Agnes M. Holdborg

Sonnenwarm und Regensanft - Band 3


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ge­ra­de erst ein paar Wo­chen her. Er­staun­lich, dass Lo­a­na es so­fort er­kannt hat.« Den letz­ten Satz schien Estra mehr zu sich selbst ge­spro­chen zu ha­ben.

      Dann at­me­te er ein­mal kurz durch und lenk­te das Ge­spräch auf ein an­de­res The­ma: »Die Zwil­lin­ge ha­ben in ei­ner Wo­che Ge­burts­tag. Was wirst du ih­nen schen­ken?«

      Vi­tus blies Rauch­krin­gel in die Luft und dach­te nach.

      »Es soll­te et­was Be­son­de­res sein«, er­wi­der­te er be­trof­fen. »Letz­tes Jahr sind sie voll­jäh­rig ge­wor­den und ich war nicht da. Ich ha­be ih­nen nicht ein­mal gra­tu­liert, Estra.«

      »Hör auf, dir Vor­wür­fe zu ma­chen. Du hast die bei­den nach dem Tod ih­rer Mut­ter mehr als acht­zehn Jah­re lang Tag und Nacht vor ei­ner ge­mei­nen, rach­süch­ti­gen Frau be­schützt.«

      Estra lehn­te sich zu Vi­tus hin­über und blick­te ihn durch­drin­gend an. »Vik­tor und Vik­to­ria sind bei Isi­nis und mir glü­ck­lich auf­ge­wach­sen, Vi­tus. Wir lie­ben die bei­den wie un­se­re ei­ge­nen Kin­der. Es hat ih­nen nie an et­was ge­fehlt. Das weißt du doch hof­fent­lich?«

      Vi­tus nick­te. »Na­tür­lich weiß ich das. Und ich wer­de mein gan­zes Le­ben da­für in eu­rer Schuld ste­hen.«

      Er mach­te ei­ne ab­weh­ren­de Ges­te, als Estra pro­tes­tie­ren woll­te, und seufz­te. »Ich dach­te da­mals, ich wür­de das Rich­tig tun. Ich dach­te, die Kin­der zu schüt­zen und nie­man­dem von der Ge­fahr durch Ka­na zu er­zäh­len, sei die ein­zig mög­li­che Lö­sung. Jetzt bin ich mir nicht mehr si­cher, ob es gut war. Ich weiß es ein­fach nicht, Estra. Ich ha­be sie so lan­ge al­lein­ge­las­sen.«

      »Was ge­sche­hen ist, ist ge­sche­hen. Wie du schon sag­test: Wir wis­sen nicht, ob es un­be­dingt das Rich­ti­ge war. Aber letzt­lich hast du uns um Hil­fe ge­be­ten und wir ha­ben uns ge­mein­sam ge­gen Ka­na samt ih­rem Zau­ber­freund Kaoul ge­wehrt. Das wis­sen wir. Au­ßer­dem sind die bei­den tot. Sie kön­nen die Zwil­lin­ge und auch dich nie mehr be­dro­hen. Das ist, so den­ke ich, das Wich­tigs­te.«

      »Das mag wohl sein. Doch nun ha­ben Vik­tor und Vik­to­ria mich ge­ra­de erst für sich und da tritt auf ein­mal Lo­a­na auf den Plan. Es wun­dert mich, wie rück­halt­los die Kin­der sie in ihr Herz ge­schlos­sen ha­ben.«

      Estra schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf. »Ich bit­te dich, wer könn­te das nicht? Lo­a­na ist wirk­lich ei­ne be­mer­kens­wer­te Frau und das nicht nur, weil sie ne­ben ih­ren hei­len­den auch enor­me em­pa­thi­sche Kräf­te be­sitzt und da­mit ein­fach un­glaub­lich gut zu dir passt.«

      Er beug­te sich zu Vi­tus hin­über. »Es hat­te zwar einen schreck­li­chen Grund, wes­halb ihr zwei euch vor ein paar Mo­na­ten ken­nen­ge­lernt habt, aber ich bin sehr froh dar­über, dass du nach Vik­tors und Vik­to­ri­as Mut­ter end­lich wie­der je­man­den ge­fun­den hast. Dei­ne Kin­der den­ken haar­ge­nau das­sel­be.«

      … Vi­tus schwieg. Die Er­in­ne­rung dar­an, wie Lo­a­na aus rei­ner Ver­zweif­lung und mut­ter­see­le­n­al­lein zu Fuß aus der Bre­ta­gne in sein Schloss ge­kom­men war und dort so­lan­ge aus­ge­harrt hat­te, bis sie mit ih­rem Kö­nig spre­chen durf­te, um Hil­fe zu er­bit­ten, war ihm nur all­zu ge­gen­wär­tig.

