötzlich wabert dumpfes, schweres Grollen zu uns herüber, als habe jemand eine Tür geöffnet. Irritiert erkenne ich darin eine Melodie: Es ist Smoke on the water von Deep Purple!

      Zaghaft wie beim Blinde-Kuh-Spiel lässt Murat den Wagen in Richtung der Musik den Hügel hinunterrollen. Nach ewigen Minuten, die langsam wie Adventssonntage im Nieselregen verrinnen, biegen wir auf einen Schotterparkplatz ein und stellen das Auto ab. An einem heruntergekommenen Gebäude flackert im staubigen Fenster ein grell-buntes Open-Schild, Fetzen von Child of vision dröhnen aus den Backsteinmauern.

      Mit vereinten Kräften stemmen wir die Tür auf und betreten einen zum Bersten gefüllten Wirtsraum, dichte Rauchschwaden schlagen uns entgegen. Wir schieben uns durch das Menschengetümmel, quetschen uns nahe der Theke zwischen tumb dreinblickende Treckerköpfe und schauen uns stumm um. Die, die noch Frittenfett im Tank ihres Strich-8er hatten, scheinen in Windeseile in die Stadt geflohen zu sein. Alle anderen sind heute Abend hier: der hornbebrillte Bürgermeister in Cordhose, der blasse Vorsitzende der Taubenzüchter, der pralle Schatzmeister vom Kaninchenzuchtverein Deutsche Riesen, die Bewegungssportgruppe mit der Abteilung Ausdruckstanz und die aktive Frauengemeinschaft von den Weight Watchers.

      Bitterer Nachgeschmack an den entfesselten Mob auf der Messe kommt in mir hoch.

      Auf den verharzten Tischen verhüllen Tropfkerzen Weinflaschen mit grotesken Mänteln, klebrige Kunstblumen lassen die Köpfe hängen und einst bunte Häkeldeckchen erstrahlen in nikotingelb. Graue Greise gehen hüftsteif die steilen Stufen in die kalte Keramikausstellung hinab und kommen als windelnasse Jungspunde wieder herauf. Vorne auf einer kleinen Bühne spielt eine Band guten, alten Rock. Und wir mittendrin.

      »Was trinkt ihr?«, fragt uns eine blondierte Zapfhenne hinter dem Tresen, die nach Tosca riecht.

      »Ein Guinness«, schreie ich durch den Bassdschungel.

      »Was ist das denn? Das kenne ich nicht!«

      »Dann bring mir ein Pils. Habt ihr das?«

      Sie nickt und ich rechne schon damit, ein Wicküler zu bekommen und in DM bezahlen zu können. Etwas später stellt sie mir einen Glashumpen auf den Tisch und für Murat ein Wasser, er muss ja noch fahren. Sie macht ein X und ein U auf den Karton.

      »Gibt es auch was zu essen?«, will ich von ihr wissen.

      »Da musst du zur Terrasse raus, da wird gegrillt!«

      Draußen ist nicht viel los, eine Frau in weißer Kittelschürze hinter einer wackligen Biergartengarnitur dreht in sich gekehrt unterarmlange Würstchen und riesige Fleischlaken um.

      »Aus eigener Hausschlachtung«, wie sie extra betont.

      Mit einem wagenradgroßen Teller, an dem sich alle Hunde aus dem Tierasyl sattessen könnten, gehe ich wieder hinein. Murat ist fest eingeschlafen, die Band spielt Dr. House is dead und ich frage mich, ob er an der Menge gestorben ist oder ob er hier vor Ort erschossen wurde, weil er nicht aufaß? Ich nehme nachdenklich den letzten Schluck von meiner obergärigen Kaltschale, als mir Tosca auch schon ein weiteres Einmachglas vor die Nase setzt und mich angrinst.

      Am nächsten Mittag bricht die Sonne grell durch die Ritzen der Jalousien und zeichnet Streifenmuster auf die vergilbte Blumentapete der Wirtsschänke. Ich schäle mein schmerzendes Knautschgesicht von der klebrigen Tischplatte und blicke auf. Anscheinend hat die Party gestern noch lange getobt. Überall liegen umgeworfene Stühle herum, leere Flaschen rollen über den Boden. Im Humpen vor mir ist eine Pferdebremse ertrunken, auf meinem Pappkreis stehen jetzt fünf X und ein U. Durch die offene Tür sehe ich die Metzgersgattin auf der Terrasse den Grill schrubben.

      Ich stoße Murat an, der mit einem Ohr im Kartoffelsalat auf meinem Teller liegt. »He«, rufe ich entrüstet, »wer soll das denn noch essen?«

      Die Fleischersfrau schaut misstrauisch herüber, schnappt sich einen Reisigbesen und marschiert beharrlich auf uns zu. Ich schiebe Murat listig den durchweichten Bierdeckel rüber. »Du bist dran zu zahlen, ich warte am Auto auf dich!«

      Draußen vorm Eingang leiste ich notdürftig einer vertrockneten Konifere erste Hilfe, als er herausstürmt. Seine linke Hand umklammert eine verstaubte Flasche Chivas Regal, die eben noch über der Theke stand, und die rechte einen original Atika-Aschenbecher, mit dem er den ganzen Abend geliebäugelt hat. Meine Augen leuchten.

