Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


Скачать книгу

stand bei diesen Worten auf und führte seine jungen Gäste quer über den Hof. Dort standen in einer Ecke große Köpfe, sitzende Figuren und ineinander verschlungene Paare. Aber die Zeit hatte an dem Stein ihre Spuren hinterlassen. Die Nasen hatte der Regen im Sommer und das Eis des Winters abgesprengt, die steinernen Oberflächen waren rau und voller Sprünge. Von der Kunst des Steinmetzen war kaum noch etwas zu erkennen.

      „Damit", Montini zuckte die Schultern, „kann ich wohl nicht mehr von den Fähigkeiten Erecs, so hieß der Mann nämlich, überzeugen. Die Jahre haben ihr Vernichtungswerk getan. Menschenkunst kann der Zeit eben nicht widerstehen“.

      Jeder setzte sich auf eine der Skulpturen, und der Alte erzählte weiter.

      „Erec, der Steinmetz, war jung und sah gut aus. Viele der Frauen in der Ebene dachten mit Sehnsucht an ihn, und so manch' eine trug wahrscheinlich auch ein Kind von ihm unter ihrem Herzen. Er war der Fröhlichste der Besatzung. Er pfiff bereits, wenn er sich morgens von seinem Lager erhob, und er machte noch einen Scherz, bevor er seine Augen zum Schlafen schloss. Doch seine Leidenschaft für den Stein wurde allen zum Verhängnis.

      Diese Burg war dem Feind zwar unbekannt und weit abgelegen, aber die Hammerschläge, mit denen er den Fels bearbeitete, hallten weit durch die Berge. Eines Tages war es dann so weit. Sie waren alle früh aufgestanden und hatten sich fröhlich an ihr Tagewerk gemacht. Das Frühstück war gut und reichlich gewesen und der Krieg weit weg. Worüber sollten sie sich Sorgen machen? Die Burg war schließlich so gut wie uneinnehmbar. Von unten war sie das auch, aber nicht von oben.

      Die Hammerschläge Erecs hatte nämlich ein Luftdrachen gehört, der auf Befehl Ormors Patrouille in den Bergen flog. Ich weiß nicht, ob ihr Luftdrachen kennt? Sie sind etwa sechzig Fuß lang und damit etwas kleiner als normale Drachen, jedoch wie diese stark und zäh. Man sagt, sie wären blutgierig und bösartig und hätten zehn Leben. Dieser Luftdrachen kreiste über dem Burghof, ohne dass er bemerkt wurde, bis er plötzlich herunterstieß“.

      „Aber wie konnte sie sich unbemerkt der Burg nähern?" Marga hatte atemlos gefragt.

      „Daran war der vierte Mann schuld. Ihm war an diesem Morgen die Wache übertragen. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er stand im Schatten des Luginslands und beobachtete aufmerksam das Tal, das zur Burg führt. Dies beschäftigte ihn so, dass er nicht nach oben blickte. So wurde er schuldig am Tod seiner Freunde.

      Der Luftdrachen stieß herunter und erschlug mit seiner Tatze sofort den Steinmetz. Gleichzeitig rollte sich sein langer Schwanz um Murowin, der sich gerade anschickte in die Wand zu steigen. Er wurde in die Luft gerissen und gegen den Felsen geschmettert. Inzwischen waren aber Eruman und der Wachhabende auf das Verhängnis aufmerksam geworden und hatten ihre Schwerter gezogen. Der Holzschnitzer rannte unter den Flügeln hindurch und stieß sein Schwert in den stinkenden Bauch des Ungeheuers. Das Eisen drang auch ein, aber es schien dem Tier nichts auszumachen. Das wurde nur noch wilder und wütender. Mit einem Fauchen warf es sich herum, und Murowin erhielt von seinem Flügel einen so heftigen Schlag, dass er quer über den Burghof flog. Er knallte gegen den Turm, wo der vierte Mann stand, dabei brach er sich den linken Arm. Doch er war zäh, stark und tapfer. Sofort erhob er sich wieder und umklammerte mit der Rechten sein Schwert, das er trotz allem nicht losgelassen hatte. Der mächtige Drachen sah es und stürzte sich mit einem Sprung auf ihn. Während Murowin von den Kiefern zermahlen und von den spitzen Zähnen zerfetzt wurde, kam die Chance für den vierten Mann. Dieser sprang von der Mauer herunter auf den Luftdrachen, konnte sich um seinen Hals gleich unterhalb des Kopfes klammern und stieß mit seinem Dolch dreimal zu. Dabei vernichtete er jedes seiner drei Augen. Nun war das Ungeheuer blind. Wütend und rasend vor Schmerz schleuderte es seinen Kopf hin und her, um den Feind abzuschütteln. Dies gelang ihm nicht. Stattdessen wurde der lange Dolch immer wieder in seine Kehle gestoßen. Weißes Blut spritzte aus den Wunden und besudelte den Burghof. Mit einem letzten Akt der Verzweiflung erhob sich der Drachen in die Lüfte und taumelte über die Zinnen der Mauer. Dort über dem Abgrund erhielt er den letzten, den entscheidenden Stoß und starb mit einem die Ohren betäubenden Zischen. Dann stürzte sie zusammen mit ihrem Peiniger in die Tiefe“,

      „Und was geschah mit dem Mann, der an seinem Hals hing?" fragte Horsa atemlos.

