Sie bildeten einen bizarren, scharfkantigen Zickzackkurs, über dem sich der Himmel in einem derart klaren Blau erstreckte, dass Vitus die Tränen in die Augen traten und er kurz blinzeln musste. »Ich komme viel zu selten her.«
»Da hast du wohl recht«, holte Estra ihn aus seinen Gedanken. »Schau nicht so verwundert drein, Vitus.« Das überraschte Staunen seines Bruders verleitete Estra zu einem Lächeln. »Seit du mit deiner bretonischen Kened – Schönheit Loana eine Hochzeit planst, bist du des Öfteren zerstreut. Ich hab noch nie so viel von deinem Gedankengut erhaschen können wie in der letzten Zeit.« Estras Lächeln blieb unverändert. »Sie tut dir gut. Das sehe ich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr Isinis und auch mich das freut.«
Nun wurde Estra ernst und schlug einen geschäftsmäßigen Ton an: »Schau dir den Burschen doch nachher mal an. Ich habe Sentran extra hergeholt, damit ihr euch auf neutralem Gebiet ein wenig beschnuppern könnt.«
»Gut, mach ich«, erwiderte Vitus knapp. Mit einem Mal wurde er still. Nachdenklich senkte er den Kopf, um seine Überlegungen samt der erneut aufsteigenden Trauer vor Estra zu verbergen.
»Sistra war ein guter Mann, Vitus.« In Estras Stimme lag stilles Bedauern. »Er war nicht nur einer deiner sechs Elitewachmänner. Er war dein Freund, genau wie meiner. Und auch Durell und Aedama waren unsere Freunde. Niemand wird sie je ersetzen können. Sie behalten auf ewig ihren Platz in unseren Herzen.« Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
»Das war ein schwarzer Tag, als Loanas …«, er schnaubte, »… sogenannte Familie die drei ermordet hat. Wir beide haben schon so manche dunkle Stunde miteinander geteilt, mein Bruder. Doch du hast wie schon so oft die Last trotz allem allein getragen.«
Estra machte eine kurze Pause und nippte an seinem Glas. »Das hat dir zugesetzt, jedes Mal. Trotzdem, Vitus, dein Leben geht nun einmal weiter. Und in Anbetracht deiner wunderschönen Verlobten, wird es von nun an ein sehr, sehr gutes Leben sein.« Er berührte seinen Bruder liebevoll am Arm. »Wir werden unsere Eltern und Freunde und auch Viktors und Viktorias Mutter nie vergessen, niemals. Aber …«
Vitus hob den Kopf und Estra sah in seine gequälte Seele. »Aber ich brauche nun mal einen neuen sechsten Wachmann«, vollendete er den Satz.
»Ja, den brauchst du.«
»Lass uns anstoßen, Estra. Lass uns das Glas erheben auf Aedama und Durell, die Iren. Und auf Sistra, den Wachmann. Auf unsere Freunde. Und auf all unsere Lieben, die wir verloren haben.«
Estra füllte die Gläser auf. »Ja, wir trinken auf die Iren, auf Sistra und auf alle anderen und auf die Gesundheit. Sláinte!«
»Genau, auf unsere Freunde und auch auf die Gesundheit!«
In diesem Moment betraten Loana und Isinis den Wintergarten.
»Halt, wartet, da sind wir natürlich auch dabei.« Isinis goss Loana und sich jeweils ein Glas ein, um mit anzustoßen. »Auf die Gesundheit!«
»Yec´het mat!« Loana stieß mit den anderen an, trank den scharfen Schnaps in einem Zug aus und verzog sodann für einen winzigen Augenblick ihr schönes Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Puh! Mat-tre! Ähm, sehr gut.« Während sie ihr honigblondes Haar schüttelte, leckte sie sich die Lippen und holte tief Luft. »Seid ihr euch sicher, dass dieses Zeug gesund ist?«
Vitus lachte schallend. Loana schaffte es immer wieder, seine trübe Stimmung zu vertreiben. Er stand auf, legte einen Finger unter ihr Kinn, um es anzuheben, und musterte sie.
»Hier in den Bergen gehört es sich, einen guten Obstler zu genießen.« Er gab ihr einen sanften Kuss. »Was ist, Kened, hat er dir etwa nicht gemundet?«
»Hhm? Doch, doch. Mat-tre«, antwortete sie. »Das sagte ich ja bereits. Aber ein Lambig oder Calvados schmeckt mir halt doch ein kleines bisschen besser. Noch lieber ist mir Couchenn oder einfacher Cidre.«
»Mat-tre? Soso.« Vitus versank in ihren edelsteingrünen Augen und lächelte amüsiert. »Wenn er dir trotz deiner Vorliebe für Apfel- und Honigwein sehr gut schmeckt, dann könnten wir uns ja noch ein Gläschen davon genehmigen. Was meinst du, meine Schöne?«
Loana trat etwas von ihm zurück, reckte aber forsch das Kinn. Zunächst den Kopf in den Nacken gelegt, um ihn ihrer geringen Größe wegen besser ansehen zu können, neigte sie den Kopf nun zur Seite und stemmte die Hände in die Hüften. Wie sie so vor ihm stand, musste Vitus schmunzeln, gab jedoch nicht preis, was er dachte: Dieser Anblick raubte ihm jedes Mal aufs Neue die Sinne. Genauso fesselnd hatte sie an dem Abend ausgesehen, als sie ihm zum ersten Mal im Empfangssaal seines Schlosses entgegengetreten war. Mit diesem ovalen Gesicht, den ebenmäßigen, lieblichen Zügen, der leicht gebräunten Haut, der kleinen Nase und dem vollen sinnlichen Mund. Doch was ihm regelmäßig den Atem verschlug, waren ihre leicht schräg stehenden, blitzend grünen Augen unter sanft geschwungenen Brauen.
»Jawohl«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Wie sagt man doch so schön?: Ein Bein steht nicht gern allein.«
Isinis runzelte zunächst die Stirn und gluckste dann belustigt, verkniff sich aber offenbar ein richtiges Lachen. »Ja, so ist es, Loana. Auf einem Bein kann man nicht stehen.« Sie goss alle Gläser wieder voll. »Yec´het mat!«
Es wurden mehr als zwei Beine. Die Flasche mit dem Obstler war fast bis zum letzten Tropfen geleert. So blieb es nicht aus, dass die Frauen irgendwann bei ihren Männern auf dem Schoß saßen und lachend deren Geschichten aus ihrer wilden Jugendzeit lauschten.
Währenddessen spielte Loana versonnen mit dem goldenen Amulett, das Vitus stets an einer schmalen Kette um den Hals trug. Es war mit feinen Ornamenten verziert, der Schrift der Vorväter. Seit Vitus mit knapp neunzehn Jahren, nach der Ermordung seiner Eltern, als der ältere der beiden Brüder den elfischen Thron hatte übernehmen müssen, wies ihn dieses Amulett als den König des westlichen Elfenreiches aus.
Dann ließ sie die Kette wieder los und überraschte mit einem Lied. Loana begann so unvermittelt zu singen, dass die anderen wie gebannt innehielten. Mit klarer, wunderschöner Stimme sang sie auf Bretonisch eine Ballade aus ihrer Heimat. Über Liebe und Trauer.
Vitus konnte dem Text nicht richtig folgen, so faszinierte ihn Loanas Gesang.
Umso mehr verblüffte es ihn, als sie ebenso abrupt zu singen aufhörte, wie sie begonnen hatte, und undeutlich murmelte: »Das hab ich lange nicht mehr …«
Sie schmiegte sich eng an Vitus’