Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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scheint, dass dieser Palast zu unserer Mission gehört. Komm' jetzt!"

      Unterwegs hatten sie irgendwo eine Öllampe gefunden. Die zündete das Mädchen an und machte sich in ihrem trüben Schein auf die Suche nach Schlafzimmern. Marc war es bei Dunkelheit unheimlich in diesem leeren Palast, aber er folgte ihr tapfer. Schließlich gelangten sie zu zwei hohen Türen, die nebeneinanderlagen.

      „Dies sind gewiss Schlafzimmer“, sagte Akandra bestimmt. „Du wirst hier schlafen und ich dort."

      „Wir sollen uns also trennen?" fragte der Junge ängstlich. „Dies ist gefährlich. Lass' uns zusammen schlafen!"

      „Dummes Zeug! Warum sollte ich mit dir ein Zimmer teilen, wenn es nicht nötig ist?"

      Die Türgriffe zu beiden Zimmer waren jeweils ein großer, sehr naturgetreu geformter Phallus. Ihn umfasste sie fest mit ihrer weißen, zarten Hand und drückte ihn nieder. Dann verschwand sie mit einem kurzen Gruß und ließ die Tür ins Schloss fallen. Marc blieb verlassen auf dem Gang zurück. Er überlegte, ob er sich nicht wie ein Hund vor ihre Schwelle kauern sollte. Dann aber fasste er sich ein Herz und betrat sein Schlafzimmer. Es war düster, doch leuchtete der Schein des abnehmenden Mondes durch das Fenster herein, so dass er sich orientieren konnte.

      Auf dem Boden lagen Kleider, die jemand vor vielen Jahren fallen gelassen hatte. Marc konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, ob sie einst einem Mann oder einer Frau gehört hatten. Er tastete sich zum Bett, das mit seinem Baldachin als riesiger Schatten vor ihm aufragte. Mühsam kroch er hinein und versank zwischen weichen Daunen und seidenen Kissen. Aus Furcht hatte er seine Kleider anbehalten und nur das Gepäck abgelegt. Noch nie hatte er in Seide geschlafen. Er hatte von diesem Material nur gehört. Schon das grobe Leinen, mit dem die Mutter die Betten in Gutruh bezog, war ihm weich und wohlig erschienen. Diese Schlafstätte schien ihm dagegen nicht von dieser Welt. Das Bett war noch in dem Zustand und der Unordnung, wie es der Schläfer vor Zeiten verlassen hatte. Wer mochte hier wohl geruht haben? Der Geruch des Körpers war inzwischen längst verflogen; dennoch versuchte Marc, sich seinen Vorgänger vorzustellen. Es gelang ihm nicht.

      Je länger er regungslos in dem Himmelbett lag, desto unheimlicher wurde es dem Erit in diesem großen, dunklen Raum, in diesem fremden, leeren Palast. Ob es hier wohl Geister gab? Lange konnte er nicht einschlafen, sondern achtete auf jedes Geräusch, selbst auf seinen eigenen Atem. Irgendwann glaubte er, eine Tür ins Schloss fallen zu hören. Aber er hatte sich wahrscheinlich getäuscht. Dann wieder klangen auf dem Gang vor der Tür leise Schritte, die sich irgendwann wieder entfernten. Ängstlich kroch Marc immer tiefer unter die Decke, bis ihn endlich lange nach Mitternacht der Schlaf barmherzig von seiner Angst erlöste.

      Als er lange nach Sonnenaufgang erwachte, brauchte er erst einige Zeit, bis er begriff, wo er war. Er sah sich im Zimmer um. Es war noch größer, als er es im Dunkeln vermutet hatte, größer als die meisten Salons und Schlafzimmer, die sie gestern durchstreift hatten. Ein verzierter Durchgang führte in einen angrenzenden Raum. So etwas hatte Marc noch nie gesehen. Alles war schwarz gekachelt. In den Boden war eine weite, runde Höhlung eingelassen. Sie sah aus, wie eine im Boden versenkte Wanne. Stufen führten zu ihr hinunter. In der Wanne stand ein Rest Wasser, das vor vielen Jahren eingefüllt worden war. Es war grün von Algen.

      Der Erit musste Wasser lassen und machte sich auf die Suche nach der dafür vorgesehenen Einrichtung. Er fand einen gepolsterten Stuhl mit einem Deckel, unter dem sich eine Schale befand. Als er die Abdeckung hob, sah er vertrocknete Exkremente, so dass er den Stuhl rasch wieder verschloss. Weil er sich nicht länger zurückhalten konnte, schlug er sein Wasser in dem gekachelten Raum in die Wanne ab. Dann ging er nach draußen und klopfte an Akandras Tür.

      Die junge Gräfin war lange vor ihrem Gefährten aufgestanden. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen, war munter und ausgeruht. Auch sie hatte inzwischen ihr Zimmer untersucht, und dabei ein Netz von Dienergängen entdeckt, die aus jedem Raum durch eine Tapetentür betreten werden konnten. Überall hingen Kordeln und Bänder von der Decke, mit denen die Bediensteten gerufen wurden.

      „Ein ausgeklügeltes System“, dachte sie und zog zur Probe an den Strippen. Doch nichts geschah.

