Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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achtete nicht weiter auf sie. Im Südosten blitzte ein Fluss. Akandra nahm an, dass es der Goldfluss war, und ganz im Westen sah sie den Wolfsweg. Bis auf ein paar Tiere war keine lebende Seele weit und breit zu entdecken. Ihr zu Füßen aber sah sie ratlos ihren Freund Marc, der von einem Bein auf das andere trat. Nachdenklich und geistesabwesend stand Akandra auf und trat zu ihrem Gefährten. Als sie den Thron verließ, verschwand die Weite, die Wände und Fenster kehrten zurück. Alles war wie vorher.

      „Was hast du auf diesem goldenen Ding erlebt?" fragte ihr Freund. „Du hast so seltsam ausgesehen, so als blicktest du in weite Ferne."

      „Das habe ich auch getan, aber ich will darüber nicht sprechen."

      „Soll ich es auch ausprobieren?"

      „Nein, das möchte ich nicht!"

      „Ist es denn gefährlich?"

      „Nein."

      „Warum soll ich mich dann nicht auch auf den Thron setzen?"

      Ärgerlich brach Akandra den Disput ab und sagte: „Weil es dir nicht zukommt."

      Dann wandte sie sich ab und schritt erhobenen Hauptes durch den Saal zurück zum Eingang.

      In der Vorhalle rasteten die beiden ein wenig. Doch dieses Schloss hatte sie so sehr erregt, dass sie ihre Müdigkeit kaum noch spürten. So berieten sie aufgeregt, was denn nun zu tun sei. Es war klar, dass sie, so lange es noch Tag war, den schützenden Palast nicht verlassen durften. Marc wollte deshalb bis zum Abend warten und dann, so schnell es ging, nach Osten laufen. Ihm war dieser Prunkbau unheimlich. Akandra hingegen war neugierig. Sie wollte zuerst das Gebäude erforschen. Nachdem sie vom Thron aus die Verfolger hatte umkehren sehen, fühlte sie sich sicher. So stritten sie eine Weile, und dann setzte sich das Mädchen durch.

      „Wir müssen diesen Palast erkunden“, sagte sie, und ihr Ton duldete keine Widerrede.

      „Nun denn, Verehrteste, ihr Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Marc aufgeräumt, reichte ihr galant den Arm und führte sie zu einer der Freitreppen, die links und rechts des Thronsaals nach oben führten. Sie waren aus schwarzem Marmor auf der linken Seite und auf der rechten aus weißem Marmor. Die Treppen führten zu einem breiten Gang, von dem auf beiden Seiten Zimmer abzweigten. Der Gang wiederum mündete in eine neue Treppe. Am Fuß dieser Treppe zweigten nach links und rechts Gänge ab, an deren Ende wieder Treppen waren.

      Sie stiegen treppauf und treppab und öffneten viele Türen. Sie liefen durch Zimmer, Hallen und Säle. Akandra wollte jeden Winkel des Palastes besichtigen. Aber bald wussten sie nicht mehr, wo sie waren, ob vor ihnen noch unbekannte Räume lagen, oder ob sie den jeweiligen Teil des Schlosses schon einmal durchmessen hatten. Etwas Orientierung boten Farben. Wie sie herausfanden, bestanden die Böden im südlichen Teil aus schwarzen und im nördlichen Teil aus weißem Marmor. Allerdings waren sie oftmals so verschwenderisch mit Teppichen belegt, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte. Teppiche hingen auch an den Wänden und schmückten die Zimmer. Manchmal weiteten sich auch die Gänge zu kleinen Hallen, dann plätscherte in der Regel in der Mitte ein Brunnen. Die Brunnen wiederum waren mit Figuren gekrönt: Figuren aus Stein, aus Bronze oder gar aus Gold. Oft waren es Szenen, die Marc die Schamröte auf die Wangen trieben. Männliche Gestalten trieben Spiele mit Frauen jeden Alters. In kunstvollen Arrangements kopulierten Paare in allen erdenklichen Stellungen. Seine Begleiterin hingegen betrachtete die erotische Schaustellung mit Interesse und Schmunzeln.

      Aber nicht nur auf den Brunnen fanden sich derartige Darstellungen. Überall waren nackte Gestalten gegenwärtig. Als Wandmosaik und als Einlegearbeit in Möbeln, aus Elfenbein geschnitzt und in Marmor geschlagen, auf großen Bildern gemalt und in Metall gegossen sahen die beiden Besucher Frauen keusch ihre Blößen verdeckend oder mit weit gespreizten Beinen. Sie begegneten Männern mit großen Gliedern, die wie Fabelwesen Bockshörner trugen und deren Fuß nicht in Zehen, sondern in einem Huf endete. Mit der Zeit legte Marc seine Verlegenheit ab und konnte nun auch die hohe Kunstfertigkeit der Schöpfer dieser Gebilde würdigen. Mit einem scheuen Seitenblick auf seine Begleiterin begann er sogar genauer zu studieren, was die Paare aus Stein und Metall ihm plastisch vorführten.

