Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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nicht will, der hat schon“, bemerkte Horsa trocken. „Ich gebe keinen Pfifferling für sein Leben. Wir können uns nicht um jeden Bauern kümmern. Zunächst müssen wir die Leichen wegschaffen, damit man unsere Tat nicht sofort bemerkt. Ein Vorsprung ist enorm wichtig“.

      Keiner widersprach ihm. So zogen sie mit vereinten Kräften die beiden Südländer zwischen die Hecken am Straßenrand. Dort bedeckten sie die Körper mit Laub und Zweigen und versteckten auch die Eritsoldaten. Selbst die Blutspuren im Straßenstaub wurden beseitigt. Dann gab Horsa den Befehl zum Aufbruch, doch niemand kümmerte sich um ihn. Ev, Mog, Werhan und auch Pet hatten sich um Marga versammelt, die am Straßenrand saß, den Kopf auf den Knien, und weinte. Werhan streichelte ihr begütigend über das Haar.

      „Wenn du ihn nicht getötet hättest“, flüsterte er, „so hätte er uns umgebracht. Du hattest keine andere Wahl. Mach' dir nicht so viele Gedanken. Der Kampf hat erst begonnen, es wird noch mehr Tote geben“.

      Marga nickte und ihre Schultern bebten. Dann erhob sie sich schwankend, gestützt von Werhan, und die ganze Gruppe lief eilends auf einem Feldweg nach Süden. Horsa setzte sich die Spitze und Pet gesellte sich zu ihm.

      „Die Michels sind tatsächlich nur zufällig in die Geschichte hineingeraten“, erzählte er dem Grafen. „Man hatte Gutruh im Morgengrauen umstellt und uns gefesselt. Dann trieben sie uns unter großem Geschrei und Fluchen auf der Bergstraße nach Norden. Aber wir kamen nur langsam voran, denn wegen der Fesseln konnten wir nicht schnell laufen. Die Menschen aus dem Süden wurden immer ungeduldiger“.

      Der Graf blickte grimmig in die Ferne, als Pet fortfuhr: „Schließlich kamen wir am Hof der Michels vorbei. Dort stand der Leiterwagen, und auch Ochsen waren vorgespannt. Der Bauer wollte gerade aufs Feld. Auf einen Befehl der fremden Soldaten hin stürmten die Erits auf den Hof und beschlagnahmten das Gespann. Doch da hatten sie die Rechnung ohne den Michel gemacht. Er setzte sich zur Wehr. Erklärte, er könne auf das Gespann nicht verzichten, und man solle ihn gefälligst in Ruhe seiner Arbeit nachgehen lassen. Er kümmere sich um niemanden und wolle auch nicht, dass sich jemand um ihn kümmere. Als er nicht nachgab, schlugen ihn die Soldaten zusammen und warfen ihn in den Dreck. Inzwischen waren auch die Leute von Michel erschienen und protestierten lauthals. Das hätten sie nicht tun sollen, denn nun wurden auch sie von den Soldaten überwältigt, gefesselt und zusammen mit uns auf den Wagen geworfen.

      Obwohl der Treck nun schneller vorwärtskam, waren wir doch noch zwei Tage unterwegs. In dieser Zeit bekamen wir nichts zu essen und mussten auch in der Nacht gefesselt auf dem Wagen liegen. Nur einmal am Tag durften wir unsere Notdurft verrichten. Es war fürchterlich! Ich hatte das Gefühl, die Fahrt würde nie mehr aufhören. Durch das Gerüttel auf dem schlechten Weg bekamen wir überall blaue Flecken. Und dann der ständige Druck auf der Blase! Irgendwann schwanden mir die Sinne. Als ich wieder erwachte, wart ihr da. Der Bauer Michel aber, so meine ich, wird gefahrlos zurückkehren können. Auf ihn hat es bestimmt niemand abgesehen“.

      Sie waren an einem kleinen Gehöft angekommen. Es schien verlassen zu sein. Das Dach war bis auf den Boden gezogen. Es sah aus, als ducke sich das Haus, um in der Gefahr unbemerkt zu bleiben. Im Stall brüllten Tiere, und in einem Pferch hinter dem Haus blökten Schafe. Es war klar, dass das Vieh Hunger hatte und versorgt werden wollte. Wortlos ging Horsa zum Gatter und ließ die Schafe frei. Dann öffnete er die Stalltüren und trieb zwei Kühe hinaus. Die Euter waren groß und prall gefüllt. Man sah, dass die Tiere Schmerzen hatten. Wenn sie nicht bald gemolken wurden, würden sich die Euter entzünden. Marga suchte nach einem Schemel, um den Tieren diesen Dienst zu erweisen. Doch der junge Markgraf herrschte sie an, dazu wäre jetzt keine Zeit. Marga widersprach nicht, aber ihre Lippen wurden schmal.

      Es begann zu regnen, und der Boden weichte auf. Das Fortkommen wurde schwieriger, denn die Füße sanken bei jedem Schritt in die weiche Erde. Bald waren sie bis auf die Haut durchnässt und froren. Ev, die schon die strapaziöse Entführung hinter sich und seit Tagen nichts gegessen hatte, begann zu taumeln. Als sie an einer einsamen Feldscheune vorbeikamen, rief Werhan, der als letzter ging: „Halt! Hier machen wir Rast!"

