Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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viel zum Reden kommen, denn bevor du deinen Mund aufgemacht hast, bist du auch schon tot. Und wenn du Pech hast, fressen sie dich anschließend, weil sie in den vergangenen Tagen nichts Besseres gefunden haben."

      „Das ist schon wieder so ein Vorurteil gegenüber den Orokòr, das ihnen Unrecht tut und jede Aussöhnung verhindert. Ich gehe waffenlos zu ihnen, und meine Hilflosigkeit wird mein Schutz sein."

      „Waren denn die Frauen und Kinder, die sie bisher umgebracht haben, nicht hilflos?"

      „Ihr solltet nicht alle Gerüchte glauben, die man über die Orokòr erzählt. Es mag schon sein, dass Unschuldige von ihnen getötet wurden, aber wenn dies tatsächlich vorgekommen ist, so geschah dies im Eifer des Krieges. Auch die Menschen haben viele Gräueltaten vollbracht und davon redet niemand. Ich bin sogar sicher, dass selbst die Achajer im Krieg keine Waisenknaben gewesen sind. Orokòr töten, da bin ich überzeugt, nicht ohne Notwendigkeit."

       In diesem Augenblick wurde der Mann in der Kutte durch eine schallende Ohrfeige unterbrochen. Akandra war unbemerkt vor ihn hingetreten und hatte mit aller Kraft zugeschlagen. Da stand das kleine Erit-Mädchen inmitten der Männer mit blitzenden Augen und rief: „Wenn ihn keiner von euch zum Schweigen bringt, so muss ich es eben tun."

      Sprach’s und ging zu ihrem Begleiter zurück. Betroffenes Schweigen breitete sich am Lagerfeuer aus. Marc saß mit rotem Kopf unter dem Baum und schämte sich für die Freundin.

      „Du hast einen Mann beleidigt. Er ist vielleicht ein wenig töricht und weltfremd, doch von ehrlicher Gesinnung und großer Friedensliebe."

      „Er hat meine Mutter beleidigt“, war die knappe Antwort.

      Am Feuer kam, nachdem sich die Männer von ihrem Erstaunen erholt hatten, wieder ein Gespräch in Gang.

      „Die Orokòr sind es ja nicht allein“, sagte der Große. „Überall gibt es heutzutage Banden und Wegelagerer. Die schlagen dich erst tot und fragen dann, ob es bei dir etwas zu holen gibt. Am schlimmsten aber sind die vagabundierenden Soldaten, und von denen sind am gemeinsten die aus Luran. Sie haben nur eines im Sinn, und das ist Beutemachen. Wenn du ihnen in die Hände fällst, so foltern sie dich erst einmal, denn du könntest irgendwo vielleicht etwas Wertvolles verborgen haben."

      „Soll ich euch erzählen, welche Methoden sie dabei anwenden?" Der dürre Koch war plötzlich ganz eifrig geworden. „Es schaudert einen, wenn man es hört. Passt auf! Die gebräuchlichste Methode ist das Ohren- und Naseabschneiden, wenn du dann nicht redest, schlitzen sie dir den Bauch auf. Besonders wirksam aber ist das Pfählen. Dabei wirst du auf den Bauch gelegt und dir von hinten in den Arsch..."

      „Wir wollen das gar nicht hören“, unterbrach ihn der eine der Krieger. „Es gibt ehemalige Soldaten, die Ehrvergessen so etwas tun mögen. Aber sie haben dann kein Recht mehr, das Ehrenkleid zu tragen. Sie sind eine Schande, und man muss sie ausmerzen. Aber ich lasse nicht zu, dass man hier von ein paar Ausnahmen auf alle Krieger schließt."

      „Das Land befindet sich in Auflösung“, schaltete sich der Große beschwichtigend ein. „Ganz gleich, wer einen umbringt will, man kann nicht mehr allein über die Straßen reiten, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Aber wohin soll man sich noch wenden? Die Flüchtlinge sind alle nach Westen geströmt, so als läge dort an der Küste die Rettung. Nun sitzen sie im Heimland in der Falle. Im Süden, so hört man, tobt Krieg, und im Norden ist Nowogoro belagert und wird demnächst fallen. Im Osten soll es noch nicht so schlimm sein. Dort herrschen noch einigermaßen friedliche Zustände. Aber man weiß natürlich nicht wie lange noch. Und wie solle man auch dahin gelangen? Darken durchqueren zu wollen, käme einem Selbstmord gleich."

      „Man spricht von einem Weg über das Graue Gebirge im Norden. Von dort führt eine Route durch Luran nach Osten." Der junge Mann mit der Narrenkappe gab diesen Tipp, den Marc im Kopf mit seinen Karten verglich und sich genau merkte.

      Mit der Zeit verstummten die Gespräche, und die Männer legten sich zum Schlafen nieder. Auch Marc wollte sich in seine Decke rollen, als er an der Schulter geschüttelt wurde. Einer der Soldaten, der im Gegensatz zu seinem Kameraden am Feuer nur wenig gesagt hatte, kniete neben ihm. Sein Gesicht war unrasiert, und er stank nach Knoblauch.

