Agnes M. Holdborg

Sonnenwarm und Regensanft - Band 3


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so­gar Ma­ri­us hat­ten sie ei­ni­ger­ma­ßen ab­ge­lenkt.

      Aber jetzt gab es kei­ne sol­che Ab­len­kung mehr und schon ging es wie­der los: Die Ge­dan­ken­schlei­fen zo­gen er­neut ih­re Krei­se. Das war ein­fach zu viel, fand sie. Wie­so An­na? Wie­so Jens? Wie­so nicht sie?

      In dem Be­wusst­sein, so­wie­so nicht schla­fen zu kön­nen, mach­te sie das Licht, das sie ge­ra­de erst ge­löscht hat­te, wie­der an und hock­te sich aufs Bett.

      Ge­dan­ken­ver­sun­ken starr­te sie in den run­den Spie­gel an der Wand, blick­te ge­ra­de­wegs in ih­re aus­drucks­vol­len grau-grü­nen Au­gen. Schnell wand­te sie sich dem gro­ßen Ge­mäl­de zu, das über An­nas Bett hing. Sie moch­te die­ses Bild. Vik­to­ria, die Zwil­lings­schwes­ter von An­nas Freund, hat­te es ge­malt und An­na vor fünf Mo­na­ten zum sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt.

      Le­na ge­fiel das mys­tisch, ge­heim­nis­voll an­mu­ten­de Mo­tiv, die war­me, luf­tig son­ni­ge Fa­rb­wahl. Es stell­te ei­ne Lich­tung in­mit­ten ei­nes hel­len Wal­des mit ei­nem klei­nen Bach dar. Den Bach konn­te man re­gel­recht plät­schern hö­ren, fand Le­na. Über die­ser son­der­ba­ren Lich­tung strahl­ten zwei Son­nen gleich­zei­tig. Das hat­te auf Le­na stets fas­zi­nie­rend ge­wirkt.

      Doch auch die­ses Bild er­schien ihr nun an­ders als zu­vor. Sie wuss­te nicht, ob es ihr über­haupt noch ge­fiel.

      Trotz der im­mer noch boh­ren­den Schmer­zen schüt­tel­te sie ve­he­ment den Kopf. Be­reits zum x-ten Mal dach­te sie über die­sen ver­flix­ten Abend nach. Den Abend, der ih­re wohl­ge­ord­ne­te Welt ins Wan­ken ge­bracht hat­te. Den Abend, an dem sie so­wohl von ih­ren El­tern als auch von An­na und Jens hat­te er­fah­ren müs­sen, dass bei­de Ge­schwis­ter an­ders wa­ren als sie, dass ein­fach Al­les an­ders war.

      … Zu­nächst ge­stal­te­te sich das Fa­mi­li­en­zu­sam­men­sein wirk­lich nett: Sie hat­ten es sich im Wohn­zim­mer mit Tee und Kek­sen auf So­fa und Ses­seln so rich­tig ge­müt­lich ge­macht. Nur sie fünf. Das hat­te es seit ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit nicht mehr ge­ge­ben.

      Im Grun­de ge­nom­men fand sie ih­re bei­den Ge­schwis­ter und sich schon et­was zu alt für so einen Fa­mi­li­en-Spie­le-Abend. Das galt selbst für An­na, die die schrä­ge Tee­nie­zeit voll­kom­men aus­ge­las­sen zu ha­ben schien und sich mitt­ler­wei­le von nie­man­dem, auch nicht mehr von ih­rem Bru­der Jens, et­was sa­gen ließ. Den­noch wa­ren sie für solch tra­di­ti­o­nel­le Fa­mi­li­en­zu­sam­men­künf­te hin und wie­der zu be­geis­tern.

      Zu Be­ginn spiel­ten sie ein paar Run­den Knif­fel. Le­na war im Be­griff, die Fa­mi­lie ver­nich­tend zu schla­gen, was ihr na­tür­lich gro­ßen Spaß be­rei­te­te. Al­ler­dings reich­te die­ser Spaß nicht aus, um ih­ren un­ter­schwel­li­gen Är­ger völ­lig zu un­ter­drü­cken. Sie hat­te sich wie­der mal mit Ma­ri­us ge­strit­ten. Die­ses Mal, weil er bei dem Spie­le­abend un­be­dingt hat­te da­bei sein wol­len, sie aber ein­mal et­was oh­ne ihn ma­chen woll­te. Auch wenn es nur ein Abend mit der Fa­mi­lie war.

      Zu An­fang be­merk­te sie nicht, wie ih­re El­tern stän­dig Bli­cke mit Jens und An­na aus­tausch­ten und das wäh­rend des Spie­les da­hin­plät­schern­de Ge­spräch peu à peu auf Vik­tor lenk­ten. Er wür­de spä­ter mit sei­nem Va­ter vor­bei­kom­men, hat­te An­na er­wähnt, so ganz ne­ben­bei.

