Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


Скачать книгу

sagte er, „ich habe Euch sogleich erkannt“.

      Er schwieg eine Weile, und keiner seiner Gefangenen sagte ein Wort, dann fuhr er fort: „Ich verstehe Euren Zorn, aber ich musste Euch gefangen nehmen. Ich folge damit nur dem Auftrag, den Euer Vater mir einst gegeben hat. Ich solle, so sagte er, hier in dieser verlassenen Gegend die Stellung halten, und meine Soldaten möglichst unbeschadet durch alle Wirren der Zeit führen. Diesen Befehl habe ich bisher treu und gewissenhaft ausgeführt, bis Ihr gekommen seid, um uns zu stören. Natürlich weiß ich, dass das Heimland in Gefahr ist. Auch ich habe meine Boten und Spione. Aber was kann ich dagegen unternehmen? Wenn ich eingreife, opfere ich sinnlos das Leben der mir anvertrauten Männer. Kann ich das verantworten? Kann ich zulassen, dass sie sterben? Das können nicht Euer Wille, und auch nicht der Wille Eures Vaters sein! Hätte ich Euch nicht verhaftet, sondern Euch als Herrscher anerkannt, so hätte ich mich Eurem Willen unterwerfen müssen. Den Gehorsam, den ich von meinen Männern verlange, muss ich schließlich auch selbst bringen. Wenn ich Euch vor allen den Befehl verweigert hätte, wenn ich Eure Autorität nicht anerkannt hätte, so hätte ich gleichzeitig die meine untergraben. Auch das kann nicht Euer Wille sein. Ich musste Euch deshalb festsetzen.

      Doch warum seid Ihr gekommen? Warum lasst Ihr mich den Auftrag, den ich einst erhalten habe, nicht ordentlich zu Ende bringen? Warum wollt Ihr, dass wir alle sterben? Wenn ich mich Euch widersetze, so handele ich in Eurem eigenen Interesse!"

      Der Graf unterbrach den langen Monolog: „Und was ist mit den Orokòr? Ihr wisst, dass sie an unseren Grenzen stehen!"

      „Ach ja, die Orokòr! Der Orokòr ist ein gefährliches Wesen. Seine Hautfarbe ist dunkel, und er ist von äußerster Grausamkeit. Der Dunkle Herrscher hat ihn einst für seine bösen Zwecke geschaffen. Der Orokòr lebt in Höhlen und wäscht sich nie. Deshalb ist in seiner Gegenwart ein strenger Geruch anzutreffen. Der Orokòr tritt nur ganz selten alleine auf. Er ist ein Rudelwesen, das sich bedingungslos seinen Führern unterwirft“.

      Werhan konnte nicht länger zuhören: „Was soll diese Belehrung über die Orokòr. Zum einen bin ich sicher, dass sich die Orokòr nicht so einfach beschreiben lassen. Auch bei ihnen gibt es Unterschiede. Zum anderen, und das ist viel wichtiger, Orokòr sind im Heimland. Jetzt in diesem Moment töten sie Erit-Frauen und Erit-Männer. Euer Auftrag ist es, Eure Landsleute zu verteidigen. So tut dies gefälligst!"

      Er war, während er sprach, zu dem General getreten und hatte ihn an der Schulter gefasst.

      Dieser schüttelte die Hand ab und entgegnete wütend: „Ich lasse mich nicht gern unterbrechen und schon gar nicht von einem dahergelaufenen Strolch. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich mit meinen paar Männern das Heimland vor den Orokòr retten könnte. Wenn wirklich Orokòr eingedrungen sind, so muss man eben warten, bis sie wieder abziehen. Wenn wir uns bis dahin in Reserve halten, können wir als militärischer Ordnungsfaktor den Aufbau organisieren. Ein Mann in meiner Position muss auch an den Tag danach denken. Er darf sich vom Tagesgeschehen nicht überrollen lassen“.

      „Und all das Grauen, das die fremden Eroberer in der Zwischenzeit anrichten?"

      „Damit muss man leben. Der Schwache kann sich kein Mitleid leisten!"

      „Er ist einfach nur feige“, sagte Marga leise wie zu sich selbst.

      Der General erbleichte und verlor die Nerven: „Ich muss mich nicht beschimpfen lassen“, tobte er. „Mein Leben lang habe ich meine Pflichten treu erfüllt. Mein Herr hatte nie Grund, über mich zu klagen. Stets lag mir das allgemeine Wohl am Herzen, ich stellte es höher als mein eigenes. Nun kommen junge Leute, dazu noch Fremde, und beschimpfen mich. Das habe ich nicht verdient. Herr, warum schweigt Ihr dazu. Warum stellt Ihr euch nicht vor Euren Diener? Fürsorge ist die oberste Pflicht eines Herrn, und nun bedarf ich Eurer Fürsorge vor den Angriffen dieser ... dieser ... Flüchtlinge“.

