Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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rannten gemeinsam durch endlose Flure und Zimmer, bis sie endlich die zerbrochene Eingangstür erreichten und ins Tageslicht traten. Dort entfaltete die Frau die mitgebrachten Tücher und warf sie ihren Begleitern über den Kopf. Auch sie selbst hüllte sich ein. Die Tücher waren aus dünner Gaze. Den Erits wurde der Sinn der Maskerade nicht klar.

      „Folgt mir!" sagte die Frau. „Wundert euch über nichts, ganz gleich was geschieht. Habt keine Angst, ihr seid jetzt unsichtbar. Das sind Verschwindetücher. Später will ich euch alles erklären, aber jetzt ist dazu keine Zeit. Redet von jetzt an nicht mehr, auch wenn dies Erits besonders schwerfällt. Wenn ihr eure Zunge nicht in Zaum haltet, werden wir entdeckt und sind verloren."

      Sie nahm die Erits an der Hand und trat ohne zu zögern durch das Tor des Parks hinaus in die weite Ebene. Als sie vor der Einfriedung standen, prallten ihre beiden Begleiter zurück. Sie waren umzingelt. Die schwarzen Punkte, die sie vom Dach aus gesehen hatten, waren nämlich inzwischen angekommen. Was vom Dach noch wie ein Spiel ausgesehen hatte, war eine reale Bedrohung geworden. Vor sich sahen sie Orokòr, schwarzgesichtige, sonnenverbrannte Männer aus dem Süden und schmallippige, brutale Gestalten aus dem Norden. Alle trugen grausame Waffen, und man sah ihnen an, dass sie damit umzugehen wussten. Sie waren dabei, rund um die Palastmauer Zelte aufzubauen und Feuer zu entzünden. Einige von ihnen bereiteten Essen und zerteilten erlegte Beute. Als Akandra sah, was da gebrutzelt werden sollte, würgte es sie. Fahnen waren aufgestellt, um die einzelne Haufen mit ihren Unterführern zu kennzeichnen. Den Pferden hatte man die Vorderbeine zusammengebunden, aber die Sättel nicht abgenommen. Es waren struppige Tiere, ungepflegt und bösartig. Man sah, dass sie nur mit dem Notwendigsten versorgt wurden und darauf angewiesen waren, sich ihr Futter selbst zu suchen. An den Sätteln hingen Fangleinen, manche noch blutbeschmiert. Um welchen Hals hatten sie sich noch vor kurzem zugezogen, welche Gelenke waren mit ihnen so fest gefesselt gewesen, bis das Fleisch aufgesprungen war und geblutet hatte? Hundemeuten waren an langen Leinen angepflockt, kläfften und bissen sich gegenseitig. Die Jäger, die für ihre Betreuung zuständig waren, bauten sich Behausungen in ihrer Nähe. An einer Stelle aber wichen die Zelte ehrfurchtsvoll zurück. Dort auf einem freien Platz stand ein bequemer, offener Reisewagen. In ihm saß eine kleine, glatzköpfige Gestalt. Es war klar, dass der Gnom auf Ormor wartete, um mit ihm zusammen das Schloss zu beziehen.

      Lange konnten die drei Unsichtbaren das Lager nicht beobachten, denn Livrierte eilten auf das Tor zu und hätten sie umgerannt, wenn sie nicht ausgewichen wären. Es waren Heerscharen von Dienern, die den Palast auf den bevorstehenden hohen Besuch vorbereiten mussten. Der Hausherr kam nach vielen Jahren zurück und wollte sein Domizil so vorfinden, wie er es verlassen hatte. Da gab es viel zu tun!

      Die weiße Frau nahm ihre Begleiter an der Hand und führte sie mitten durch das geschäftige Treiben des Lagers. Diese konnten noch immer nicht begreifen, dass man sie nicht sah, und folgten ängstlich. Beinahe hätte Marc aufgeschrien, als ihm ein riesiger Orokòr aus seinen roten Augen direkt ins Gesicht sah. Gleich würde er auf ihn zukommen und ihm das schwarze, gebogene Messer ins Herz stoßen. Aber nichts geschah. Akandra hingegen stolperte über Zeltschnüre und wäre gefallen, wenn ihre Führerin sie nicht aufgefangen hätte. Sie rochen den Gestank, der von den Kochkesseln aufstieg, und mussten ihren Würgereiz bekämpfen. Die Zelte waren schwarz und geflickt, und das Lager erfüllt vom heißeren Schreien der Männer. Die Frau umging den Wagen mit dem Glatzkopf weiträumig, deshalb mussten sie an den Hunden vorbei. Diese witterten die Eindringlinge und ihr Kläffen ging in ein wütendes Bellen und Knurren über. Die Südländer wurden aufmerksam. Fragen und Befehle wurden gebrüllt. Schon dachten die Erits, man hätte sie entdeckt, da rief ein Jäger: „Schon gut! Es ist niemand hier! Das sind nur die stinkenden Orokòr, über die sich die Hunde aufregen."