      „Hör mal, Kleiner“, keuchte er Marc ins Ohr, „ich möchte mit dir ein Geschäft machen. Du überlässt mir deine Kleine für eine halbe Stunde, und ich gebe dir dafür das da."

      Bei diesen Worten zeigte er dem Erit einen dunklen Beutel. Marc war sprachlos und antwortete nicht.

      Deshalb fuhr der Krieger fort: „Nun zier' dich nicht so! Einmal ist Keinmal. Ich nutze dir deine Liebste schon nicht ab. Ich habe noch nie mit einer Erit und würd' es gerne einmal ausprobieren. Die Erit-Frauen sollen große Klasse sein, sagt man. Stimmt es eigentlich, dass sie es quer haben? Du nimmst jetzt den Beutel, und ich geh' mit der Kleinen in die Büsche, und bevor du dich versiehst, sind wir wieder da. Und ich verspreche dir, sie heil und ganz wieder zu bringen. Also, bist du einverstanden?"

      Marc hatte sich inzwischen gefangen und sagte laut: "Hau ab, du Schwein!"

      Der Soldat verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

      „Das sollst du bereuen“, knurrte er. „So kann man mit mir nicht umspringen. Ich habe dich höflich gefragt. Du kannst von Glück reden, dass hier eine Menge Leute herumliegen. Sonst hätte ich mir nämlich einfach genommen, was ich will. Aber das letzte Wort zwischen uns ist noch nicht gesprochen."

      Wütend kroch er zurück zu seinem Kameraden. Marc setze sich auf, und sah, dass der Große, der hier den Ton angab, aufmerksam zu ihm herüberschaute. Dann kuschelte er sich in seine Armbeuge und schloss beruhigt die Augen. Es waren schließlich Wachen aufgestellt, und sie waren hier so sicher, wie man in diesen Zeiten nur sicher sein konnte. Kurz bevor er in den Schlaf absank, fiel dem jungen Erit noch ein, dass der Glatzkopf als einziger den ganzen Abend über kein Wort gesagt hatte.

      In der Nacht wachte Marc auf. Irgendetwas beunruhigte ihn. Leise streifte er seine Decke ab und erhob sich. Alles war ruhig. Um ihn herum lagen die Schläfer, von denen einige laut schnarchten. Schon wollte er sich beruhigt wieder niederlassen, als er einen dunklen Schatten bei ihren Satteltaschen sah. Er erhob sich vollends und schlich zum Gepäck. Dort kauerte eine Gestalt und untersuchte sorgsam die Schätze der Erits. Marc fasste den Dieb am Hals und drückte zu. Der andere setzte sich zur Wehr, und so rangen sie eine Weile stumm in der Dunkelheit.

      Endlich keuchte Marcs Gegner: „Wenn du nicht sofort nachgibst, rufe ich laut. Dann kommen alle, und ich verrate ihnen, was in diesen Satteltaschen ist. Jeder wird sich dann von euren Schätzen etwas nehmen, und ihr behaltet nichts. Ich aber mache dir ein faires Angebot. Du gibst mir die Hälfte und behältst den Rest."

      Verblüfft gab der junge Erit nach. Er ließ den Hals los, den sich sein Gegner rieb. Es war der dürre Koch.

      „Na also", krächzte der, „warum nicht gleich so?"

      „Was hast du an unserem Gepäck zu suchen“, fragte Marc erstaunt.

      „Das gehört ab jetzt nicht mehr euch, sondern zur Hälfte mir. Und wenn du nicht tust, was ich dir sage, so wird sich mein Anteil noch erhöhen. So mein Kleiner", fügte er hinzu, als er Marc sprachlos vor sich kauern sah, „jetzt legst du dich hin und bist brav. Du kannst beruhigt sein, ich werde auf unsere gemeinsamen Schätze die ganze Nacht hindurch aufpassen."

      Noch immer sprachlos und verwirrt, kroch der Erit zu seiner Decke zurück. Zwar wachte und fror er bis zum Morgengrauen, aber er wusste nicht, was er hätte unternehmen können.

      Bei Tagesanbruch erhoben sich alle. Raureif hatte Bäume, Gras und Moos überzogen. Jeder aß von seinem Proviant, gesprochen wurde wenig. Von dem Feuer war nur noch kalte Asche übrig. Sie zitterten in der Morgenkälte. Bald kam der hastige Abschied. Er war so kühl wie die Luft. Die Gemeinschaft, die sich für eine Nacht zusammengefunden hatte, brach auseinander, ohne dass einer der Beteiligten ihr nachgetrauert hätte. Die beiden Krieger schwangen sich ohne Gruß auf ihre Pferde und gaben ihnen die Sporen. Nur der nächtliche Besucher warf Marc noch einen bösen Blick zu. Der junge Mann mit der Narrenkappe winkte freundlich und verschwand in Richtung Straße. Der Weißhaarige