Stephanie Wismar

Die Farben der Schmetterlinge


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voranschreitend näherten wir uns der Kirchentür, die weit offen schon auf unsere Ankunft zu warten schien.

      „Kameraden, Achtung, stillgestanden!“, ertönte es laut brummend von außen herein.

      Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Die Kollegen, von der Feuerwehr standen in ihrer Ausgehuniform Spalier für unsere Tochter. Mein Herz raste. Meine Atmung beschleunigte. Mir wurde ganz heiß. Eine Überraschung, die ich mir kaum erträumt hatte. Beim Hinaustreten also bemühte ich mich, um eine stolze Haltung, den Blick weit nach vorn gerichtet. Diese Ehrerbietung bedeutete mir sehr viel, auch wenn ich derzeit unfähig war, meiner Dankbarkeit darüber Ausdruck zu verleihen. Der Regen war unverändert stark. Es schüttete wie aus Eimern. Wir zogen vom Pater geführt allen voran, hoch auf den Hügel der Blumenwiese, der hinter der Kirche lag. Ein herrliches Plätzchen. In all den Jahren zuvor, seit ich in Helmsworth wohne, war es mir nie aufgefallen. Erst bei der Wahl der Grabstätte stach mir die atemberaubende Einzigartigkeit ins Auge. Schweigend war ich vor vier Tagen die Wiese in Begleitung von Len abgeschritten. Es war sonnig. Ganz oben auf dem Hügel dann, blieb ich urplötzlich stehen, nachdem wir eine Stunde rastlos querfeldein gestapft waren. Viele Wildblumen wuchsen hier durcheinander, und bei blauem Himmel, wie eben an jenem Tage, konnte man die ganze Ortschaft überblicken. Heute würde die Aussicht uns verwehrt bleiben. Der Trauerzug war beinahe am Ziel. Im Halbkreis nahmen wir Aufstellung, um das Erdloch, welches frisch ausgehoben wurde. Am Fuße ihres Grabes stand eine gusseiserne Wanne, gefüllt mit verschiedensten Blumen, reichster Farbpracht zur einen Seite. Zur anderen ein großer Metalleimer mit Sand. Am Kopfende ein Sandhügel mit Schaufel.

      „Als Kind Gottes zur Welt gekommen, übergeben wir den Körper von Aveline dem Erdreich, welches du geschaffen. Das Wertvollste, ihre Seele, erbitten wir dich, oh Herr in dein Himmelreich aufzunehmen und ihr eine Ewigkeit in Ruhe und Liebe zu schenken. Wir halten die Erinnerung an unsere geliebte Ave in Ehren. Und wenn bei einem jeden von uns der Tag gekommen ist, dem Schöpfer allen Lebens gegenüber zu treten, werden wir die, welche von unseren Herzen zu Lebzeiten so schmerzlich vermisst wurden, wiedersehen. Nun lasset uns sie gemeinsam, in ihre zugedachte Ruhestätte betten.“

      Zaghaft, behutsam, senkte sich der Sarg in die Grube. Der Moment des letzten Abschieds war angebrochen. Ein Wiedersehen in diesem Leben würde es nicht mehr geben. In Gedanken vertieft, fuhr ein Zucken, gleich einem elektrischen Strom durch meinen Körper.

      „Man sieh dir das an!“, raunte mir Lenny leise ins Ohr. Sein Zeigefinger deutete gen Himmel. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er, obwohl es stundenlang wie aus Eimern schüttete, sich gerade jetzt in strahlendem blau zeigte. Der Regen war seicht und schien geräuschlos zu fallen. Er hatte etwas Zärtliches an sich. Die Sonne leistete ihren Beitrag zum Schauspiel. Es war atemberaubend. Ein Anblick, den ich so sicher niemals je wieder haben würde, denn hinter dem Hügel, unten über der ganzen Ortschaft, welche durch die aufgeklarte Sicht erschienen war, leuchtete bunt und mit intensiven Farben, ein gigantischer Regenbogen. Es verlieh dem Tag einen bitter süßen Akzent.