      Schweren Schrittes trommelt die geprellte Kittelschürze hinter ihm her, sie keucht wie Hui Buh in Ketten.

      »Mach hinne«, ruft er, »der Bus fährt ab!«

      Mühsam verstaue ich mein Gemächt, wische mir die Finger an der öligen Hose ab und springe auf den Beifahrersitz. Schon donnert der Feudel der alten Wurstschlampe gegen die Hecktür. Der Motor heult auf, der Donnerbesen faucht, wirbelnde Kiesel prasseln an die steinerne Fassade des Saloons, dann schwänzelt der Rapid vom Hof.

      »Gib mir fünf«, sagt Murat.

      Und die kriegt er, als nach 100 Metern auch der letzte Tropfen Diesel aufgebraucht ist.

      Was wäre, wenn der Bofrostmann zur Weihnachtszeit heißen Glühwein bringen würde?

      Strafstoß

      Ich sitze in der offenen Beifahrertür und rauche, meine nackten Füße spielen nervös mit dem Gras am Wegesrand. Jede Minute fällt mein Blick auf die Uhr, das Sonntagsspiel wird bald angepfiffen, doch Murat ist immer noch nicht wieder da. Schon vor Menschengedenken habe ich ihn losgeschickt, irgendwo ein paar Liter Sprit zu besorgen, damit ich rechtzeitig zurück bin. Was macht der bloß?! Der kann was erleben!

      Ungeduldig drücke ich die Kippe zu den anderen Knickwinkeln in den großen Porzellanascher, den ich auf das Armaturenbrett gestellt habe, drehe am Autoradio und hänge meinen Schal aus der Tür. Uli Zwetz berichtet bereits live. Mit fahrigen Fingern fische ich mir die letzte Zigarette aus der Packung, zünde sie an, nehme hastig einen Schluck aus dem Regal und brülle die Mannschaftsaufstellung mit. Spucketropfen klatschen von innen an die Windschutzscheibe.

      Unversehens schaudert es mich und ich muss an die gute alte Zeit denken. Murat und ich kickten oft mit seinem abgewetzten Tango Rosario auf der Straße, wir waren beinharte Strafraumhechte. Im offenen Küchenfenster über uns knarrte ein Saba-Radio und brüllte in unregelmäßigen Abständen »Tor, Tor, Tor!«

      Die größte und unvergessene Legende aber geschah an einem verregneten Märzsamstag. Die arroganten Bazis gingen dahoam mit 4:0 unter, ich stand mit Pickeln und Arbeitshandschuhen im Gartentor und habe vor Freude geweint. Vom Pfandgeld aus Opas Keller kaufte ich mir heimlich die nächste Eintrittskarte und quetschte mich fortan zu jedem Heimspiel auf die enge Holztribüne. Das Stadion hieß liebevoll Alm, es war eine Bretterbude und eine Festung zugleich und keine schnöde Glas-Arena. Der Ball war handgenäht und aus echtem Rindsleder. Die Trikots bestanden aus kratzfester Baumwolle.

      Wie ein Großer habe ich gejubelt und geschimpft, gestaunt und geflucht. Am Ende sind wir trotzdem abgestiegen. Doch mich hatte eine Leidenschaft gepackt, die mich nie mehr losgelassen hat.

      Und ausgerechnet heute gegen die Unaussprechlichen aus Telgte-West sitze ich im Auto nur dumm rum und drehe Däumchen. Eigentlich sollte ich auf den vertrauten Betonstufen stehen und meine Mannschaft anfeuern, solange sie auf Gras spielt. Die Saison ist zwar gelaufen, aber mein Herzblut ist immer noch blau. Voller Spannung sauge ich jedes Wort auf, das aus den Boxen klingt. Die Atmosphäre schwappt zu mir herüber, inbrünstig schmettere ich die Hymne mit und hüpfe, bis die Stoßdämpfer knallen. Die Winkekatze überm Tacho flippt völlig aus. Ich gönne mir einen weiteren Schluck der schottischen Malzbrause.

      Der Schiri pfeift gerade einen Elfmeter, als ich Murat im Rückspiegel endlich zurückkriechen sehe. Ratzfatz suche ich den Deutschlandfunk mit irgendeinem klassischen Kammerkonzert und ratsche mit den Fingernägeln gelangweilt über das Lüftungsgitter. Murat sagt keinen Ton, hängt einen verbeulten Blechtrichter in den Tankstutzen und gießt aus einem schwarzen Gülleeimer selbst gepresstes Rapsöl nach.

      »Hast du Zigaretten mitgebracht?«, frage ich giftig.

      »Nein«,