      Ein kleiner, gedrungener Orokòr war gerade dabei, das Feuer unter seinem Kochkessel durch Blasen anzufachen. Er hatte sich gebückt und seinen schmutzigen Hintern in die Höhe gereckt. Akandra konnte nicht an sich halten und trat ihn mit aller Kraft, so dass er kopfüber in das Feuer fiel und sich die heiße Brühe über ihn ergoss. Er schrie auf wie ein Schwein beim Metzger. Die weiße Frau packte Akandra am Arm und zog sie mit einem wütenden Blick fort. Tumult breitete sich aus, der sich in wildem Gelächter auflöste. Endlich hatten sie das Lager durchquert. Vor ihnen lag die leere Steppe. Aber es gab kein Verschnaufen, denn nun begann die Führerin zu rennen, und die Erits mussten auf ihren kurzen Beinen folgen, ob sie wollten oder nicht.

      „Achtet darauf, dass ihr nicht zu viel Staub aufwirbelt“, zischte die Frau. „Wir wollen keine Spur in der Luft hinterlassen."

      Sie liefen und liefen, und schließlich stolperten die Erits nur noch hinterher.

      „Eine Rast“, stöhnte Akandra. „Ich brauche eine Rast, sonst falle ich um."

      Die Frau blieb stehen und blickte zurück. Die Zelte waren nur noch klein in der Ferne zu erkennen.

      „Wir können eine kurze Pause einlegen“, sagte sie, und alle ließen sich auf die harte ausgetrocknete Erde fallen.

      Als sie etwas verschnauft hatten, begann Marc: „Nun wird es aber Zeit, dass Ihr uns aufklärt. Ihr habt uns sicher viel mitzuteilen."

      „Es ist überhaupt keine Zeit für Palaver. Noch befinden wir uns im Blickfeld von Ormor, und er kann uns jederzeit von seinen Reitern einfangen lassen. Wenn ihr schon wieder Kraft habt, um Fragen zu stellen, dann können wir auch weiterlaufen."

      Die Frau rannte los, und die beiden Erits mussten ihr mit müden Füßen folgen. Akandra blickte Marc böse an. Wenn sie gekonnte hätte, so hätte sie ihm einen ähnlichen Tritt verpasst, wie dem Orokòr.

      „Wie weit wollt Ihr denn noch laufen?" keuchte Akandra endlich.

      „Soweit es geht! Redet nicht, das kostet nur Kraft! Achtet lieber darauf, dass ihr die Tücher nicht verliert."

      Gerade diese Tücher waren lästig. Die Gaze machte das Atmen schwer, und Hitze staute sich unter dem Stoff. Marc konnte nicht einsehen, weshalb sie in dieser Einöde noch unsichtbar sein mussten. Entgegen der Anweisung wollte er das Tuch abnehmen und einstecken, aber ein scharfer Befehl hielt ihn zurück.

      „Hier sieht uns doch niemand“, wandte er ein. „Was soll diese unnütze Quälerei?"

      „Und an die Vögel denkst du nicht?"

      Endlich konnte auch ein eiserner Wille die Erits nicht mehr vorantreiben. Sie folgten nur noch stolpernd und taumelnd, und ihre strenge Führerin gestattete ihnen, sich in den Staub fallen zu lassen. Es war inzwischen später Nachmittag, die Sonne stand im Westen. Nachdem sie etwas zu Atem gekommen waren, fielen Marc und Akandra in einen Schlaf der Erschöpfung. Die Frau ließ sie gewähren und hielt Wache.

      Als sie erwachten, aßen sie von ihren Vorräten, und dann konnte sich Marc nicht länger zurückhalten. Er überfiel ihre Retterin mit vielen Fragen. Er wollte wissen, wer sie sei, was es mit dem Palast auf sich habe, woher sie ihre Namen wisse, woher sie komme und all die anderen Fragen, die ihm auf dem langen Marsch durch Kopf gegangen waren.

      „Wer ich bin, kann ich euch jetzt noch nicht erklären. Aber ihr könnt mich Qumara nennen. Gerettet habe ich euch mit Verschwindetüchern. Unter Eingeweihten und Weisen ist schon lange die Rede davon, dass sie in Seinem Besitz sind. Man sagt, Ormor habe sie vor vielen tausend Jahren den Achajern gestohlen. Ich wusste natürlich nicht, ob an dem Gerücht etwas Wahres ist. Mir blieb jedoch keine Wahl, deshalb habe ich sie gesucht und in seinem Zauberkabinett auch gefunden. Ohne die Tücher wären wir alle verloren gewesen. Ja, ihr habt euch im Palast des Zauberkönigs wie zu Hause gefühlt. Sein Hauptsitz ist zwar eine Burg im Norden, aber hier im Süden erholte er sich in den Sommermonaten. Als er vom Bündnis besiegt und in den Berg gebannt worden war, haben alle seine Getreuen das Schloss in Panik verlassen und sich in alle Winde zerstreut. Niemand hat es in all den Jahren gewagt, diesen Palast zu betreten. Er geriet in Vergessenheit. Doch nun ist Ormor befreit und bezieht sein altes Domizil. Von hier aus will er die Eroberung von Centratur leiten und die unterworfenen Länder regieren. Hier wird auch das Schicksal eures Heimlands entschieden werden. Man sollte es kaum glauben, dass ausgerechnet zwei junge Erits in diesen gefürchteten Bau eindringen, und einer von ihnen sogar im Bett des gewaltigen Zauberkönigs,