Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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      Bréon war hochgewachsen und hatte ein bartloses Gesicht. Er gehörte zu jenen Menschen, die bis ins hohe Alter hinein, zwar nicht jung, aber doch zumindest zeitlos aussehen. Nur an seinen Schultern, die das Leben gebeugt hatte, war sein hohes Alter zu erkennen.

      „Man weiß, wo man gebraucht wird. Erzählt mir lieber, was ihr mit der Zauberin zu schaffen habt. Zwei Erits und die Hohepriesterin von Rutan auf der Flucht vor den Schergen von Ormor, das ist wirklich eine seltsame Reisegruppe."

      Marc und Akandra waren bei dieser Eröffnung wie vom Schlag getroffen. Sie sahen ihre Begleiterin mit völlig neuen Augen. Sicher, sie hatten sich schon Gedanken gemacht, warum die Weiße Frau ihnen half, aber die Ereignisse hatten sich so überstürzt, dass sie sich nicht lange mit der Frage beschäftigten.

      „Euer Schicksal ist auch das meine.“ sagte Qumara feierlich. „Wir sind miteinander verflochten. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich versuchen, euch ungeschoren in mein Land zu bringen. Wenn ich dabei versage, sind wir alle verloren. Bréon, ich vertraue dir. Du musst über unser Zusammentreffen schweigen. Je mehr Leute Bescheid wissen, desto geringer ist unsere Chance, den Feind zu überrumpeln."

      „Schweigen war stets die unabdingbare Voraussetzung für Erfolg. Doch dieser Kampf hier ist noch nicht zu Ende.“

      „Haben wir es denn nicht geschafft?" fragte Marc.

      „Du kannst sicher sein, dass sie wiederkommen“, beschied ihn der Mann. „Ihre Angst vor Ormor ist größer als vor dem Tod. Ich habe diese Strolche schon in vielen Kriegen bekämpft und kenne sie genau.“

      „Viele Kriege?“ fragte Akandra erstaunt. „Der sind doch schon vor langer Zeit gewesen. Wie könnt ihr so alt sein?“

      „Habbas haben ein langes Leben.“ Mit diesen Worten gab Bréon der Zauberin einen Wink und sie zogen sich ein wenig tiefer in den Wald zurück.

      „Das ist ein Mann!“ sagte die Grafentochter bewundernd zu ihrem Gefährten. „In seiner Gegenwart kann uns nichts passieren. Ich werde ihn fragen, ob er uns begleitet.“

      Marc kniff die Lippen zu einem dünnen Spalt zusammen, sagte aber nichts.

      Kurz darauf kamen der Habbas und Qumara zurück. Man sah ihnen an, dass sie sich einig geworden waren. Akandra zögerte nicht lange, sondern bat den Mann sogleich um Beistand bei ihrer Mission. Der antwortete nicht, aber die Weiße Frau sah sie recht seltsam an.

      Endlich antwortete Bréon: „Über dein Vertrauen freue ich mich. Doch werdet ihr eure Aufgabe ohne mich bewältigen müssen.“ Als er das enttäuschte Gesicht der Grafentochter sah, fuhr er fort: „Gern würde ich mit euch gehen, aber hier muss ich noch etwas erledigen. Ich werde dir von meiner Vergangenheit erzählen, dann wirst du verstehen, weshalb ich hierbleiben muss.

      Aufgewachsen bin ich auf einer Burg in Strawen, das früher das Nordreich hieß. Unser Geschlecht, das der Habbas, stellte die Könige der Menschen in Endimor. Endimor wiederum ist der alte Name für Centratur. Die Habbas waren über das Meer gekommen, aber ihre Zahl verringerte sich schon damals rasch. Unsere Väter regierten milde und gerecht. Sie kultivierten das Land und schufen die großen Bauwerke, deren Überreste ihr heute noch seht. Von den Habbas lernten auch die Erits schreiben und die allen gemeinsame Sprache. Wir lebten in Freundschaft mit den Achajern und in Freundschaft mit Ormor, unserem Nachbarn. Und da war noch der Weiße Rat, der über unsere Seelen wachte.

      Meine Eltern waren fröhliche Menschen. Auf unserer Burg wurde viel gelacht und gefeiert. Es gab große Bankette und Tjosten und andere Wettkämpfe. Wir Habbas hielten engen Kontakt untereinander. Ich kann mich erinnern, einmal kam ein Junge aus dem Süden zu uns auf die Burg. Wir spielten zusammen. Er war sehr mutig, ritt wie der Teufel und konnte schon damals mit dem Schwert umgehen. Er hieß Trista und wurde später unser Herrscher. Von ihm wiederum stammt König Meliodas ab, dessen Tod wir so schmerzlich beklagen.

      Ich erinnere mich, dass mich eines Morgens meine Mutter weckte. Sie war bleich und ihre Hände zitterten.

      'Steh' auf', sagte sie, 'der Feind ist da!'