      Aber nicht nur die erotischen Figuren waren kunstreich, sondern alles in diesem Palast war mit erlesenem Geschmack ausgesucht. Da waren die wundervollen Teppiche, die goldenen Waschbecken, die seidenen Kissen, die gestickten Decken, das Geschirr aus hauchdünnem Porzellan, die gehämmerten Schalen aus Gold und Silber mit kunstvollen Gravuren. Noch nie hatten die Erits eine solche Pracht gesehen.

      Irgendwann blieb das Mädchen aus Waldmar stehen und sagte überwältigt: „Hier möchte ich bleiben, hier gefällt es mir. Dieser Palast erinnert mich an das Haus meiner Eltern."

      „An das Haus deiner Eltern?" fragte Marc entgeistert. „Wann haben deine Eltern in einem derartigen Palast gewohnt?"

      „Immerhin sind wir die Grafen von Waldmar, und unser Schloss hatte auch viele Räume, wenn gleich nicht so viele wie hier. Und einen gepflegten Lebensstil haben wir auch geführt."

      Der junge Erit erinnerte sich an die Besuche bei seinem Patenonkel. Er stellte sich dessen Schloss vor mit den kleinen Kammern, seiner einfachen, derben Einrichtung und verglich dies alles mit dem Prunk und dem verschwenderischen Luxus, durch den sie hier schritten. Er wusste nicht, ob er lachen oder an dem Verstand seiner Begleiterin zweifeln sollte. Doch sie fuhr fort: „So müsste man wohnen! Wenn wir nicht eine so dringliche Aufgabe hätten, würde ich hierbleiben und mich einrichten."

      „Was willst du in diesem Palast? Hier kann man nur leben, wenn man viele Diener hat. Wenn ich aber Diener brauche, dann möchte ich keinen Palast."

      „Du bist töricht! Das kleinliche Denken deiner Herkunft wirst du wohl nie ablegen können! Nur Leute mit so einem Lebensstil leben wirklich. Es ist ungerecht in der Welt, dass die einen alles haben und die anderen nichts."

      „Von diesem Reichtum hier hat doch niemand etwas. Die, die hier waren, sind verschwunden. Wer weiß, welch' ein schlimmes Schicksal sie ereilt hat?"

      „Aber sie hatten dies alles einmal, konnten es genießen - und schon das ist ungerecht!"

      Von all dem Laufen und Schauen hatten sie Hunger und Durst bekommen. Sie waren inzwischen durch verschiedene Speisesäle gekommen mit langen Tischen über denen Kristalllüster hingen. In der Nähe war jedes Mal eine Küche gewesen, die sie aber nicht näher untersucht hatten. Nun hatten sie wieder eine gefunden und traten ein. Auf erloschenen Herden standen Töpfe mit Speisen, die wohl zuerst verschimmelt und dann eingetrocknet waren. Unter kalten Essen hingen Kessel, in denen einst eine wohlschmeckende Suppe geblubbert hatte. Sie untersuchten alle Kästen und Schränke, aber die Jahre hatten nichts Essbares übriggelassen.

      „Wir werden wohl auf die Vorräte in unseren Rucksäcken zurückgreifen müssen“, seufzte Marc.

      Dann deutete er auf eine Öffnung in der Wand, aus der klares Wasser sprudelte und in einem Loch im Boden verschwand.

      „Wenigstens zu Trinken haben wir. Komm, lass' es uns auf einem der Stühle bequem machen."

      „Bist du verrückt“, rief Akandra erbost. „Ich bin die Tochter eines Grafen und soll hier in der Küche essen? Auch wenn unser Mahl kärglich ist, so werden wir doch würdig speisen."

      Sie führte ihren Begleiter in das nahe gelegene Esszimmer. Dort deckte sie die Tafel mit Damast, feinem Porzellan und Kristallgläsern. Dann arrangierte sie ihre Vorräte auf silbernen Platten, zündete schließlich noch fünf Kerzen an und lud Marc mit einem bezaubernden Lächeln zum Platz nehmen ein. So tafelten sie lange und ausgiebig, lachten und hatten viel Spaß miteinander. Irgendwann neigte sich der Tag und Schatten zogen in die hohen Räume.

      „Es wird dunkel“, sagte Marc. „Wir müssen aufbrechen, wenn wir in dieser Nacht die Ebene nach Osten überqueren wollen."

      „Was fällt dir ein?" war die Antwort. „Wir haben doch erst einen kleinen Teil dieser Wunder hier gesehen. Wir bleiben und übernachten. Ich freue mich schon jetzt auf ein vernünftiges Bett. Wir haben schon lange nicht mehr geschlafen und müssen darauf achten, dass wir bei Kräften