      Lo­a­nas Mann war vor meh­re­ren Jah­ren einen mys­te­ri­ösen Tod ge­stor­ben. Seit­dem wur­de sie von ei­nem ih­rer zwei Schwä­ger so­wie ih­rer Schwie­ger­mut­ter und de­ren Bru­der sys­te­ma­tisch al­ler Be­sitz­tü­mer und ih­res Lan­des be­raubt und da­nach fort­ge­jagt. Der Mör­der ih­res Man­nes und sei­ne Kum­pa­ne wa­ren nun zwar nicht mehr am Le­ben, doch Lo­a­na zu hel­fen, hat­te da­für auch Si­stra, Aeda­ma und Du­rell das Le­ben ge­kos­tet. Lo­a­nas Wi­der­sa­cher hat­ten al­le drei fei­ge nie­der­ge­sto­chen. …

      Er at­me­te ein­mal kräf­tig durch, um die Dä­mo­nen der Ver­gan­gen­heit zu ver­trei­ben. Dann leg­te er die Zi­gar­re in den Aschen­be­cher und sah sei­nen Bru­der an.

      »Stimmt, man muss Lo­a­na ein­fach mö­gen. Und sie hat mei­nem Le­ben ei­ne deut­li­che Wen­de ge­ge­ben.« Er lä­chel­te. »Ich glau­be, mir ist ge­ra­de ein­ge­fal­len, was ich den Kin­dern schen­ken könn­te, hör zu …«

      Bon­bon­ro­sa

      An­na saß zu Hau­se an ih­rem Schreib­tisch. Zu­frie­den leg­te sie ihr Heft bei­sei­te. Die Haus­auf­ga­ben wa­ren er­le­digt, die auf­ge­ge­be­nen Text­pas­sa­gen ge­le­sen.

      Den­noch blieb sie noch ei­ne Wei­le auf dem wei­ßen neu­en Schreib­tisch­stuhl sit­zen. Tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken schau­te sie aus dem Fens­ter.

      End­lich schien ihr Le­ben wie­der ei­ni­ger­ma­ßen sor­gen­frei zu ver­lau­fen. Es war so viel pas­siert, seit Vik­tor sie An­fang der letz­ten Som­mer­fe­ri­en auf ih­rer klei­nen Lich­tung im Wald an­ge­spro­chen und ihr spä­ter ge­stan­den hat­te, dass er ein Hal­bel­fe wä­re.

      Mit die­ser Be­geg­nung er­fuhr ihr Le­ben ei­ne dras­ti­sche, auf­re­gen­de Wen­dung, hat­te Vik­tor sie doch in ei­ne an­de­re, ihr völ­lig un­be­kann­te Welt mit El­fen und de­ren über­sinn­li­chen Kräf­ten ge­führt. Nicht min­der auf­re­gend war es al­ler­dings für An­na, sich oben­drein Hals über Kopf in den halb­mensch­li­chen Sohn ei­nes mäch­ti­gen El­fen­kö­nigs zu ver­lie­ben und mit ihm die Lie­be samt ih­rer schil­lern­den Fa­cet­ten zu er­le­ben. Sie wa­ren sich ge­gen­sei­tig ver­fal­len – mit Haut und Haa­ren, schwirr­te es An­na durch den Kopf. So­fort ver­such­te sie, die­sen Ge­dan­ken ab­zu­schüt­teln, be­vor Vik­tor sich wie­der dar­in ein­sch­lich und her­um­spio­nier­te.

      … Sie lach­te bei der Er­in­ne­rung dar­an, wie ihr Bru­der Jens und sie zum ers­ten Mal ih­re ei­ge­nen te­le­pa­thi­schen Fä­hig­kei­ten aus­pro­biert hat­ten. Ein wei­te­res Phä­no­men, das sie schon bald nach der ers­ten Be­geg­nung mit Vik­tor er­ken­nen muss­te. Sie selbst und auch ihr Bru­der ver­füg­ten über be­acht­li­che über­mensch­li­che Sin­ne.

      Im Lau­fe der Zeit wur­de es al­ler­dings nicht nur auf­re­gend und lus­tig, son­dern auch im­mer aben­teu­er­li­cher und lei­der ge­fähr­lich, die­ser an­de­ren Welt zu be­geg­nen und Vik­tor zu lie­ben:

      Die Be­dro­hung durch Ka­na, der Kö­ni­gin des süd­li­chen El­fen­rei­ches, ge­mein­sam mit dem mäch­ti­gen Zau­be­rel­fen Kaoul. So­gar An­nas Fa­mi­lie woll­te die­se skru­pel­lo­se Frau ans Le­der, und das al­lein aus Ra­che an Vi­tus. Aber das so­wie die In­tri­gen von Lo­a­nas Ver­wandt­schaft in der Bre­ta­gne ge­hör­ten nun end­lich der Ver­gan­gen­heit an.

      Die ei­ge­ne Ent­füh­rung durch ih­ren Bio­lo­gie­leh­rer im Herbst letz­ten Jah­res hat­te ei­gent­lich nichts mit den El­fen zu tun. Doch wer weiß, was ge­sche­hen wä­re, wenn Vik­tor sie nicht zu­sam­men mit Vi­tus samt sei­nen Wach­män­nern aus den Fän­gen die­ses Mons­ters be­freit hät­te. …

      An­na ver­such­te, mög­lichst we­nig dar­an zu den­ken, dass sie die­sen Mann dem­nächst bei der Ge­richts­ver­hand­lung wie­der­se­hen und ge­gen ihn aus­sa­gen müss­te. Das Straf­ver­fah­ren be­un­ru­hig­te und be­frie­dig­te sie glei­cher­ma­ßen. Ih­rem Pei­ni­ger noch ein­mal ge­gen­über­tre­ten zu müs­sen, wä­re be­stimmt schlimm.