Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Ich jedenfalls vergrabe einen Teil meines Goldes."

      „Und wie willst du es wiederfinden?"

      „Ich werde es nicht wieder suchen."

      „Soll das heißen, du wirfst den Reichtum einfach weg?"

      „Ja."

      „So tue, was du nicht lassen kannst! Ich behalte, was ich habe und werde dir später nichts abgeben. Wir tragen hier mehr Schätze mit uns herum, als es in Waldmar jemals gegeben hat. Mit dem Geld könnte man sogar das ganze Heimland kaufen."

      „Das Heimland kaufen? Von wem, bitte?"

      „Du bist ein widerlicher Haarspalter!"

      „Das mag schon sein, dennoch wird mir der Schatz zu schwer. Wir hätten von den Älteren nicht so viel Geld mitnehmen sollen, dann wären wir jetzt nicht in dieser Lage."

      „Nicht wegen des Geldes ersticken wir in Problemen, sondern weil du nicht damit umgehen kannst. Hättest du dem Idioten mit dem Elixier kein Goldstück geschenkt, wäre dieser verbrecherische Koch auch nicht auf unser Gepäck aufmerksam geworden. Wo ist eigentlich das Elixier?"

      Marc antwortete nicht. Er hatte sich abgewandt und suchte die Bäume nach einem hohlen Stamm ab. Endlich wurde er fündig, schnitt aus dem Leder der Satteltaschen kleine Beutel, die er mit Münzen füllte und an seinem Gürtel festband. Die Satteltaschen mit dem restlichen Geld versteckte er. Nachdem alles verstaut war, reckte er sich und meinte: „Nun kann es losgehen! Ich bin von einer größeren Last befreit, als das Geld schwer war."

      Ohne sich weiter um Akandra zu kümmern, die hinter ihm keuchte, schritt er kräftig aus. Bald war der Wald nur noch ein dunkler Wall hinter ihnen und rings um sie freies Land. Akandra blieb immer weiter zurück. Marc tat zwar, als kümmere er sich nicht darum, aber er verlangsamte seine Schritte, und bald musste er auf sie warten. Doch das Mädchen gab nicht auf. Mit eisernem Willen zwang sie sich vorwärts, obwohl die Last sie zu Boden drückte. Gegen Mitternacht wurde der Boden weicher. Sie schritten über Gras und erreichten schließlich einen kleinen Bach, der auf keiner der Karten eingezeichnet war. Endlich konnten sie den quälenden Durst stillen und auch die Wasserflaschen füllen. Sie aßen von den mitgebrachten Vorräten, und Kräfte kehrten in die erschöpften Körper zurück.

      „Ich habe es mir überlegt, ich lasse auch einen Teil von meinem Geld zurück“, sagte Akandra zaghaft.

      Marc antwortete nicht.

      „Willst du mir nicht helfen?"

      Der Junge schwieg noch immer.

      „Du hast dir so praktische Beutel gemacht. Ich will mich auch so ausrüsten."

      Marc blieb noch immer stumm. Als aber die Freundin zum dritten Mal ansetzte, lachte er, und dann lachten sie beide. Bald hatte auch Akandra Geldbeutel, und ihre Satteltaschen waren unter Schilf und Weiden vergraben.

      Von großem Ballast befreit marschierten sie weiter durch die Nacht.

      „Was machen wir, wenn es hell wird? Die Vögel werden die Suche sicher fortsetzen."

      „Ich weiß es nicht."

      Es dämmerte schon, und sie waren zum Umfallen müde, als sie vor sich einen großen, dunklen Schatten sahen. Vorsichtig schlichen sie näher und standen vor einer langen Mauer. Über ihr sahen sie Dächer und Türme mit Erkern.

      „Sollen wir die Anlage umgehen oder eindringen“, wisperte Akandra. In ihr war Jagdfieber erwacht.

      „Wir gehen hinein!"

      „Ist das nicht zu gefährlich?"

      „Wir können uns nicht ungesehen vorbei stehlen. Deshalb bin ich für Vorwärtsverteidigung. Wir gehen hinein und sehen, was uns erwartet."

      Die Mauer war völlig glatt und dunkelrot gestrichen. Spitze Metallstäbe zierten die Krone. Wen sollten sie vom Eindringen abhalten? Wer wollte sich hier schützen? Langsam umkreisten die Erits das Anwesen. Sie drückten sich ganz fest in den Schatten der Mauer. Nur ein geübtes Auge hätte sie im Zwielicht der anbrechenden Dämmerung erkennen können. Doch die Zeit drängte. Schon hörten sie das Gurren von Tauben.

