Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Ihr fragt, wer ich bin? Nun denn, ich heiße Montini und bin der Hüter dieser Berge“.

      „Was heißt hier 'Hüter dieser Berge'?" Aus Horsas Stimme klang nun erst recht Misstrauen. „Soll das bedeuten, Ihr hütet irgendwelche Herden hier in den Bergen?"

      „Nein, ich hüte die Berge selbst. Ihr müsst wissen, dass alles, was ist, von jemandem behütet wird, jedes Feld, jeder Baum und natürlich auch die Berge. Die Hüter geben sich in der Regel nicht zu erkennen, deshalb weiß man so wenig von ihnen“.

      „Wer sind diese Hüter?"

      „Das ist ganz verschieden. Manchmal sind es Menschen, zum Beispiel die Eigentümer eines Waldes oder eines Flusses. Oft sind es aber auch Wesen, deren Leben weit über das der Menschen hinausreicht. Übrigens gibt es auch Hüterinnen. Das Bewahren und Behüten ist nicht allein Aufgabe der Männer in dieser Welt. Es gibt sogar mehr Frauen, die behüten“.

      „Und was macht ihr Hüter?"

      „Wir schützen und bewahren das uns Anvertraute und sorgen für Ordnung. Ich möchte nicht, dass in meinen Bergen jemand zu Schaden kommt. Aber häufig komme ich zu spät, um zu helfen. Doch ihr habt mich rechtzeitig gerufen“.

      „Wir haben Euch gerufen? Da müsst Ihr Euch irren. Wir haben nichts dergleichen getan“.

      Nun war der alte Mann entrüstet. „Ich war doch auch offen zu euch! Warum bringt ihr mir nicht Vertrauen entgegen und gebt zu, dass ihr einen Rapulio besitzt?"

      „Was ist ein Rapulio?" Marga stellte diese Frage.

      Der Fremde wurde immer wütender: „Haltet mich nicht für einen Narren und spielt kein Spiel mit mir. Ihr könnt keinen Rapulio einsetzen und dann so tun, als wüsstet ihr nicht, was das ist“.

      "Wir wissen es wirklich nicht“, wandte das Mädchen beschwichtigend ein. „So sagt uns doch, was Ihr damit meint“.

      „Und wie habt ihr mich geholt?" fragte der Mann. „Wie bin ich auf euch aufmerksam geworden? Ihr habt mich gerufen. Davon wollt ihr jetzt nichts mehr wissen?"

      „Wie können wir Euch rufen, wenn wir Euch gar nicht kennen?"

      „Ihr habt mich aber gerufen, das weiß ich genau. In eurem Besitz muss etwas von großer Macht sein, mit dem euch dies gelang. Zeigt es nun endlich her!"

      „Wie könnten wir Euch etwas zeigen, von dem wir gar nicht wissen, dass wir es besitzen?" Werhan war im Verlauf des Gespräches ärgerlich geworden.

      Da sagte Horsa leise: „Ich glaube, ich weiß, was er meint“, und zog das Geschenk des Vaters aus der Tasche.

      „Da ist es ja!" sagte der Alte zufrieden. „Woher habt Ihr dieses aparte Ding, und warum habt Ihr so hartnäckig den Besitz geleugnet?"

      Bei diesen Worten streckte er seine Hand aus, aber Horsa schreckte zurück. Er hatte plötzlich Angst, der Fremde wolle ihm den goldenen Fund nehmen.

      „Ich wusste nicht, was das ist. Ich habe die Kugel durch Zufall bekommen“, sagte er abwehrend.

      „Nun lass' schon sehen. Ich nehme ihn dir nicht weg!"

      Der junge Graf war noch immer misstrauisch und zeigte keine Bereitschaft, die goldene Kugel, die sich überraschend als ein Schatz erwies, herzugeben.

      „Wenn du mir das Ding schon nicht aushändigen willst, dann zeige es mir wenigstens aus der Ferne. Es wäre gut für uns alle, wenn wir wüssten, was du mit dir herumschleppst“.

      Widerstrebend hielt Horsa die goldene Kugel ins gleißende Licht der Sonne. Der Alte pfiff durch die Zähne. „Vor langer Zeit habe ich davon gehört. Das muss tatsächlich ein Rapulio sein“.

      „Einen Rapulio? Was ist das?" Der Graf wurde ganz aufgeregt.

      „Jetzt ist keine Zeit, um von ihm zu erzählen. Vielleicht ein anderes Mal. Aber bewahre das Ding gut auf. Wenn es wirklich ein Rapulio ist, dann besitzt du einen Schatz aus grauer Vorzeit. Nur wenige Lebende wissen noch von seiner Existenz. Es gab nur zwei Rapulios auf der Welt, und man hielt sie bisher für verschollen. Nun scheint einer aufgetaucht zu sein. Wirklich, es sind seltsame Zeiten. Kommt nun, wir müssen uns sputen!"

