Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Seehundhäuten Schnüre. Während die Männer behaart sind, trägt das weibliche Geschlecht Kleider aus Fellen. Auch die Kinder werden mit Fellen bekleidet.

      Wenn die Knaben acht Jahre alt werden, nimmt man sie in den Bund der Männer auf. In einer feierlichen Zeremonie werden sie entkleidet. Da sie bisher stets Felle trugen, sind sie an die Kälte nicht gewöhnt. Sie frieren und viele sterben. Doch das nimmt man unbarmherzig in Kauf. Auch wenn sie krank sind, dürfen sie nichts mehr anziehen. Gerade ihre Mütter, die sich stets um sie gesorgt und sie verwöhnt haben, wachen nun eifrig darüber, dass die Knaben nie wieder Kleider tragen. Nur wenn ein Junge die Prozedur aushält, bis ihm ein Pelz wächst, und er sich an die Kälte gewöhnt hat, kann er ein richtiger Mann werden. Kälte gehört zu einem Mann, so sagt man.

      Bei den Taks gibt es mehr Frauen als Männer. Die Männer haben deshalb mehrere Frauen. Die Frauen richten den Haushalt und sorgen für die Kinder, und die Männer jagen und kämpfen. Sie sind unbarmherzig im Kampf und rücksichtslos. Es wird nie Gnade gewährt und kein unterlegener Gegner geschont. Barmherzigkeit gilt als unanständig. Wenn bekannt wird, dass ein Tak im Kampf nicht rücksichtslos gewesen ist, so verlassen ihn sofort alle seine Frauen. Als besonders lobenswert gilt die Grausamkeit. Der hat das höchste Ansehen, der sein Opfer am längsten und am besten zu quälen versteht.

      Ein paar Mal sind Abgesandte der Könige ins Tak-Land gekommen und haben versucht, die Taks zu verändern. Sie haben ihnen von der Würde des Menschen, von Mitleid und Nächstenliebe erzählt. Aber die Taks haben überhaupt nicht verstanden, wovon sie sprachen. Sie hielten die Gesandten für verrückt oder für hinterhältig. Deshalb sind alle, die zu diesem Volk reisten, einen schlimmen und qualvollen Tod gestorben. Die Taks bringen nämlich jeden Fremden um.

      Man hat lange gerätselt, was dieses Volk so blutrünstig gemacht hat, aber keine überzeugenden Antworten gefunden. Ist es die Härte der Welt, in der sie leben, die auch sie hart macht? Waren sie irgendwann den Einflüssen des Bösen zu lange ausgesetzt, oder wurden sie gar von dem Bösen für seine Zwecke geschaffen? Es gab Stimmen im Rat, die forderten, die Taks auszulöschen. Aber am Ende aller Dispute kam man zu der Überzeugung, man könne Unrecht nicht mit Unrecht bekämpfen. Es gäbe kein Recht, gegen ein Volk mit Gewalt vorzugehen, nur weil es sich der Allgemeinheit nicht anpassen will oder kann. Vielleicht war dies eine falsche Entscheidung? Dies ist jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur noch die Frage, was die Taks hier wollen? Wer hat sie gerufen? Wie sind sie überhaupt aus dem hohen Norden ins Heimland gekommen? Welche Teufelei ist mit ihrem Auftauchen verbunden?"

      Ein langes verzweifeltes Schweigen trat ein.

      Endlich ergriff Horsa das Wort. „Wir werden so schnell keine Antworten finden. Erzählt uns deshalb, was ihr über den Rapulio wisst“.

      Bei diesen Worten holte er seinen Schatz aus der Tasche und hielt ihn nach oben ins Sternenlicht. Sofort begann die goldene Kugel zu funkeln und von innen heraus zu strahlen.

      „Steck' ihn lieber weg“, sagte der Alte. „Wenn es wirklich ein Rapulio ist, so weiß man nicht, wen er ruft. Es könnte sein, dass plötzlich jemand kommt, den wir gar nicht sehen wollen. Aber ich will euch erzählen, was ich von ihm weiß.

      Es war lange vor meiner Zeit, und ich bin wahrlich nicht mehr der Jüngste. Da lebten ein junger Mann und eine junge Frau am westlichen Fuß der großen Berge. Kennt ihr diese mächtigen Höhen? Bei euch heißen sie Thaurgebirge. Sie sind wunderbar und noch viel älter als diese Berge hier und dem Meister anvertraut, bei dem ich gelernt habe. Von ihm habe ich auch die Geschichte der Rapulios gehört.

      Die Frau hieß Illumina und der Mann Allandoran. Beide stammten aus edlen Geschlechtern. Allandoran war in den Süden gekommen, um die Welt und die Regierungskunst anderer Könige kennen zu lernen. Er würde einmal auf dem Thron sitzen und wollte dann ein guter Herrscher sein. Doch als er Illumina getroffen hatte, vergaß er seine Absichten völlig. Er verbrachte seine Tage nur noch mit ihr. Sie schwammen in Gebirgsseen, durchstreiften Wälder und kletterten in die lichten Höhen der Berge. Dabei ernährten sie sich von dem, was die Natur ihnen bot. Sie hatten sich selbst, und das genügte.