      Sie betraten einen Weg, der schon lange nicht mehr begangen worden war. Er mündete an einem großen Tor. Die Flügel hingen schief in den Angeln und ließen sich nicht bewegen. Das Mädchen und der Junge schlüpften durch die Öffnung und befanden sich in einem weiten Park. Seltsame Pflanzen wuchsen da. Wasser plätscherte aus mehreren Brunnen, die unter den Bäumen verteilt waren. Kleine Bäche, über die sich weiße Brücken spannten, überzogen den Park wie ein Netz und bewässerten die Pflanzen. Sie gingen durch eine Allee und blieben an ihrem Ende atemlos stehen.

      Vor ihnen erhob sich ein Gebäude, wie sie es sich in ihren kühnsten Phantasien nicht hätten vorstellen können. Es war ein Palast, und er war so groß, dass sie seine Ausmaße nicht einmal überblicken konnten. Seine Mauern waren mit bunten Mosaik-Steinen verkleidet. Er blinkte und strahlte in allen Farben des Regenbogens. Das Dach war flach, aber mit Kuppeln und Türmchen verziert. Die Fenster hatte man in verschiedenen Formen gestaltet. Sie waren rund, oval oder in der Form eines Blattes.

      Da die Zeit drängte und immer mehr Vögel über den Himmel zogen, rissen sich die Erits von dem wundersamen Anblick los und näherten sich zögernd dem großen Eingang. Es war ein Tor aus rotem Holz mit goldenen Griffen, und es stand halb offen. Über weiße Stufen aus Marmor erreichten sie eine kleine Halle, in deren Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Von da führte ein Torbogen, den links und rechts Marmorsäulen flankierten, in einen großen Saal.

      Wieder blieben Akandra und Marc staunend stehen. Alle Wunder dieser Erde schienen in diesem Palast versammelt. Der Saal hatte gewaltige Ausmaße und war ganz leer. Er war so lang, dass man sein Ende kaum erkennen konnte. Seine Decke ruhte auf schmalen runden Säulen, die ganz mit Silber verkleidet waren. Man musste den Kopf weit in den Nacken legen, um ihr Ende zu sehen. In das Silber wiederum hatte man Figuren und Ornamente graviert. Durch bunte Fenster strömte das Licht des anbrechenden Tages und machte aus dem Saal eine schillernde Zauberwelt.

      Schweigend und andächtig durchschritten sie den riesigen Raum. Der Boden war mit schwarzen und weißen Marmorplatten gepflastert, auf denen eine dicke Staubschicht lag, in der die Füße deutliche Spuren hinterließen. Wo waren die rechtmäßigen Besitzer des Palastes? Würden sie plötzlich auftauchen und die Eindringlinge nach dem Grund ihrer Anwesenheit fragen?

      Mit der Zeit schwand bei Akandra die Scheu vor der seltsamen Umgebung. Immer wieder stieß sie Rufe der Bewunderung aus. Dann, als sie den Saal zur Hälfte durchmessen hatten, hielt sie es nicht länger. Sie lief zum anderen Ende, denn dort hatte sie einen Thron erspäht. Marc hatte Mühe ihr zu folgen, und dabei auf dem glatten Steinboden nicht auszurutschen. Plötzlich blieben beide wie angewurzelt stehen. Vor ihnen auf den marmornen Fließen lag ein Pelz. Es war ein Hermelinmantel. Die Zeit hatte ihn zwar schon etwas mitgenommen, aber er sah noch immer sehr beeindruckend aus. So ein kostbares Kleidungsstück gab es im ganzen Heimland nicht. Scheu machten sie einen Bogen um diese Zierde von Königen.

      Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war die Sonne völlig aufgegangen. Der Thron stand erhöht auf einem Podest, das mit einem blauen Seidenteppich belegt war. Er war ganz aus Gold, und das Licht der Sonne spiegelte sich in ihm und blendete sie. Das Gold des Thrones war zudem mit Smaragden, Rubinen und anderen Edelsteinen verziert. In der Rückenlehne war aus Diamanten eine Schlange eingelassen. Sie war so kunstvoll gefertigt, dass die beiden das Gefühl hatten, sie könnte sich jederzeit vor ihnen auf dem Boden ringeln.

      Schlafwandlerisch ging das Mädchen auf diesen Thron zu, und hatte dort Platz genommen, bevor Marc sie zurückhalten konnte. Er rief ihr noch eine Warnung zu, aber sie hörte ihn nicht mehr. Als sie sich nämlich auf all das Gold und die Herrlichkeit gesetzt hatte, geschah etwas Seltsames. Die Wände des Saales verschwanden, und sie konnte die ganze Ebene überblicken. Bis zum Wald konnte sie sehen, aus dem gerade Jäger mit Hunden traten. Die Tiere schnüffelten nach der Fährte, und die finsteren Gestalten legten ihre Hände über die Augen und hielten in der weiten Ebene nach ihnen Ausschau. Dann wandten sie sich um und kehrten in den Schatten der Bäume zurück.

      Akandra