      Sie waren während des Disputes den Gebirgsweg entlanggeeilt und hatten ein dunkles Loch erreicht, das in einer Felswand gähnte. Es erwies sich als eine geräumige Höhle. Dort hinein führte sie der alte Mann und bereitete ihnen ein Lager. Aus seinem Beutel holte er Verpflegung und im dämmrigen Licht, das von der untergehenden Sonne durch den Eingang drang, aßen sie mit großem Appetit. Bald fielen sie in tiefen Schlaf, und nur ihr Gastgeber lehnte sich gegen die Felswand und bereitete sich auf eine lange Nachtwache vor.

      Die Nacht war dunkel. Montini dachte über den Rapulio und seine Geschichte nach. Er gehörte zu den wenigen, die überhaupt davon wussten. Während ihm die alten Erzählungen durch den Kopf gingen, wurde er müder und müder. Schließlich fiel sein Kopf nach vorne, und er nickte ein.

      Etwa gegen zwei Uhr erwachte Werhan. Ein beißender Schmerz in seinem Bein hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Noch im Halbschlaf schlug er um sich und fühlte dabei einen festen, struppigen Pelz. Überrascht schrie er auf, und nun überstürzten sich die Ereignisse. Montini erwachte sofort und sprang auf. Auch Horsa und Marga schreckten auf. In diesem Moment hörten sie alle das wütende Klappern der Taks. Die ganze Höhle war erfüllt von diesem entsetzlichen Geräusch.

      Montini ergriff seinen Stock und schlug blindlings im Dunkeln zu. Heulen war die Antwort. Seine Schützlinge tasteten auf dem Boden nach Steinen und hieben um sich. Zwar konnten die Taks in der Dunkelheit mehr sehen als ihre Opfer, aber sie waren feige und von der heftigen Gegenwehr überrascht. Sie hatten mit dem Überraschungseffekt gerechnet und geglaubt, leichtes Spiel zu haben. Stattdessen trafen sie auf Wesen, die sich zu wehren wussten und ihnen schlimme Blessuren zufügten. Auf dem engen Raum der Höhle war ihre große Zahl von Nachteil. Sie konnten ihre Übermacht nicht ausspielen. Sie standen sich im Weg, und ihre Gegner trafen mit jedem Streich gleich mehrere von ihnen. Enttäuscht und mit Geheul stürmten sie deshalb nach kurzer Zeit ins Freie und suchten das Weite. Der Überfall war abgeschlagen.

      „Das ist gerade noch einmal gut gegangen“, seufzte Montini. „Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich nicht wach geblieben bin. Ein schöner Hüter und Wächter bin ich, aber ich werde eben alt, so alt wie meine Berge. Warum nur haben diese feigen Kreaturen angegriffen? Man muss sie mit Drohungen oder Versprechungen dazu gezwungen haben. Von sich aus würden sie ein derartiges Wagnis nicht auf sich nehmen. Taks kämpfen nur, wenn sie wirklich überlegen sind und keine Gefahr für sich vermuten“.

      In diesem Augenblick stöhnte Werhan: „Mein Bein, mein Bein“.

      Sie entzündeten mit altem Holz, das herumlag, ein Feuer und untersuchten den Liegenden. Einer der Taks hatte mit seinen Scheren eine klaffende Wunde in sein Bein gezwickt. Marga ging ins Dunkle, zog ihr Unterhemd aus und riss es in Streifen. Damit verbanden sie die Verletzung. Der Stoff färbte sich sofort rot und Werhan ließ sich seufzend zurücksinken.

      „Mehr können wir im Augenblick nicht tun“, sagte Montini. „Schlaf können wir uns nicht mehr leisten. Es kann sein, dass die Taks noch einmal zurückkommen. Sie haben sich schon einmal gegen ihre Natur verhalten, warum sollten sie es nicht wieder tun? Wir müssen auf alles gefasst sein“.

      Sie ließen Werhan liegen und setzten sich im Halbkreis um den Höhleneingang.

      „Wer oder was sind eigentlich diese Taks?" fragte Horsa.

      „Die Taks“, sagte der Alte, „stammen aus dem hohen Norden. Ich wundere mich, was diese Geschöpfe hier im Heimland zu suchen haben? Welche Teufelei soll mit ihnen bezweckt werden? Die Taks sind eigentlich ein Volk der Jäger. Mit ihren Krallen greifen sie schnell ins Wasser und fangen so Fische. Auch jagen sie Rentiere, denen sie die Kehle aufreißen. Im Winter müssen sie aber häufig Hunger leiden. Sie leben in Erdhöhlen, die oft ganz vom Schnee zugedeckt werden. Dann verfallen die Taks in einen langen Schlaf, aus dem manche von ihnen nicht mehr erwachen. Die Takfrauen sind kleiner als die Männer. Ihre Hände münden nicht in scharfen Krallen. Ich nehme an,