gerade erst ein paar Wochen her. Erstaunlich, dass Loana es sofort erkannt hat.« Den letzten Satz schien Estra mehr zu sich selbst gesprochen zu haben.
Dann atmete er einmal kurz durch und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema: »Die Zwillinge haben in einer Woche Geburtstag. Was wirst du ihnen schenken?«
Vitus blies Rauchkringel in die Luft und dachte nach.
»Es sollte etwas Besonderes sein«, erwiderte er betroffen. »Letztes Jahr sind sie volljährig geworden und ich war nicht da. Ich habe ihnen nicht einmal gratuliert, Estra.«
»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast die beiden nach dem Tod ihrer Mutter mehr als achtzehn Jahre lang Tag und Nacht vor einer gemeinen, rachsüchtigen Frau beschützt.«
Estra lehnte sich zu Vitus hinüber und blickte ihn durchdringend an. »Viktor und Viktoria sind bei Isinis und mir glücklich aufgewachsen, Vitus. Wir lieben die beiden wie unsere eigenen Kinder. Es hat ihnen nie an etwas gefehlt. Das weißt du doch hoffentlich?«
Vitus nickte. »Natürlich weiß ich das. Und ich werde mein ganzes Leben dafür in eurer Schuld stehen.«
Er machte eine abwehrende Geste, als Estra protestieren wollte, und seufzte. »Ich dachte damals, ich würde das Richtig tun. Ich dachte, die Kinder zu schützen und niemandem von der Gefahr durch Kana zu erzählen, sei die einzig mögliche Lösung. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob es gut war. Ich weiß es einfach nicht, Estra. Ich habe sie so lange alleingelassen.«
»Was geschehen ist, ist geschehen. Wie du schon sagtest: Wir wissen nicht, ob es unbedingt das Richtige war. Aber letztlich hast du uns um Hilfe gebeten und wir haben uns gemeinsam gegen Kana samt ihrem Zauberfreund Kaoul gewehrt. Das wissen wir. Außerdem sind die beiden tot. Sie können die Zwillinge und auch dich nie mehr bedrohen. Das ist, so denke ich, das Wichtigste.«
»Das mag wohl sein. Doch nun haben Viktor und Viktoria mich gerade erst für sich und da tritt auf einmal Loana auf den Plan. Es wundert mich, wie rückhaltlos die Kinder sie in ihr Herz geschlossen haben.«
Estra schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bitte dich, wer könnte das nicht? Loana ist wirklich eine bemerkenswerte Frau und das nicht nur, weil sie neben ihren heilenden auch enorme empathische Kräfte besitzt und damit einfach unglaublich gut zu dir passt.«
Er beugte sich zu Vitus hinüber. »Es hatte zwar einen schrecklichen Grund, weshalb ihr zwei euch vor ein paar Monaten kennengelernt habt, aber ich bin sehr froh darüber, dass du nach Viktors und Viktorias Mutter endlich wieder jemanden gefunden hast. Deine Kinder denken haargenau dasselbe.«
… Vitus schwieg. Die Erinnerung daran, wie Loana aus reiner Verzweiflung und mutterseelenallein zu Fuß aus der Bretagne in sein Schloss gekommen war und dort solange ausgeharrt hatte, bis sie mit ihrem König sprechen durfte, um Hilfe zu erbitten, war ihm nur allzu gegenwärtig.
Loanas Mann war vor mehreren Jahren einen mysteriösen Tod gestorben. Seitdem wurde sie von einem ihrer zwei Schwäger sowie ihrer Schwiegermutter und deren Bruder systematisch aller Besitztümer und ihres Landes beraubt und danach fortgejagt. Der Mörder ihres Mannes und seine Kumpane waren nun zwar nicht mehr am Leben, doch Loana zu helfen, hatte dafür auch Sistra, Aedama und Durell das Leben gekostet. Loanas Widersacher hatten alle drei feige niedergestochen. …
Er atmete einmal kräftig durch, um die Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben. Dann legte er die Zigarre in den Aschenbecher und sah seinen Bruder an.
»Stimmt, man muss Loana einfach mögen. Und sie hat meinem Leben eine deutliche Wende gegeben.« Er lächelte. »Ich glaube, mir ist gerade eingefallen, was ich den Kindern schenken könnte, hör zu …«
Bonbonrosa
Anna saß zu Hause an ihrem Schreibtisch. Zufrieden legte sie ihr Heft beiseite. Die Hausaufgaben waren erledigt, die aufgegebenen Textpassagen gelesen.
Dennoch blieb sie noch eine Weile auf dem weißen neuen Schreibtischstuhl sitzen. Tief in Gedanken versunken schaute sie aus dem Fenster.
Endlich schien ihr Leben wieder einigermaßen sorgenfrei zu verlaufen. Es war so viel passiert, seit Viktor sie Anfang der letzten Sommerferien auf ihrer kleinen Lichtung im Wald angesprochen und ihr später gestanden hatte, dass er ein Halbelfe wäre.
Mit dieser Begegnung erfuhr ihr Leben eine drastische, aufregende Wendung, hatte Viktor sie doch in eine andere, ihr völlig unbekannte Welt mit Elfen und deren übersinnlichen Kräften geführt. Nicht minder aufregend war es allerdings für Anna, sich obendrein Hals über Kopf in den halbmenschlichen Sohn eines mächtigen Elfenkönigs zu verlieben und mit ihm die Liebe samt ihrer schillernden Facetten zu erleben. Sie waren sich gegenseitig verfallen – mit Haut und Haaren, schwirrte es Anna durch den Kopf. Sofort versuchte sie, diesen Gedanken abzuschütteln, bevor Viktor sich wieder darin einschlich und herumspionierte.
… Sie lachte bei der Erinnerung daran, wie ihr Bruder Jens und sie zum ersten Mal ihre eigenen telepathischen Fähigkeiten ausprobiert hatten. Ein weiteres Phänomen, das sie schon bald nach der ersten Begegnung mit Viktor erkennen musste. Sie selbst und auch ihr Bruder verfügten über beachtliche übermenschliche Sinne.
Im Laufe der Zeit wurde es allerdings nicht nur aufregend und lustig, sondern auch immer abenteuerlicher und leider gefährlich, dieser anderen Welt zu begegnen und Viktor zu lieben:
Die Bedrohung durch Kana, der Königin des südlichen Elfenreiches, gemeinsam mit dem mächtigen Zauberelfen Kaoul. Sogar Annas Familie wollte diese skrupellose Frau ans Leder, und das allein aus Rache an Vitus. Aber das sowie die Intrigen von Loanas Verwandtschaft in der Bretagne gehörten nun endlich der Vergangenheit an.
Die eigene Entführung durch ihren Biologielehrer im Herbst letzten Jahres hatte eigentlich nichts mit den Elfen zu tun. Doch wer weiß, was geschehen wäre, wenn Viktor sie nicht zusammen mit Vitus samt seinen Wachmännern aus den Fängen dieses Monsters befreit hätte. …
Anna versuchte, möglichst wenig daran zu denken, dass sie diesen Mann demnächst bei der Gerichtsverhandlung wiedersehen und gegen ihn aussagen müsste. Das Strafverfahren beunruhigte und befriedigte sie gleichermaßen. Ihrem Peiniger noch einmal gegenübertreten zu müssen, wäre bestimmt schlimm.