      Sie überlegte lange, wie sie sich waschen könnte. In ihrem Zimmer gab es zwar einen Waschtisch aus rotem Holz, mit goldenem Becken und goldener Kanne, aber kein Wasser. Deshalb machte sie sich auf die Suche nach der nächsten Küche. Als Marc bei ihr anklopfte, war sie nicht in ihrem Zimmer, sondern wanderte durch die Gänge. Hin und wieder öffnete sie Türen und war dabei von ihren Entdeckungen so fasziniert, dass sie ihre Toilette ganz vergaß. In der Nähe des Schlafzimmers fand sie ein rundes Gemach. Seine Wände strahlten in einem tiefen Blau. Es war ganz leer bis auf ein ebenso rundes Podest in der Mitte. Es mochte drei Handbreit hoch sein. Dort stand ein runder Tisch mit einem blauen Samtkissen. Neugierig trat Akandra näher und sah ein kleines goldenes Messerchen, das ihr ausnehmend gut gefiel. Ohne lange zu überlegen steckte sie es ein und ging zurück auf den Gang.

      An seinem Ende bemerkte sie zwei Türen neben einander. Die eine war ganz weiß und die andere ganz schwarz. Die weiße führte in ein Zimmer, dessen Einrichtung lediglich aus einem Tisch und einem Polsterstuhl bestand. So wie die Tür war das ganze Zimmer weiß gestrichen, sogar die Möbel und der Fußboden. Die Farbe war so grell, dass das Auge von ihr geblendet wurde. Erschreckt ging sie wieder hinaus und öffnete die schwarze Tür. Der Raum, den sie dort vorfand, glich dem eben gesehenen aufs Haar, mit dem einzigen Unterschied, dass dort alles schwarz war. Mutig betrat die junge Frau das düstere Gemach, denn sie hatte an seiner Rückseite einen weiteren Ausgang entdeckt. Er führte zu einer groben Steintreppe, die völlig schmucklos war und zu all dem Prunk und Schmuck des übrigen Palastes nicht zu passen schien. Zögernd und mit größter Vorsicht stieg sie in die Tiefe.

      Zu ihrem Schrecken fand sie sich plötzlich in einem unterirdischen Verlies wieder. Licht fiel durch ein paar Gitterstäbe hoch unter der Decke. Dieses feuchte, düstere Gelass war rund. In die runde Wand waren Zellen eingelassen und mit massiven Gitterstäben verschlossen. In der Mitte des schrecklichen Kellers hatte man Instrumente zum Foltern aufgebaut. Akandra schauderte. Sie hatte die Schattenseite von all dem Glanz entdeckt. Welche Teufel mochten hier früher gehaust haben. Die armen Gefangenen mussten miterleben, wie ihre Leidensgefährten gefoltert wurden. Welche Schreie mochten durch dieses Gewölbe gehallt sein! Doch vollends entsetzt war sie, als sie zur Streckbank trat und dort ein Gerippe eingespannt fand. Man hatte gefoltert und den Delinquenten einfach vergessen. Welche Bestien waren zu so etwas fähig? Nun sah sie auch in den Zellen Gerippe liegen, die verhungert oder verdurstet waren. Dort umklammerten die Knochen der Hände die Gitterstäbe, da lag der Tote auf dem Boden, als sei er friedlich eingeschlafen.

      Wer waren diese Gefangenen, die man hier ihrem grausamen Schicksal überlassen hatte? Welcher Vergehen hatten sie sich wohl schuldig gemacht? Oder gab es gar keine Schuld? Dienten der schwarze und der weiße Raum dem Verhör, oder wurde dort das Urteil gesprochen? Die einsame Besucherin dieser Schreckenskammer bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Was würde geschehen, wenn die Herren des Schlosses zurückkämen und sie hier fanden? Sie stieg hastig die Treppe empor und wäre beinahe auf den feuchten Stufen ausgeglitten. Dann eilte sie durch den schwarzen Raum zurück zu den Schlafzimmern und zurück zu Marc. Sie wollte nur noch heraus aus diesem goldenen Käfig, hinter dessen Fassade sich so viel Schrecken verbarg. Aber wo war der Gefährte, wo war ihr Nachtlager gewesen? Sie hatte sich in dem Labyrinth des Schlosses hoffnungslos verirrt. Sie rief den Namen des Freundes, erhielt aber keine Antwort. Sie machte Zeichen an der Wand, falls sie im Kreis lief. Schließlich setzte sie sich entmutigt und verzweifelt auf die unteren Stufen einer Treppe und barg ihr Gesicht in den Händen. Die stolze und mutige Akandra war den Tränen nahe. Da hörte sie ihren Namen.

      Jemand sagte: „Akandra, was machst du hier?"

      Sie schreckte hoch. Hatte man sie entdeckt? Waren die Folterer zurückgekommen? Was würde nun mit ihr geschehen?

      Aber es war nur Marc, der vor ihr stand und erleichtert aufatmete. Er hatte ihr Schlafzimmer leer gefunden und sich voller Sorgen auf die Suche nach ihr gemacht. Vorsichtshalber hatte er sein und ihr Gepäck mitgenommen. Auch er hatte sich in dem seltsamen Palast verirrt. Nun war er froh, die Freundin gefunden zu haben. Diese sprang auf und umarmte ihn.