      „Oh, meine kleine Ave“, entfuhr es mir mit einem Seufzen und Tränen liefen mir leise die Wangen herunter. Ein Zeichen. Alles was ich wollte, in den vergangen Tagen. Nun hatte ich es erhalten. Hätte mir jemand vor zwei Jahren erzählt, ich würde in einem Regenbogen oder dem Wetter etwas sehen, darin eine versteckte Botschaft vermuten, ich hätte ihn für verrückt erklärt. In dreiunddreißig Jahren, seit ich mich erinnern kann, war ich stets ein rationaler Mensch. Für die Dinge, die passierten, wie sie geschahen und wann sie stattfanden, gab es die passende Erklärung. Zufall? Schicksal? Unerklärliches? Nein! Das gab es nicht. Es musste einen plausiblen Zusammenhang geben, den ich lediglich zu finden hatte. Am Tag der Beerdigung meiner Tochter, bin ich anderer Meinung. Der Tod von Ave veränderte alles. Er änderte mich und meine Sicht der Dinge. Wie sonst könnte die Seele der Eltern eines verstorbenen Kindes dies auch verkraften? Mit dem Spruch: „Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub. Möge sie in Frieden ruhen“, läutete Pater Andrew den letzten Abschnitt des Zeremoniells ein. Er warf je eine Hand voll Sand bei jedem einzelnen gesprochenen Part auf ihren Sarg. Der Reihe nach, taten es ihm die Trauergäste gleich. Ich wartete, bis alle dran gewesen waren. Letzter zu sein, gab mir die Chance, sie nochmal für mich alleine zu haben. Mich komplett zu öffnen, meinen Gefühlen so freien Lauf zu lassen, fiel mir vor dieser Menschenmasse schwer. Außerdem denke ich, wüssten sie damit nicht umzugehen. Was sollten sie denn auch entgegnen? Es gab keine passenden Worte, die es hätten besser machen können. Nichts vermochte mein Leid zu lindern, also wieso die Anwesenden unnötig belasten? Sie trauerten auch. Trotzdem verstanden sie es nicht. Nachvollziehen können es wohl lediglich vom selben Schicksal Getroffene. So wartete ich, beobachtete, wie der weiße Sarg unter einer braunen Decke langsam verschwand. Den Abschluss machte ich. Hinter mir standen sie noch, einer Mauer ähnlich, die Beistand versprach, sollte ich von der Wucht meiner Trauer umgerissen werden. Ich nahm eine Hand voll Erde, spürte das körnige Gefühl und die Kühle, welche von ihm ausging. Meine Augen sahen sich an ihm fest, um sich nach einer gefühlten Ewigkeit zu lösen, den Blick Richtung Grab schwenkend. Es war unglaublich schwer, den Sand zu werfen. Das Gewicht mochte wohl fünfzig bis sechzig Gramm betragen, wirkte für mich jedoch eher wie fünfzig bis sechzig Kilo. Ein Kraftakt war von Nöten, diese Masse in irgendeiner Weise zu bewegen. Einmal losgelassen, drohte es, mich auf die Knie zu zwingen. Schwäche ergriff meinen Körper. In meinem Kopf drehte es sich, meine Beine schienen aus Gummi und ich schwankte wie ein Grashalm im Wind. Ich blieb Ave zugewandt. Die Augen der Anderen konnte ich deutlich in meinem Rücken wahrnehmen. Sie verharrten geduldig. Warum gingen sie nicht einfach? Merkten sie nicht, dass ich jetzt lieber alleine sein will? Mein Innerstes blieb unbeugsam an Ort und Stelle stehen. Keine zehn Männer würden es schaffen mich mit vereinten Kräften fortzuschaffen. Ich war bereit das auszusitzen. Irgendwann hauen sie schon ab. Dann habe ich meinen Willen. Ich wäre alleine mit meiner Tochter. Niemand würde mich anstarren in Lauer darauf, was als Nächstes geschieht.

      Wie lange es dauerte, wusste ich nicht. Len war es, der von hinten an mich herantrat.

      „Hey Kumpel? Wollen wir los?“, fragte er mit besorgter Mine.

      „Nein. Ich bleibe noch etwas. Geht ruhig schon vor“, entgegnete ich beschwichtigend.

      Weitere Worte brauchten wir nicht. Er verstand. Eine Umarmung später, hörte ich wie seine Schritte sich entfernten, gefolgt von fernem Murmeln. Wenige Atemzüge danach: Stille. Ein leichter Windhauch strich meinen Nacken, umsäuselte meine Ohren, ansonsten Ruhe. Ich drehte mich um. Sie waren weg. Endlich alleine! Ich zog mein Jackett aus, schmiss es achtlos neben mich auf die Wiese. Meine Hände krempelten die Hemdärmel hoch, während mich die Füße festen Schrittes zum Kopfende der Grube trugen. Die Finger umschlossen fest die Schaufel und ich legte los. Schippe um Schippe füllte sich das Erdloch auf, bis es ein erhabenes Niveau gegenüber dem Boden ringsherum erreicht hatte. Ich arbeitete ohne Pause. Als das Werk vollbracht war, stellte ich mich wieder ans Fußende. Trostlos sah es aus. So wie es jetzt war, gefiel es mir nicht. Die Schweißperlen rannen mir in die Augen und vermischten sich mit Tränen der Wut. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten, schnappten sich diesen dämlichen Spaten, droschen mit aller Kraft den Erdboden vor ihrem Grabe zusammen, während ein markerschütternder Schrei sich aus meiner Kehle löste. Mit aller Wucht schleuderte ich die Schaufel davon.

      „Aaaaaaaaah!“

      Sekunden später, kniete ich kauernd, bitterlich weinend auf der Wiese. Ich brach innerlich zusammen. Die letzten Tage, mit all seinen Gefühlen, den dauernden Anrufen von Menschen mit Beileidsbekundungen, der Organisation der Beerdigung, verschufen sich nun Platz in diesem Ausbruch. Es war zu viel zu ertragen. Wir waren nicht zur Ruhe gekommen seit ihrem Tod. Ob wir es jetzt vermochten, bezweifelte ich stark. Die letzte Etappe war beendet mit dem heutigen Abend. Was folgte, würde schlimmer sein. Ein Leben, geprägt durch eine unsagbare Leere. Sarah und ich alleine. Aveline hatte uns bereichert, sie war oftmals ein Antrieb, der uns von nun an fehlen würde. Auf allen vieren kroch ich an die Seite des Erdhaufens. Dort legte ich mich nieder. Ich schloss die Augen, ein Arm obenauf gelegt, als würde ich sie damit umarmen können. Ich betete aus tiefstem Herzen, Gott möge mich zu sich nehmen.

      Wie lange ich da in dieser Position verharrte, wusste ich nicht. Pater Andrews war es, der mich aus meiner Lethargie weckte.

      „Steh