Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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hoffe ich, dass ihr nichts mitgenommen habt. ER würde dies nämlich bald entdecken und euch niemals verzeihen. Es ist schon gefährlich genug, dass wir die Verschwindetücher entwenden mussten."

      Akandra erschrak und tiefe Röte überzog ihre Wangen. Sie erinnerte sich, dass sie an diesem Morgen allein im Zauberkabinett gewesen war und dort etwas eingesteckt hatte. Sie fasste in ihre Tasche und zog das goldene Messerchen heraus. Es blitzte, obwohl die untergehende Sonne nur noch schwach schien. Verlegen zeigte sie Qumara ihr Diebesgut.

      Dieses erbleichte: „Wo hast du das her?"

      „Aus dem Zauberkabinett. Ich dachte nicht, dass man es vermissen würde. Im Übrigen war der Palast verlassen, und somit gehörte das Messer doch niemand."

      „Du törichtes Mädchen“, sagte die Frau, „dafür wird uns Ormor rund um den Erdball jagen. Wie wollt ihr mit dieser Last eure Mission erfüllen?"

      „Dann werde ich das Messer einfach wegwerfen. Ich will es gar nicht behalten. Die Männer von Ormor werden es finden, und er wird zufrieden sein."

      „Oh, heilige Einfalt! Sie werden es sicher finden, aber nicht zufrieden sein. Sondern der Zauberkönig wird uns erst recht verfolgen lassen. Du weißt nicht, was du da gestohlen hast! Unter diesen Umständen ist jetzt keine Zeit mehr für Erklärungen. Wir müssen sofort weiter. Inzwischen ist Ormor sicher in Roscio eingetroffen. Nachdem er sich erfrischt hat, wird er sein Zauberkabinett inspizieren und den Diebstahl sofort entdecken. Dann wird er zum Thron eilen und sich umsehen. Von dort wird er uns sehen, denn die Verschwindetücher verbergen uns vor allen Blicken, aber nicht vor den seinen. Sobald er uns sieht, wird er seine Reiter losschicken. Zuvor müssen wir den Kohlewald erreichen, dann haben wir vielleicht eine Chance. Verwahre das Messerchen wohl, Akandra! Und jetzt steht auf und lauft um euer Leben!"

      Sie sammelten ihr Gepäck zusammen und rannten, so rasch sie konnten. Als Marc später über die Schulter blickte, sah er eine große Staubwolke weit im Westen. Die Verfolgung hatte begonnen. Inzwischen war die Sonne am Untergehen und Dunkelheit breitete sich aus. Die Erits litten unter Seitenstechen und glaubten, ihre Lungen würden platzen. Sie freuten sich auf die Dunkelheit, denn dann, so hofften sie, würde die Verfolgung enden. Doch jedes Mal, wenn sie zurücksahen, war die Staubwolke im Licht des Mondes größer geworden.

      „Wie können die Reiter uns finden?" fragte Marc bei einer kurzen Rast. „Wir tragen doch die Verschwindetücher, und nun ist es auch noch dunkel?"

      „Sie sind unerbittlich auf unserer Fährte und sie werden uns nicht verfehlen“, war die Antwort der Führerin. „Sie haben die Hundemeute bei sich. Die folgt unserer Spur."

      In der Ferne vermeinte Marc schon den Kohlewald als dunklen Schatten zu sehen und atmete auf, da blieb die Frau plötzlich stehen. Sie hielt die Erits zurück und dies keinen Augenblick zu früh. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf.

      „Ein ausgetrocknetes Flussbett“, sagte sie. „Ich bin unschlüssig, ob wir es rasch überqueren oder uns dort verbergen sollen."

      Sie hatten nicht viel Zeit zum Überlegen, denn in der Ferne hörten sie schon das Bellen von Hunden. Außer einem großen, schwarzen Graben konnten sie nichts erkennen, deshalb kletterten sie vorsichtig über den Rand und rutschten den sandigen Abhang hinunter ins Ungewisse. Staubig und zerschürft landeten sie in dornigen Büschen.

      „Kommt mit“, raunte Qumara und rannte so schnell sie konnte nach links. Die Erits folgten ihr stolpernd und stöhnend. Dornen schlugen sich in ihr Fleisch, und sie stolperten über Steine. Am östlichen Ufer versuchten sie, nach oben zu klettern, rutschten aber immer wieder ab. In der Dunkelheit fanden sie keinen Halt für Hände und Füße. Zu allem Überfluss verlor Marc auch noch das Gazenetz. Das Gebell der Hunde war nun unüberhörbar und auch das Trommeln vieler Pferdehufe. Da gelang es Qumara, mit verzweifelter Anstrengung die Böschung zu erklimmen. Sie zog die Erits nach, dann rannten alle mit letzter Kraft weiter. Der Lärm der Verfolger war nun ganz nah, sie konnten schon die Rufe der Reiter hören, die ihre Pferde anspornten. Plötzlich gab es ein wildes Geheul, Pferde wieherten in Todesangst, Hunde bellten, kläfften und winselten und dann war Stille. Nur noch eine einzelne Männerstimme schrie unter großen Schmerzen.