      Doch wie es bei Liebesgeschichten immer ist, ihr Glück währte nicht lange. Es ist nicht genau überliefert warum, aber Allandoran musste in seine Heimat zurück. Ich glaube, sein Vater war gestorben, und er sollte den Thron übernehmen. Illumina war noch nicht volljährig, und ihre Eltern verboten deshalb, dass sie mit ihm zog. So schickte sich das Mädchen unter Tränen in sein Schicksal. Die beiden vereinbarten aber, dass sie dem Geliebten, sobald es ginge, nachfolgen werde. Es ist die alte Geschichte, und wir alle wissen, dass daraus in der Regel nichts wird. Man verliert sich aus den Augen, verschiebt die weite Reise immer wieder, und schließlich taucht jemand anderes auf, und man verliebt sich aufs Neue. So sollte es bei diesen beiden Liebenden nicht werden. Sie waren fest entschlossen, sich nicht zu verlieren.

      Doch wie konnten sie sich finden in der weiten Welt? Illumina und Allandoran bauten vor. Bevor sie sich nämlich unter Küssen und mit nicht enden wollenden Versprechungen getrennt hatten, waren sie zum Schloss eines Zauberers gewandert. Dieser Zauberer hieß Rapuliopus und gehörte einst zum Weißen Rat. Er war ein großer Meister und lange Zeit sehr angesehen unter den Weisen und den Sterblichen. Aber dann hat er seine Kunst und die Gnade der Überirdischen für selbstsüchtige Zwecke missbraucht. Der Rat war deshalb über ihn zu Gericht gesessen und hatte ihn, trotz seines Könnens und seiner Verdienste, ausgestoßen. Obwohl er dies scheinbar gleichmütig hingenommen hatte, musste die Vertreibung aus dem Zentrum der Macht Rapuliopus zutiefst gekränkt und verbittert haben. Er wurde mit den Jahren immer hemmungsloser und zynischer. Zwar war er aus dem Rat verstoßen, aber sein Können, und das war groß, hatte er behalten. Er nutzte es nun, um seinen Reichtum zu mehren und alle, mit denen er zusammentraf, zu unterdrücken.

      Rapuliopus baute sich ein wunderschönes Schloss, in dem er residierte. Dorthin bestellte er sich nach Belieben Leute aus fern und nah, und wehe ihnen, wenn sie nicht kamen. Klopften sie aber zitternd an seine Tür, so wussten sie nicht, welches Schicksal sie erwartete. Der Zauberer konnte ziemlich gemein und grausam sein, und stets war sein oberstes Ziel, die Menschen zu demütigen und sich über sie lustig zu machen. So beschenkte er manche aus purer Laune heraus, wenn sie devot vor ihm auf dem Boden lagen, und andere schlug er mit Krankheit und Qualen. Man wusste nie, woran man bei ihm war, und was er als nächstes mit einem anstellen würde. Rapuliopus war hemmungslos in seiner Menschenverachtung. Alle Leute machten deshalb, wenn es nur irgend ging, einen Bogen um den Zauberer.

      Gerade zu Rapuliopus liefen Illumina und Allandoran in ihrer Not, obgleich sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie traten vor seinen Thron und fielen auf die Knie. Sie erzählten ihm ihr Leid und endeten mit einer Bitte.

      'Gibt uns etwas’, so flehten sie, 'das uns zusammenführt, wenn wir uns verlieren. Etwas, womit wir uns immer wieder finden.'

      Der Zauberer hörte sie ernst an. Er machte keine Witze, sprach keine bösen Worte und verwandelte sie auch nicht in ein Tier, wie er es mit seinen Besuchern ab und an zu tun pflegte. Stattdessen versprach er ihnen zu helfen und schickte sie nach Hause. Auf den Tag nach vier Wochen sollten sie wieder bei ihm vorsprechen. Hand in Hand machten sie sich auf den Heimweg, während der Mächtige in seinen Zauberkeller stieg und dort vier Wochen blieb. Kein Diener durfte ihn stören. Niemand weiß bis heute, was er dort tat und wovon er lebte. Dann kehrte er zurück mit zwei goldenen Kugeln.

      'Ich habe für euch einen großen Zauber vollbracht, und ich bin stolz auf mein Werk’, sagte er den beiden Liebenden. 'Jeder von euch bekommt von mir eine Kugel. Ich habe sie nach mir selbst benannt. Die Kugeln lassen den mit Sicherheit finden, den man sucht. Wenn ihr euch nach einer Person sehnt, so wird euch der Rapulio helfen, sie auch zu finden. Aber bedenkt, der Rapulio hilft euch nicht nur, euch gegenseitig zu finden, sondern jedes Geschöpf, das ihr in euerm Geist begehrt. Und nun geht und wendet mein Geschenk zu eurem Nutzen an.'

      Der Mann und die Frau bedeckten seine Hände und Füße mit Dankesküssen und zogen von dannen. Wohin sie kamen, priesen sie den Zauberer und verkündeten, wie gut er doch wäre. Dies veränderte die Meinung der Leute, und nur einige Alte wiegten skeptisch die Köpfe. Schließlich reiste Allandoran in seine Heimat. Der Abschied fiel ihm schwer, dennoch war ihm leicht ums Herz. Er wusste, dass er mit Hilfe des Rapulios seine