      Horsa achtete nicht auf ihn und lief weiter. Als er sich aber nach einer Weile umsah, bemerkte er, dass alle anderen stehen geblieben waren und sich anschickten, ins Trockene zu schlüpfen. Zornig kehrte er zurück, sagte aber kein Wort. Drinnen war es dämmrig und windgeschützt. Aufatmend sanken alle ins weiche Heu. Die beiden Menschen packten ihre Vorräte aus und gaben Mog und seiner Familie zu essen. Bald wandelte sich die Stimmung, alle Gefahren schienen weit weg, man entspannte die Glieder.

      Plötzlich begann Ev leise zu weinen und flüstert: „Heimatlos! Was sollen wir denn jetzt tun? Vertrieben von Herd und Bett! Die ganze schöne Bettwäsche! Wer wird jetzt das Haus sauber halten?"

      „Beruhige dich, Mutter“, sagte Pet. „Wir werden Gutruh eines Tages wiederbekommen, und alles wird sein wie früher."

      Alle redeten begütigend auf Ev ein, aber die ließ sich nicht beruhigen. Nur die Stimmen wurden leiser, und obwohl Horsa immer wieder zum Aufbruch mahnte, dösten alle mit der Zeit ein. Die Kräfte waren verbraucht, die Körper ausgelaugt und forderten ihren Tribut.

      Als sie wieder erwachten, war es tiefe Nacht. Der Mond hatte sich hinter dichten Wolken versteckt, und vor der Scheune konnte man die Hand nicht vor den Augen sehen. Dies waren gute Bedingungen, unbemerkt das Land zu durchqueren. Werhan hatte in einer leeren Ecke ein kleines Feuer entzündet, an dem sich alle wärmten. In seinem Licht entdeckte Horsa eine Windlaterne mit einem ansehnlichen Kerzenstummel.

      „Damit könnten wir den Weg finden“, sagte er. „Kommt, wir brechen auf. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren“.

      „Das Licht sieht man in dieser Dunkelheit meilenweit“, entgegnete Werhan. „Es ist gefährlich, mit Licht zu marschieren“.

      „Wir müssen das Risiko eingehen“, befahl der Graf knapp.

      Keiner widersprach, und bald waren sie wieder in Regen und Sturm unterwegs. Das Wasser peitschte ihnen ins Gesicht, und trotz der Laterne war der Weg nur schwer zu erkennen. Keiner redete. Nur ihr Keuchen war im Heulen des Sturms zu hören. Horsa trug die Laterne. Pet stützte seine taumelnde Mutter, die am Ende ihrer Kraft war. Marga lief neben Werhan und hatte die Hand ihres Bruders fest umfasst. Irgendwann enthüllte das Licht eine Mauer. Sie fanden ein Gartentor, öffneten es und schlichen zum Haus. Die Haustür war offen und schlug im Wind hin und her. Vorsichtig traten sie ein und durchsuchten alle Räume. Sie waren leer. Auch hier schrie das Vieh im Stall. Sie banden es los und öffneten die Stalltür, damit es, wenn das Wetter besser wurde, Futter suchen konnte. Gegen den Einspruch von Horsa hatte Werhan in der Küche im Herd Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt. Trockenes Reisig prasselte und der Rauch zog durch die große, schwarze Esse ab. Ev hatte Teeblätter gefunden und kochte ein starkes Getränk. Auch Pet hatte sich auf die Suche begeben und brachte nun eine Flasche Korn. Jeder schüttete sich einen tüchtigen Schluck in den heißen Tee.

      „Wo sind sie nur alle Bewohner?" fragte Werhan.

      „Ich weiß es nicht“, sagte Horsa. „Aber ich vermute nichts Gutes“.

      „Sie sind versklavt“, sagte Marga ruhig. „Das Heimland ist völlig unter der Herrschaft des Bösen. Ich habe selbst gesehen, wie man sie zusammengetrieben hat. Es gibt keine Rettung. Gegen diesen Feind kann man nicht kämpfen. Da bleibt nur die Flucht“.

      „Ich fliehe nicht! Ich werde mein Erbe nicht aufgeben! Wir werden siegen!"

      Horsa hatte pathetisch und trotzig gesprochen, aber alle waren von der Kraft, die von ihm ausging, beeindruckt.

      „Wer will, kann gehen“, fuhr er fort, „und Rettung außerhalb des Heimlandes suchen. Ich werde nach Nordhausen gehen. Mog, ich nehme an, du kommst mit mir“.

      Dies war ein Befehl, und der Alte flüsterte: „Ja, Herr“.

      „Obwohl es besser wäre zu verschwinden, kommen auch wir mit“, mischte sich Werhan ein. „Marga, bist du einverstanden? Aramar hat uns schließlich einen Auftrag erteilt“.

      Marga nickte.

      „Dann ist ja alles klar“, meinte der Markgraf