      „Er fiel weich auf den stinkenden Körper. Zwar wurde er durch den Aufprall bewusstlos und hatte sich auch einige Knochen gebrochen, aber sonst war ihm nicht geschehen. Nach einigen Stunden erwachte er, schleppte sich in die Burg zurück und fand dort seine toten Kameraden“.

      Montini holte tief Luft, und alle sahen, dass er um Fassung rang.

      Endlich fuhr er fort: „Der Mann versah von nun an den Wachdienst allein und hielt die Burg für den König bereit. Arveleg musste sich eines Tages tatsächlich auf den Weg in die Zuflucht machen. Das Kriegsglück hatte sich gegen ihn gewandt. Doch er kam nie an und hat die Burg nie gesehen. Unterwegs wurde er von Männern seiner Leibwache ermordet, die der finstere Ormor in seinen Bann gezogen hatte. Der vierte Wachmann versah noch lange nach Kriegsende seinen Dienst. Er hat sich seine Schuld an dem Verhängnis, das seinen Freunden das Leben gekostet hat, nie vergeben.

      „Und dieser eine wart Ihr?" fragte Marga mit warmer Stimme.

      „Ja, der war ich“, sagte Montini, und Tränen standen ihm in den Augen. „Ich hatte versagt, und die anderen mussten es büßen. Ich habe mir nie vergeben. Als ich dann vom Ende des Krieges erfuhr, habe ich zur Buße die Aufgabe übernommen, diese Berge zu hüten“.

      „Es hätte doch jedem anderen auch so ergehen können. Wer denkt schon an eine Gefahr aus der Luft!" Horsa verstand die Schuldgefühle nicht.

      „Aber mir ist es passiert und keinem anderen. Doch wir haben schon zu lange geredet“. Montini wechselte abrupt das Thema. „Ihr müsst jetzt gehen, dann kommt ihr rechtzeitig mit Anbruch der Dunkelheit auf die Straße nach Eichelhain. Merkt euch den Weg zu dieser Burg. Die Schlange konnte Ormor damals nicht von ihrer Existenz berichten, und ich bin sicher, dass der Feind auch heute noch nichts von ihr weiß“.

      Sie brachen auf, und Montini begleitete sie noch bis zum Ende des Tals, wo er ihnen den Weg wies. Dann nahmen sie mit schwerem Herzen Abschied von dem alten Mann, auf dem ein unheilvolles Schicksal lag. Werhan konnte inzwischen wieder so gut laufen, als ob ihm nichts zugestoßen wäre. So kamen sie rasch vorwärts und erreichten die Straße noch bei Tageslicht.

       Im versklavten Land

      Um nicht gesehen zu werden, verbargen sich Horsa, Marga und Werhan in dem dichten Gebüsch am Rand der Nordhausenstraße und warteten auf die hereinbrechende Nacht. In der Dunkelheit wollten sie quer über die Felder nach Süden.

      Dazu kam es nicht, denn kaum hatten sie es sich unweit vom Straßenrand bequem gemacht, hörten sie das Knarren von Karren, dazu Schreien und Ächzen. Rasch zogen sie sich noch tiefer in die Büsche zurück, nicht ohne jedoch durch die Zweige auf die Straße zu spähen. Dort sahen sie einen seltsamen Zug aus Westen langsam näher kommen. Ein Leiterwagen, wie man ihn braucht, um im Herbst das Heu einzufahren, rumpelte über die löchrige Straße. Der Wagen wurde von zwei Ochsen gezogen. Voraus liefen fremde Soldaten in Uniformen. Eritsoldaten führten die Tiere und eskortierten das Gefährt. Die Fremden hatten dunkle Gesichter und lange Schwerter hingen an ihren Seiten. Einer trug sogar einen Spieß in den Händen.

      „Das sind Südländer", flüsterte Horsa aufgeregt.

      Das Herz drohte ihnen aber still zu stehen, als sie sahen, was auf dem Heuwagen transportiert wurde. Dort saßen Erits, Frauen und Männer, aneinandergefesselt und hüpften bei jedem Schlagloch auf dem harten Holz auf und nieder. Plötzlich sprang der junge Graf auf und wäre sicher gesehen worden, wenn ihn seine Gefährten ihn nicht rasch wieder heruntergezogen hätten.

      „Unter den Gefangenen sind Mog und seine Frau“, rief er und konnte seine Stimme kaum dämpfen. „Mog und Ev und auch Pet. Wir müssen ihnen helfen!"

      „Gegen diese Übermacht können wir nichts ausrichten“, sagte Werhan beruhigend. „Besser wir folgen heimlich und warten, ob sich später eine Gelegenheit zur Befreiung bietet“.

      „Aber wir können Mog doch