      „Nun können wir etwas langsamer gehen“, sagte die weiße Frau. „Wir haben eine Galgenfrist bekommen. Die Meute ist geradewegs in den Abgrund galoppiert."

      „Dann sind wir sie also los“, fragte Akandra.

      „Davon kann keine Rede sein. Sobald sie wieder zu sich gekommen sind, werden sie die Verfolgung fortsetzen. Die haben viel zu viel Angst vor ihrem Herrn, um ohne uns zurück zu kommen. Wenn die Jagd erfolglos ist, wird er sie ohne Erbarmen in seine berüchtigten Verließe werfen lassen. Wenn sie uns aber erwischen, werden wir im Keller von Roscio alle Gemeinheiten erleben, zu denen der Zauberkönig fähig ist."

      Sie liefen die Nacht hindurch, und Marc fragte sich manchmal, woher er die Kraft nahm, und warum er nicht einfach umfiel. Gegen Morgen war der Wald zum Greifen nahe. Sie sahen sich um, da waren die Verfolger wieder. Zwar hatten sie ihre Pferde entweder verloren, aber alle, die noch gehen konnten, hatten sich zu Fuß und mit den Hunden auf den Weg gemacht. Da die Jäger den größten Teil der Strecke auf den Rücken ihrer Pferde zurückgelegt hatten, waren sie ausgeruhter als die Verfolgten und deshalb auch schneller. Einen Hund aus der Meute hetzte weit voraus. Qumara nahm ruhig ihren Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.

      „Lass' mich das machen“, sagte Marc.

      Er ergriff den wundersamen Hammer und erlegte den Hund mit einem Wurf. Die Frau sah ihn überrascht an, sagte aber kein Wort. Für die Männer musste es wie ein Wunder scheinen, als ihr Hund ohne sichtbares Zeichen tot umfiel. Doch sie ließen sich nicht abschrecken, sondern beschleunigten noch ihre Schritte.

      „Jetzt bin ich aber an der Reihe“, sagte Qumara, und der vorderste Mann fiel von ihrem Pfeil getroffen zu Boden.

      Diese unerwartete Gegenwehr verwirrte die Verfolger, sie zögerten, wurden langsamer. Dies gewährte den Flüchtigen den nötigen Vorsprung, um den Wald zu erreichen. Mit großen Sätzen brachten sie sich hinter Bäumen in Deckung. Da stürmte die Meute bereits aufs Neue heran. Die Hunde hetzten voraus, und die Krieger hatten ihre Bogen schussbereit. Doch ihre Beute stand gut gedeckt von Bäumen und schoss mit zwei Bogen, denn auch Akandra hatte inzwischen ihre Waffe ergriffen. Marcs Hammer flog unablässig durch die Luft. Aber die Übermacht war groß. Schon hatte ein Hund mit grauem, struppigem Fell den Durchbruch geschafft und wollte Qumara anspringen, da traf ihn ein Bolzen aus einer Armbrust, und einen zweiten Hund erschlug ein mächtiger Schwerthieb. Ein Mann war aus den Büschen getreten. Er trug einen verwaschenen Anzug, der irgendwann einmal grün gewesen war.

      „Darf ich mitmachen?" fragte er lächelnd.

      Viel Zeit für weitere Einladungen blieb nicht, denn nun brach der Ansturm erst richtig los, und die neuen Waffen wurden dringend gebraucht. Es dauerte lange und es gab ein großes Schießen, Hauen und Stechen, bis sich die Angreifer endlich unter großen Verlusten zurückzogen.

      „Sie werden wiederkommen“, sagte der Mann. „Aber für den Moment haben wir eine Verschnaufpause."

      „Wer seid ihr?" fragte Akandra und nahm ihr Verschwindetuch ab.

      „Ich bin Bréon aus dem Geschlecht der Habbas und deine Tarnkappe hättest du ruhig anbehalten können. Ich sehe dich auch so."

      „Das ist ein Freund Akandra“, sagte Qumara. „Ich habe Bréon schon früher getroffen. Er ist ein Waldläufer aus dem Geschlecht der Habbas und die haben eine uralte Rechnung mit Ormor und seinen Schergen zu begleichen."

      In diesem Augenblick begann ein neuer Angriff. Es blieb keine Zeit für weitere Erklärungen. Pfeile schwirrten durch die Luft. Sterbende Krieger schrien und stöhnten. Hunde winselten und schleppten sich tödlich verwundet durch das Steppengras. Einige der Jäger gelang es, den Pfeilhagel durchbrechen, aber unter ihnen hielt das Schwert von Bréon eine blutige Ernte. Ermattet und dezimiert gaben die Angreifer schließlich auf.

      Die Verteidiger lehnten an Bäumen und bemühten sich ruhig zu atmen und wieder zu Kräften zu kommen.