Matthias Rathmer

Alexander Schalck-Golodkowski


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die Verwendung der Schalck-Unterlagen in ein inszeniertes Chaos. Nicht in jeder MfS-Akte, die als „geheim" eingestuft wurde, steckt auch automatisch Wahrheit; dies gilt übrigens für die Quellen des Bundesnachrichtendienstes und anderer Behörden gleichermaßen. So manch angebotenes Dokument stellte sich schon bei einer ersten Durchsicht als Fälschung heraus, als zweifelhafte Angabe dubioser Zeitzeugen und Mittäter. Enttäuschend war zudem, was sich in den Archiven der einstigen SED-Diktatur fand, im Gauck-Archiv genauso wie im Parteiarchiv. Die wichtigsten zeitgeschichtlichen Dokumente sind ohnehin in den Wirren der Wende 1989 vernichtet worden. Andere bedeutsame Unterlagen lagern noch immer bei ermittelnden Staatsanwaltschaften. Da sie schwebende Verfahren gegen Schalck und andere ehemalige KoKo-Verantwortliche betreffen, konnten sie nur sehr bedingt in dieser Arbeit berücksichtigt werden.

      Eine politische Biographie befasst sich grundsätzlich mit dem politischen und sozialen Verhalten eines Hauptakteurs und analysiert seine Interaktionen mit anderen Akteuren in wechselnden Umfeldern. Gerade für Schalck gilt hierbei, neben der Untersuchung seiner Rollenwahl und deren verschiedenen Gestaltungen vor allem die unterschiedlich motivierten Legenden um ihn herum zu entzerren bzw. abzubauen. Dabei konnte sich die Recherche und Ausarbeitung auf einige bislang unveröffentlichter Dokumente stützen, die dem Autor von ehemaligen Protagonisten zur Verfügung gestellt wurden. Dazu kommen alle zur Verfügung stehenden und bereits vorliegenden Darstellungen und Quellen, wie etwa die Anlagenbände des Abschlußberichts des Untersuchungsausschusses. Außerordentlich ergiebig waren zahlreiche Gespräche mit Weggefährten Schalcks. Viele der Befragten waren erstaunlich auskunftsfreudig, gleichwohl sie nicht genannt werden wollen, um juristischen Auseinandersetzungen vorzubeugen. Ihre Erkenntnisse und Einschätzungen sind sowohl in der Darstellung selbst als auch im Archiv des Autors unter Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte berücksichtigt worden. Auf diese Sammlung wird an entsprechenden Stellen verwiesen.

      Abgesehen von zahlreichen öffentlichen Auftritten vor dem Bonner Untersuchungsausschuss hat der Verfasser dieser Arbeit Alexander Schalck-Golodkowski nie persönlich erlebt. Er selbst ließ durch seinen Rechtsbeistand verlauten, keinerlei Interesse an dieser Arbeit zu haben, weil er schließlich noch lebe und Biographien gemeinhin dann geschrieben würden, wenn der betreffende Hauptakteur verstorben sei. Diese Haltung akzeptiert der Autor, mehr nicht.

      Mein Dank gilt allen, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben. Herrn Prof. Dr. Jürgen Bellers möchte ich für die stets ermunternde und geduldige Begleitung danken. Seine Ratschläge halfen, so manches Hindernis zu überwinden. Herrn Prof. Dr Ulrich Thamer danke ich für seine spontane Bereitschaft, diesem Werk ein prüfendes Urteil zu verleihen. Ohne Herrn Harald Woynar und insbesondere Herrn Martin Steinhoff, die sich dieses Vorhabens mit moralischem Engagement, historischer Sachkunde und Korrekturfleiß angenommen haben, wäre dieses Werk so manches Mal zwischen Witz und Wahnsinn versackt. In der Danksagung darf letztlich einer nicht fehlen, der nämlich, der mich, und das ist durchweg ehrlich gemeint, auch wenn auf seine Namensnennung aus möglichen zukünftigen atmosphärischen Spannungen verzichtet wird, mit überzeugender Entsch(l)usskraft im März 1994 förmlich dazu nötigte, mit den Vorbereitungen und der Fertigstellung dieser Arbeit zu beginnen.

      Hamburg, im September 1995

      Matthias Rathmer

       1. Der Sozialist – Aufstieg zum Parteifunkt ionär

      Aus welchen familiären und sozialen Verhältnissen entstammte Schalck? Wer förderte und begleitete den zielstrebigen Aufsteiger in den Zeiten allgemeiner Nachkriegswirren? Und wie vollzog sich seine Eingliederung in die gesellschaftlichen Strukturen des ersten deutschen Staates sozialistischer Prägung? Die in diesem Kapitel dargestellte Sozialisationsgeschichte Schalcks bis hin zu seinem Studienabschluss darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er es selber immer wieder vermieden hat, gerade über diese Stationen seines Lebens zu berichten. Schon früh umhüllt den späteren KoKo-Leiter so ein nachrichtendienstliches Fluidum, dessen Ursprung nur noch wenigen Zeitzeugen bekannt ist. Die Lebensabschnitte des jungen Schalck, seine spätere Ausbildung zum Außenhändler und die frühe Anbindung an das Ministerium für Staatssicherheit aber werden zum pars pro toto, gewissermaßen zum Spiegelbild des sich herausbildenden sozialistischen Staates.