      Begütigend legte ihm Werhan noch einmal die Hand auf die Schulter.

      „Ihr selbst braucht euer Rattenloch hier nicht zu verlassen. Wir wollen nur ein paar von euren Soldaten, die helfen, das Schlimmste zu verhüten“.

      „Wenn ich euch Soldaten mitgebe, wer soll dann hier im Norden die Grenze schützen? Hier ist ein gefährliches, ein bedrohtes Gebiet. Jenseits des Flusses und der Berge sind wilde Lande. Von dort drängen immer wieder Feinde ins Heimland. Ich kann es nicht verantworten, die Grenzen für jedermann zu öffnen“.

      „Aber die Feinde sind doch schon längst im Land. Wir müssen sie hier bekämpfen“, rief Horsa verzweifelt.

      „Schlimm genug, dass Feinde eingedrungen sind. Wollt Ihr das Übel noch vergrößern, indem Ihr noch mehr Feinde ins Land lasst? Man muss den Schaden begrenzen, indem man zumindest diese nördliche Grenze bewacht! Nein, ich kann Euch keinen einzigen meiner Männer mitgeben“.

      Werhan nahm die Hand vom General und sagte zu den anderen: „Er glaubt zumindest im Augenblick selbst, was er sagt. Vor ein paar Tagen war übrigens eine Abordnung der Orokòr hier und hat den Alten gemahnt, still zu halten. Der Schreck über diesen Besuch sitzt ihm noch immer in den Knochen“.

      Der General erbleichte bei diesen Worten, drehte sich wortlos um und lief auf den Gang hinaus. Niemand bewegte sich. Nach einigen Augenblicken kehrte er zurück. Er ignorierte noch immer die beiden Menschen und wandte sich nur an den Markgrafen.

      „Herr“, sagte er und seine Stimme zitterte, „ich will nicht von Euch scheiden, ohne Euch ausdrücklich meiner Loyalität versichert zu haben. Ich werde mich niemals gegen Euch wenden. Wenn ich jetzt gehe, so bleibt diese Tür offen. Auch alle anderen Tore sind nicht abgeschlossen, und die Wachen habe ich abgezogen. Lebt wohl! Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich Euch gesund wiedersehen werde. Ihr seid einst auf meinen Knien geritten, und ich möchte noch viele glückliche Jahre in Eurem Dienst verbringen“.

      Nach diesen Worten trat er langsam und würdig auf Horsa zu und küsste ihn mit bleichen Lippen. Dann verließ er mit gebeugten Schultern die Zelle.

      Die Gefangenen sahen sich ratlos an und warteten eine Weile, dann folgten sie ihm vorsichtig. Tatsächlich standen alle Türen offen, und kein Soldat war zu sehen. Als sie aus dem Gebäude traten und zum großen Tor gingen, umfing sie die Nacht. Der Boden war noch feucht vom Regen. Über ihnen wölbte sich ein prächtiger Sternenhimmel. Die Luft war nach dem Gewitter des Tages kühl und rein. Auch der Eingang zum Fort war nicht geschlossen, so dass sie rasch hinausschlüpfen konnten. Sie standen am Fuß der Palisaden.

      „Was nun?" fragte Horsa.

      „Erst einmal weg von hier“, antwortete Werhan und machte sich auf den Weg.

      

      

       In die Berge

      

      Sie folgten der Straße, die beim Tor begann. Sie schlängelte sich am Fuß des Bustergebirges entlang und verband die nördlichen Orte des Heimlands. Werhan blieb an einem verwitterten Wegweiser stehen.

      „Wir müssen endlich wissen, was los ist“, sagte er. „Vielleicht können uns die Vögel helfen. Die meisten schlafen jetzt zwar, aber ich hoffe, Marga, du kannst wenigstens Kontakt zu einigen Nachtvögeln bekommen“.

      Die junge Frau nickte und begann zu flöten und zu trillern. Kurz darauf hörte man aus der Ferne eine Antwort. Ein zweiter Vogel fiel ein und ein dritter. Bald war die Luft unter dem funkelnden Sternenhimmel erfüllt von einer hellen Melodie. Marga pfiff zurück, und es entspann sich ein Pfeifkonzert.

      Atemlos und gespannt fragte Horsa: „Was hörst du? Was sagen sie?"

      Die Frau ließ sich nicht stören und flötete weiter.

      Der Graf wurde immer ungeduldiger. „Verdammt noch 'mal, so sag' doch, was los ist!"

      Werhan schaltete sich ein und legte den Finger auf den Mund. „Sei doch still!" flüsterte er.

      Als das Zwiegespräch zwischen Marga und den Vögeln beendet war, wandte sie sich an ihren Begleiter: „Du