      Le­na er­in­ner­te sich, wie ihr An­nas Wor­te einen Stich ver­setzt hat­ten. Ei­gent­lich soll­te es ein rei­ner Fa­mi­lie­n­abend sein, nur zu fünft. Al­so frag­te sie sich, was An­nas Freund und noch da­zu des­sen Va­ter da­bei zu su­chen hät­ten. Da hät­te sie Ma­ri­us ja doch mit da­zu ein­la­den und sich den gan­zen Stress mit ihm spa­ren kön­nen. …

      Bei dem er­neu­ten Ge­dan­ken an Ma­ri­us ver­dreh­te Le­na die Au­gen, kon­zen­trier­te sich aber wie­der auf den Abend:

      … Selbst Jens’ Freun­din Sil­vi, die so­zu­sa­gen zur Fa­mi­lie da­zu­ge­hör­te, war nicht da­bei.

      Doch sie wä­re ja nicht Le­na, wenn sie den auf­kei­men­den Un­mut nicht ein­fach hin­un­ter­schluck­te. Und das hat­te sie auch ge­tan.

      Al­ler­dings be­gann ihr Va­ter mit ei­nem Ma­le da­mit, ei­gen­ar­ti­ge Din­ge zu sa­gen. Er sprach von über­na­tür­li­chen Kräf­ten, an­de­ren Wel­ten und frag­te sie tat­säch­lich, ob sie an sol­che Din­ge glau­ben wür­de. Das brach­te das Fass zum Über­lau­fen. Le­na trau­te ih­ren Oh­ren nicht. So was Be­scheu­er­tes aber auch! Sind wir hier auf der En­ter­pri­se und su­chen in un­end­li­chen Wei­ten nach neu­en Wel­ten?, dach­te sie ent­rüs­tet. Hät­te sie ge­wusst, dass die Science-Fic­tion-Lie­be ih­res Va­ters die­se Aus­ma­ße an­neh­men wür­de, hät­te sie ihm die DVD’s mit den al­ten Star-Trek-Schin­ken nie­mals zu Weih­nach­ten ge­schenkt. War­um nur frag­te er sie so schwach­sin­ni­ges Zeug?

      Le­na spür­te, wie ihr der Ge­dulds­fa­den riss. Erst die ner­vi­ge Zan­ke­rei mit Ma­ri­us und nun die­ses ei­gen­ar­ti­ge Ge­re­de. Wü­tend pfef­fer­te sie sämt­li­che Wür­fel in die Ecke und woll­te wis­sen, was das gan­ze Ge­fa­sel soll­te. …

      Sie sah das Sze­na­rio wie­der vor sich, hat­te noch die Stim­me ih­rer Mut­ter und der an­de­ren Fa­mi­li­en­mit­glie­der im Ohr:

      … »Le­na, Schatz, bit­te reg dich doch nicht so auf«, ver­such­te The­resa, sie zu be­schwich­ti­gen. »Pa­pa will dir doch nur was er­klä­ren.« Sie mach­te ei­ne klei­ne Pau­se und sah Jo­han­nes da­bei an. Dann sprach sie wei­ter: »Pass auf, hhm, es ist et­was schwie­rig und viel­leicht glaubst du mir und den an­de­ren auch gar nicht. Aber wir fin­den nun mal, du soll­test es er­fah­ren. Du sollst wis­sen, was los ist.«

      »Mensch, Ma­ma!«, rief Le­na un­ge­dul­dig aus. »Was? Was soll ich denn wis­sen? Ihr re­det die gan­ze Zeit um den hei­ßen Brei her­um. Das macht mich ganz kir­re. Al­so, was ist los, Herr­gott noch­mal?«

      The­resa er­griff Le­n­as Hän­de und er­öff­ne­te ihr lei­se die ver­meint­li­che Wahr­heit: »Weißt du, Le­na, es geht vor al­lem um Vik­tor, sei­ne Schwes­ter Vik­to­ria und de­ren Va­ter. Nun …«, The­resa zö­ger­te ein we­nig, fuhr aber has­tig fort, weil Le­na ihr un­ge­hal­ten die Hän­de ent­zie­hen woll­te, »… die sind nicht so wie wir. Die ver­stor­be­ne Mut­ter der Zwil­lin­ge war zwar ei­ne ganz nor­ma­le Frau, ja, aber Vi­tus, der ist kein Mensch, Le­na. Vi­tus kommt aus ei­ner an­de­ren, uns frem­den Welt.«

      Sie räus­per­te sich. »Er stammt aus ei­ner El­fen­welt. Er ist ein El­fe, so­gar ein El­fen­kö­nig. Vik­tor und Vik­to­ria sind so­mit zu­min­dest hal­be El­fen.«

      Le­na sprang vom Ses­sel auf und zeig­te ih­rer Mut­ter einen Vo­gel.

      »El­fen? Bei dir piept’s ja wohl, Ma­ma! Ent­schul­di­ge bit­te, aber was soll denn der Scheiß? Habt ihr heu­te Abend vor, mich zu ver­ar­schen, oder seid ihr ein­fach nur sau­er, weil ich so oft beim Knif­fel ge­won­nen ha­be?«

      »Le­na!« Auch Jo­han­nes war auf­ge­stan­den. Er sah sei­ne Toch­ter bö­se an. »Das hört sich be­stimmt un­glaub­lich für dich an und ich kann ver­ste­hen, dass du auf­ge­bracht bist. Trotz­dem re­dest du nicht in die­sem Ton mit dei­ner Mut­ter, ver­stan­den! Du setzt dich so­fort wie­der hin und hörst zu, was wir dir zu sa­gen ha­ben! Und glau­be mir, Le­na, wir er­zäh­len dir hier nichts, was nicht stimmt.