      Entwicklung in Kindheit und Jugend

      In Polen herrschten 1932 bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Minderheiten im Staat, vornehmlich Litauer, Deutsche, orthodoxe Weißruthenen und Ukrainer, kämpften gegen die Minoritätenpolitik des Staatspräsidenten Jozef Pilsudski. Die außerparlamentarischen Oppositionellen organisierten immer wieder Streiks und Protestveranstaltungen, die vielerorts in blutigen Straßenschlachten endeten. Das polnische Bürgertum, nationale Kräfte, aber auch der Adel widersetzten sich den Parolen der für ihre nationale Unabhängigkeit kämpfenden Volksgruppen. Die erbitternsten Gegner, die „Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN), führten seit 1930 einen wahren Guerillakrieg. Anschläge und Kampfhandlungen gehörten in zahlreichen Städten Polens zum Alltag. Die nationalistisch gesinnte Regierung unter Pilsudski bekämpfte ihrerseits die radikale Untergrundorganisation mit zunehmender Härte. Es war die Zeit des politischen Extremismus in Polen, in der die Revolutionäre zwar geschwächt, aber nicht minder brutal den polnischen Staat und seine Gutsherren attackierten. 1 Die Weltwirtschaftskrise, ohnehin schon globaler Auslöser von Unzufriedenheit und Verarmung, schürte diese Konflikte weiter.

      Als Polen und die Sowjetunion am 25. Juli 1932 einen Nichtangriffspakt unterzeichneten, verschärfte sich gleichfalls die politische Auseinandersetzung mit der Regierung Brüning. Die deutsche Außenpolitik war mehr denn je auf Grenzrevision zum Ost-Nachbarn und militärische Aufrüstung ausgerichtet. Pilsudski setzte auf die Politik der Abschreckung, um Deutschland zur Einhaltung der Grenz- und Rüstungsbestimmungen aus dem Versailler Vertrag zu zwingen. Er ließ im März 1932 verstärkt Truppen in Ostpreußen stationieren und im Juni den Zerstörer „Wicher" in den Danziger Hafen einfahren. 2 Beide Ereignisse wurden in Deutschland als Teil der außenpolitischen Schwächen der ohnehin instabilen Präsidialkabinette Brünings und Papens bewertet.

      Die Weimarer Republik ging ihrem Ende entgegen, als Alexander Schalck vor dem Hintergrund dieses geschichtlichen Kontexts am 3. Juli 1932 in Berlin geboren wurde, wohin seine Eltern aus dem krisengeschüttelten Polen geflüchtet waren. Der Vater Schalcks, Peter Golodkowski, wurde am 25. Januar 1895 in Surasch geboren, die Mutter, Agnes Eue, am 25. August 1889 in Hamburg. Beide hatten sich gegen Ende der 20er Jahre in Danzig kennen gelernt und geheiratet. Schalcks Mutter kam aus bürgerlich-kaufmännischen Verhältnissen und wuchs in St. Petersburg auf, wo ihr Vater die Filiale des Stinnes-Konzerns leitete. Ihr Lebenslauf ist lückenhaft. Aus einer ersten Ehe entstammte Sohn Slawa, der noch heute in Berlin unter dem Nachnamen Kostareff lebt. Zum Zeitpunkt der Geburt war Schalcks Mutter 43 Jahre alt. In einem Dokument der Staatssicherheit aus dem Jahr 1966, Schalck wurde hier zur Einstellung eines „Offiziers im besonderen Einsatz" vorgeschlagen, gibt es jedoch keine weiteren Hinweise auf die elterlichen Lebensverhältnisse. 3 Lediglich das Geburtsdatum des Halbbruders, der 19. April 1919 in Jekaterinoslaw, erlaubt vorsichtige Einschätzungen zur mütterlichen Vergangenheit.

      Schalck selbst jedenfalls wertete die biographischen Daten seiner Mutter als weniger beachtenswert. „(...) Mein Vater war Kraftfahrer und hat diesen Beruf bis kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges ununterbrochen ausgeübt (...)". 4 Alle seit dem Umsturz des SED-Regimes gefundenen Lebensläufe Schalcks begannen stets mit der sozialen Herkunft seines Vaters. Denn wer in den Gründungsjahren der DDR erfolgreiche Bewerbungen schreiben wollte, der musste, wenn irgendwie möglich, aus der Arbeiterklasse stammen und als „faschistisch unauffällig" gelten. Schalcks Mutter führte ein „von" in ihrem Namen. Ein solcher Namenszug wies auf ihre adelige Herkunft hin, ein Umstand, der so gar nicht zum späteren Selbstverständnis Schalcks passte. Ein Kraftfahrer zum Vater, der zudem 1948 für tot erklärt wurde, versprach da schon eher, gleich zu Beginn des Lebenslaufes einer der wichtigsten Prämissen der Diktatur des Proletariats zu entsprechen. Wie und wann die Mutter dieses Adelsprädikat erwarb, ist unklar. „(...) Meine Mutter war gelernte Buchhalterin, hat aber bis 1940 keinen Beruf ausgeübt (...)." 5 Schalck begnügte sich mit einem bloßen Hinweis auf ihren Beruf, der allein schon