      Ich hielt dies für eine prächtige Abwechslung in meinem langweiligen Alltag und rannte sogleich auf die Burgmauer. Dort standen gewappnet alle unsere Ritter und Knechte. Sie blickten mit ernsten Gesichtern durch die Zinnen. Draußen war ein großes Heer aufgezogen, und als ich kam, ritten gerade Parlamentäre vor unser Tor und forderten die kampflose Übergabe der Burg im Namen Ormors des Großen. Sie saßen auf Pferden und hatten bunte Wimpel an ihren Lanzen. Vater lehnte höhnisch ab; aber ich merkte, wie verzweifelt er war. Die Reiter zogen ab, und wir erwarteten einen Sturm auf unsere Mauern. Doch nichts geschah. Stattdessen wurde ein Ungetüm zum Tor gerollt.

      Unsere Männer riefen erschrocken: 'Gott steh' uns bei, sie kommen mit Mauerbrechern.'

      Unter einem Dach aus Leder hing an Seilen ein großer Baumstamm mit einer eisernen Spitze. Den schwangen die Angreifer hin und her und jedes Mal krachte er gegen das Tor. Die Unseren versuchten, die Maschine mit Feuer und Pech und auch mit Steinen zu vernichten. Es war vergeblich.

      'Da gibt es nichts mehr zu verteidigen’, sagte mein Vater. 'Wir müssen fliehen.'

      In aller Eile packten wir das Notwendigste zusammen und verließen unsere Heimstatt durch einen unterirdischen Gang, der weit unterhalb des Burghügels im Wald endete. Als wir dort ans Licht krochen, hörten wir ein mächtiges Krachen und die Triumphschreie der Eroberer.

      Zuerst lebten wir auf den Burgen befreundeter Familien. Dort war es eng, und wir merkten bald, dass wir unwillkommen waren. Mit der Zeit wurde eine nach der anderen dieser Burgen erobert. Wir mussten fliehen und kämpfen und fliehen. Die Schar der Flüchtlinge wurde immer größer. Bald fanden wir keinen Unterschlupf mehr und hausten in den Wäldern wie die Viehhirten.

      Es war klar, dass die Völker des Nordens nur mit vereinten Kräften eine Chance gegen Ormor hatten. Die Habbas verhandelten deshalb mit den Achajer, um ein Bündnis gegen den Angreifer zu schließen. Aber die Achajer zögerten. Sie hatten unter dem Aggressor bisher nicht zu leiden gehabt und wollten nicht in den Krieg eintreten. Derweil schleiften die feindlichen Truppen eine Festung der Habbas nach der anderen, und mit den Bastionen wurde auch unsere Widerstandskraft weniger. Für uns war es selbstverständlich, dass Ormor, wenn er uns besiegt hatte, die Achajer angreifen würde. Aber dies war dem schönen Volk nicht einsichtig zu machen. Es unterhielt sogar noch Gesandtschaften an Ormors Hof. Derweil nahmen die Truppen des Zauberkönigs immer mehr Gebiete vom Nördlichen Reich in ihren Besitz."

      „Gab es keinen Führer oder König, der den Widerstand hätte organisieren können?" fragte Akandra atemlos.

      „Oh, natürlich hatten wir einen Herrn. Der führte auch die Verhandlungen mit den Achajer. Er hieß Arveleg und hatte mehr Sinn für die Künste, als für das Kriegeführen. Er liebte alle Geschöpfe der Erde. Sein Hof war eine Heimat für Philosophen, Dichter und Künstler. Die schönsten Kunstwerke wurden unter seiner Herrschaft geschaffen. In langen Gesprächen suchte er zusammen mit all den klugen Leuten in seiner Umgebung nach Wegen zum ewigen Frieden. Sein Ziel und das seiner Freunde war es, eine Welt zu schaffen, in der alle Geschöpfe in Eintracht miteinander leben. Man war sich einig, dass dies nur möglich wäre, wenn auch alle daran glaubten. Von Zweiflern hieß es, dass sie diese paradiesischen Zustände nicht wollten.

      Arveleg suchte den Frieden mit Ormor auch dann noch, als dieser schon längst eine Burg nach der anderen angriff und schleifte. Immer wieder sandte er Boten zum Dunklen Schloss mit der Bitte um Unterhandlung. Er ließ ausrichten, es wäre doch unsinnig, das Land zu verwüsten, es gäbe doch sicher einen Weg zur Verständigung. Ormor war klug und schenkte den Unterhändlern sein Ohr. Er verhandelte und eroberte gleichzeitig. Die zögerliche Haltung unseres eigenen Königs war sicher auch ein Grund, weshalb sich die Achajer so lange zurückhielten. Doch eines Tages wurde die Königsburg selbst angegriffen, all die Skulpturen, die kunstreichen Gärten und die Bibliothek zerstört. Da endlich sammelte Arveleg seine Getreuen zum Gegenschlag. Aber er war ein Philosoph und kein Feldherr, und unsere Kräfte waren schon zu sehr geschwächt. Eine Schlacht nach der anderen ging verloren.

      Kurz bevor wir völlig verzweifelten, griffen